Efeu - Die Kulturrundschau

Zum Zvieri ein Vierteli Roten

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13.08.2019. Überwältigt erlebt die taz in der Pariser Ausstellung "Nous les arbres" die ganze konstruktive Schönheit der Bäume.  Die SZ  lauscht in Salzburg hingerissen dem tragisch-lyrischen Bariton eines Riesenharlekins. In der FAZ beziffert Alain Viala den symbolischen Wertverlust der französischen Literatur. SpOn sorgt sich nach der Berufung von Dominique Boutonnat zum Leiter der Filmförderungsstelle CNC um die  exception culturelle. Doch in der NZZ bringt Thomas Hürlimann mit Pythagoras wieder Ordnung in die Welt.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.08.2019 finden Sie hier

Kunst

Luiz Zerbinis Ficus microcarpa in der Ausstellung "Nous les arbres" in der Fondation Cartier, Paris, 2019. Foto: Luc Boegly.

Als eine der ganz großen Ausstellungen feiert taz-Kritikerin Brigitte Werneburg die Schau "Nous les arbres" in der Fondation Cartier in Paris: "Gelehrt und gedankenreich, dabei gerne ein bisschen exzentrisch und auf intelligente Weise populär", jubelt Werneburg über das Konzept, das den Baum ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt und den Menschen ins Abseits: "Die Fotografie könne deshalb nicht in der Botanik eingesetzt werden, meint der Spezialist für Urwälder Francis Hallé in einem ungemein erhellenden, zugleich amüsant geführten Gespräch mit Coccia. Sie hebe die Pflanze nicht genügend von ihrer Umwelt ab. Den Baum zu zeigen und seine Umwelt dazu, das gelingt Joseca oder Kalepi, den vom Kurator Bruce Albert eingeladenen Yanomami-Künstlern aus dem brasilianischen Regenwald, meisterhaft. Sie stellen einerseits die konstruktive Schönheit der Bäume sehr genau heraus, vergessen aber weder die Affen und Papageien, die in ihnen zugange sind, noch die Eichhörnchen, Tapire und Schweine, die bei den Früchten und Samen unter ihnen fündig werden. Der Baum ist eben eine ganze Welt."

Weiteres: In FAZ empfiehlt Stefan Trinks eine Zürcher Schau im Museum Rietberg, die den Menschen im Widerschein der Spiegel zeigt und Trinks zufolge mit einer überraschenden Erkenntnis aufwartet: "Das Sehen in den Spiegel ist mithin nie das Momentum eines Status quo, vielmehr immer ein Blick in die Vergangenheit oder die Zukunft." Für den Guardian spricht Benoit Loiseau mit der Musikerin Peaches über ihre Ausstellung "Whose Jizz Is This?" im Hamburger Kunstverein (unser Resümee).

Besprochen werden die Ausstellung "Book of Beast" im Getty Center in Los Angeles (deren mittelalterliche Tierdarstellungen Welt-Kritiker Matthias Heine einfach hinreißen), die Schau "Wolfgang Schulz und die Fotoszene um 1980" im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe (taz) und die Ausstellung "Foto.Buch.Kunst" in der Albertina in Wien (Tsp).
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Literatur

Anders als in Deutschland genießt die Literatur in Frankreich noch immer einen sehr hohen Stellenwert, der sich auch in einer hohen Zahl erworbener und gelesener Bücher bemessen lässt. Dennoch wird auch in Frankreich die Krise, wenn nicht das Ende der Literatur ausgerufen, schreibt der französische Literaturwissenschaftler Alain Viala in der FAZ: "Dieser Krisendiskurs ist Ausdruck von Verlusterfahrung und Empörung", erklärt Viala - und attestiert dem ganzen ein gutes Stück Klassendünkel: "Die Verlage publizieren eine Unzahl von Titeln. Fünfhundert neue französische Romane werden bei jedem literarischen Saisonstart auf den Markt geworfen. Dieses Streben nach schnellem Profit zieht einen beschleunigten Austausch der Buchsortimente nach sich: Je mehr Literatur es gibt, desto ungewisser ist ihr symbolischer Wert." Auch die hohe Zahl an Abiturabschlüssen tue ihr übriges: "Je 'normaler' das Abitur wurde, desto weniger attraktiv wurde die Literatur. Sie büßte an Bedeutung ein, weil sie nicht mehr das Mittel zur Distinktion ist. Das ist die Botschaft hinter der Krisendiagnose."

In der NZZ liefert der Schriftsteller Thomas Hürlimann eine kleine Zahlenmystik, die unsere ganze Kulturgeschichte abdeckt: "1. Pythagoras sah in der Zahl 4 'die Wurzel der heiligen Natur'. Er schloss dies aus der Tatsache, dass Zeit und Raum in vier Teile aufgeteilt sind. Das Jahr hat vier Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Der Himmel hat vier Richtungen: Süd, Nord, Ost, West. Damals kannte man vier Elemente: Erde, Feuer, Wasser, Luft. Man ordnete dem Menschen vier Temperamente zu: das sanguinische, das phlegmatische, das cholerische, das melancholische. In Indien gab es vier Kasten, im Buddhismus vier Wege, und noch immer orientieren wir uns am Quartal, wohnen wir in einem Viertel, trinken wir zum Zvieri ein Vierteli Roten..."

Weiteres: Vielleicht wäre die Zeit für Michael Rutschkys Art des Schreibens überhaupt erst jetzt, nach dem Tod des Essayisten, gekommen, mutmaßt Gerrit Bartels im Tagesspiegel, nachdem sich zuletzt die feuilletonistischen Nachlesen häuften. Für die Welt reist Jan Grossarth zu den Wurzeln seiner Vorfahren in der Vojvodina. Für die FR plaudert Andreas Sieler mit Jens Wawrczeck, der Hörbücher zu den Romanvorlagen für Alfred Hitchcocks Filme produziert.

Besprochen werden unter anderem Berit Glanz' Debütroman "Pixeltänzer" (Tagesspiegel), Walburga Hülks "Der Rausch der Jahre" über das Paris von Napoleon III. (Tagesspiegel), Ljudmila Petruschewskajas "Das Mädchen vom Hotel Metropol" (SZ) Joseph Incardonas Thriller "Asphaltdschungel" (Tagesspiegel) und Helene Bukowskis "Milchzähne" (FAZ).
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Bühne

John Tomlinson als Tiresias und Christopher Maltman als Oedipus in George Enescus "Oedipe". Foto: Monika Rittershaus / Salzburger Festspiele

Absolut begeistert ist SZ-Kritiker Wolfgang Schreiber von George Enescus Oper "Oedipe" von 1936, die Achim Freyer bei den Salzburger Festspielen bildgewaltig auf die Bühne brachte. Und die Musik mit Ingo Metzmacher und den Wiener Philharmonikern ist einfach grandios, meint Schreiber: "George Enescus 'Oedipe', dieser Solitär, ist ein Unikum des Zusammenklangs von Trauerspiel, Sinnbild, Lehrstück und tiefem Geheimnis. Der Komponist hat seine Oper in vier Akten in die Tradition der französischen Tragédie lyrique versetzt, der deklamatorisch gesungene oder in Sprechgesang fallende Text braucht keine Arien, er dringt in der Unmittelbarkeit seiner Wortmacht direkt, ohne Kunstverzierungen, zum Hörer. Überragend und bewundernswert, wie Bariton Christopher Maltman die Riesenrolle des Ödipus mit stimmlich und geistig nicht ermüdender Wucht, doch immer wieder lyrischer Inbrunst aufladen kann." Angesichts all der Riesenheuschrecken und Harlekingiganten auf der Bühne hätte sich Standard-Kritiker Ljubisa Tosic auch einen "diskreteren Umgang mit den Ereignissen" vorstellen können.

Am Wochenende wurde das Festival Tanz im August mit zwei Uraufführungen der achtzigjährigen amerikanischen Avantgardistin Deborah Hay eröffnet. "Mit sehr viel gutem Willen", notiert Astrid Kaminski in der taz, "ließen sie sich als ausgesprochen leise, forschend und introvertiert und damit als Gegenentwurf zu allem Lauten und Unüberlegten sehen". In der SZ nennt Dorion Weickmann sie dagegen rundheraus fade, pätentiös und manieriert: "Das Scheitern ist trotzdem aufschlussreich, weil es eine Sackgasse des zeitgenössischen Tanzes illuminiert: Bewegungsforschung hat auf der Bühne nichts mehr zu suchen. Profis dabei zuzuschauen, wie sie sämtliches Können auf Null stellen, um ihr methodisches System zu resetten, mag als pädagogische Studiolektion taugen. Live entfaltet diese Wartungsarbeit nur einschläfernde Wirkung." Ungnädiger noch urteilt Wiebke Hüster in der FAZ.
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Film

Von großen Aufregungen in Frankreich berichtet Frédéric Jaeger in seiner Vierteljahrskolumne auf SpOn zum Kinogeschehen: Seit Juli steht dort mit der Berufung von Dominique Boutonnat zum Leiter der Filmförderungsstelle CNC laut Kritikern das Ende der exception culturelle zu fürchten und damit das französische Kino als nationaler Schatz auf dem Spiel - wogegen sich breit aufgestellter Widerstand sehr unterschiedlicher Filmschaffender regt. Denn: Boutonnats bisheriges Portfolio als privater Filmfinanzier beschränkt sich vor allem auf lancierte Kassenerfolge - und zu Macrons Spendern zählt er auch. Sein Ziel: "künftig einen politischen Schwerpunkt auf die größere Rentabilität des Kinos zu setzen, um private Investoren anzulocken. Das genaue Gegenteil also der 'kulturellen Ausnahme'."

Weitere Artikel: Isabel Pfaff hat für die SZ den Schweizer Filmemacher Fredi M. Murer besucht, der vom Filmfestival Locarno für sein Lebenswerk geehrt wird. In der NZZ porträtiert Urs Bühler Lucius Barre, den Protocol Officer des Filmfestivals Locarno.

Besprochen werden die Amazon-Doku-Serie "Free Meek", mit der der Rapper Meek Mill in eigener juristischer Sache auftritt (Presse), Quentin Tarantinos "Once Upon a Time in Hollywood" (SZ, mehr dazu bereits hier), Sabus von Arte online gestellter Thriller "Mr. Long" (FR), Stefan Ruzowitzkys vom ZDF online gestellter Actionthriller "Die Hölle" (FAZ) und Cindy Chupacks von Netflix online gestellter Fernsehfilm "Otherhood" (Welt).
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Musik

Bon Ivers 2016er-Album konzipierte der Musiker Justin Vernon als Kettensägenskulptur zur Dekonstruktion des eigenen Werks, schreibt Daniel Gerhardt auf ZeitOnline. Das Nachfolgealbum "i,i" wirke vor diesem Hintergrund nun so, "als tropften seine Songs durch eine leicht verstopfte Sprinkleranlage auf die verbliebenen Leidensgenossinnen und Hartgesottenen herab", wobei es sich keineswegs um "die Rückkehr des bärtig-gitarrigen Herzschmerzaushalters" handelt, als der Vernon einst reüssierte: "Trennlinien zwischen organisch und synthetisch entstandener Musik existieren nicht mehr, die Unterscheidung zwischen aufrichtig empfundener und vorgeflunkerter Gefühlsäußerung wirkt plötzlich ungeheuer altmodisch. ... Der Mann hinter den Songs ist wiederzuerkennen, doch was man sieht, muss deshalb noch lange keinen großen Geheimsinn ergeben. Vernon gefällt sich in der Rolle des bekifften WG-Küchenphilosophen, der mit lautmalerischen Mehrdeutigkeiten und frech vorausgesetztem Insiderwissen kokettiert." Wir hören rein:



Weiteres: Gregor Dotzauer liest für den Tagesspiegel die neue Ausgabe des Magazins Jazzpodium, das sich kürzlich einen Relaunch verpasst hat. Für den Tagesspiegel hat Jakob Wittmann die Proben von Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra besucht.

Besprochen werden Gilberto Gils Konzert in Hamburg (taz), ein Abend mit Vikingur Ólafsson beim Rheingau Musik Festival (FR), der Wiener Auftritt von Yeasayer (Presse) und neue Wiederveröffentlichungen, darunter "Out of the Blue" von "Blue" Gene Tyranny (SZ, mehr dazu bereits hier).
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