Efeu - Die Kulturrundschau

Im Scherbenregen

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09.09.2019. Auf ein geteiltes Echo stößt das neue Bauhaus-Museum bei den Kritikern: Die FAZ moniert die steife Vorhangfassade, die SZ freut sich über die grandiose Einladung an die Stadt. Konsterniert reagieren die Kritiker auf den Goldenen Löwen für Todd Phillips' düstere Comichelden-Verfilmung "Joker" in Venedig. In der NZZ attackiert Thomas Schütte die Museen zu riesigen Krematorien, die mit seiner Kunst befeuert würden. Und die Nachtkritik jubelt über Karin Beiers Inszeneirung von Schostakowitschs "Nase" in Hamburg. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.09.2019 finden Sie hier

Architektur

Eröffnung des Bauhaus Museum in Dessau. Foto: M_H.DE/Wikipedia CC BY-SA 4.0

Wohltuend findet SZ-Kritikerin Laura Weißmüller, dass das neue Bauhaus-Museum von Dessau mitten in der Stadt steht, zwischen Plattenbauten und Einkaufzentren. Ein schöner Kontrapunkt zu all der Ikonisierung und "das ewige Kränzchenbinden" in diesem Jahr, meint Weißmüller: "'Wir haben uns gefragt, welche Bedeutung das Bauhaus heute und für die Zukunft haben kann', sagt Roberto González, einer von fünf Architekten des jungen Büros Addenda Architects aus Barcelona, die das Museum entworfen haben, nachdem sie sich mit ihrem Entwurf beim Wettbewerb 2015 gegen 830 Einreichungen durchsetzen konnten. 'Für uns ist es die Auseinandersetzung mit der Stadt und ihren Besuchern.' Und deswegen hat Addenda die 1500 Quadratmeter große Ausstellungsfläche in eine gewaltige Blackbox gesteckt und diese fünf Meter in die Höhe gewuchtet. Durch diesen Kraftakt - der Riegel wird nur von den beiden Treppenhäusern an den Seitenenden getragen - bleibt das Erdgeschoss nahezu frei. Eine grandiose Einladung an die Stadt und ihre Bewohner, diesen Ort als Bühne für sich zu begreifen."

FAZ-Kritiker Niklas Maak ist zwar vom Schweben des Riegels begeistert, aber nicht unbedingt von der Spiegelglas-Fassade: "Wenn jemand behaupten würde, dass hier ein Schweizer Düngemittel-Weltmarktführer seine Deutschland-Zentrale errichtet habe, würde man es sofort glauben. Dass sich hinter der steifen Vorhangfassade ein Museum für Offenheit, Experiment und Verzauberung befindet, eher nicht." In der taz blickt Bettina Maria Brosowsky aus recht gehobener Perspektive auf den Museumsbau: "Drückt man auch hier angesichts der erbärmlichen Qualität des Betonbaus gnädig die Augen zu, eröffnet sich in seinem dunklen Inneren eine inhaltlich wie inszenatorisch hochintelligente Ausstellung. Sie greift auf die 1976, zum 50-jährigen Bauhaus-Jubiläum, initiierte Sammlung der DDR zurück, die Netzwerke ehemaliger Bauhäusler seit den späten 1940er Jahren vorbereiteten."
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Film


Goldener Löwe für Todd Phillips' "Joker" - mit einer Überraschung sind die Filmfestspiele in Venedig zu Ende gegangen. Zwar stand die düstere Superschurkengeschichte aus dem Batman-Universum auf dem Favoritenzettel so ziemlich jedes Kritikers sehr weit oben. Doch dass eine Festivaljury unter Lucrecia Martel die höchste Auszeichnung ausgerechnet einer Comicverfilmung aus Hollywood überreichen würde, stand vorab nicht zu erwarten. Ob diese Auszeichnung wohl auch damit zu tun hat, dass man Roman Polanskis (mit dem Silbernen Löwen prämierten) "J'accuse" in Zeiten von #MeToo nicht mit dem Goldenen Löwen auszeichnen wollte? So mutmaßt jedenfalls Dominik Kamalzadeh im Standard.

SZ-Kritiker Tobias Kniebe ist diesem "Joker" immerhin sehr dankbar dafür, dass er alte Gewissheiten des Superheldenkinos aufbricht - schließlich gilt hier das Böse an sich üblicherweise als Naturzustand. Doch in diesem Film "entsteht es aus Jahren von Armut, Qual, Ausbeutung und Missachtung. Phillips folgt diesem Weg mit seiner Hauptfigur Arthur Fleck, dessen psychische Erkrankung als Gefahr ernst genommen wird und dessen Traum, Komiker zu werden, in jeder Sekunde aussichtslos ist. ... Die Anerkennung absoluter Hoffnungslosigkeit, mitten im Herzen der Illusionsmaschine Hollywoods - vielleicht ist es das, was hier so hoch prämiert wurde." Sehr philosophisch wird auch Dietmar Dath in der FAZ: "Superheldenfantasien sind Allmachtsfantasien, also Größenwahn. Superschurkenfantasien sind Ohnmachtsfantasien, also Verfolgungswahn. Beide Wahnspielarten dominieren nicht nur die Kinokassen in unserem finsteren Geschichtsabschnitt, in dem die Leute als Kinopublikum wie als politische Wählerschaft im Scherbenregen zersplitternder Ordnungen stehen. ... Die Leute stimmen für den Brexit, wählen Trump und bestaunen den Joker. Die alten Regeln sind tot. Ihr Sterben muss festgehalten werden, genau betrachtet und hoffentlich begriffen."

Insgesamt, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel, fällt die Festivalbilanz "durchwachsen" aus: Venedig bleibe sich als "Startrampe für die Oscars" treu und "auch unter der resoluten Jury-Präsidentin Martel dominiert das klassische Erzählkino." Außerdem hätte die Jury statt Polanski lieber Ciro Guerras Kolonialdrama "Waiting for the Barbarians" mit dem zweiten Preis auszeichnen sollen. Daniel Kothenschulte von der Berliner Zeitung ist schlicht fasziniert von Joaquin Phoenix' Joker-Interpretation - vermisst aber "in diesem merkwürdigen, aber immer wieder überraschenden Kartenspiel namens Filmfestival Venedig" schlussendlich doch die politische Kante. Für den Standard porträtiert Ronald Pohl "Joker"-Darsteller Joaquin Phoenix, der für seine Leistung zwar nicht ausgezeichnet wurde, dem Film zu seiner Auszeichnung wohl aber entscheidend mitverholfen hat. Überraschend findet tazler Tim Caspar Boehme auch, dass insbesondere die etablierten Stimmen des Weltkinos in diesem Wettbewerb schwächelten - aber immerhin "gingen die wenigen starken Beiträge des Wettbewerbs dafür fast alle verdient siegreich aus dem Rennen" - und da schließt Boehme Polanskis Film eindeutig mit ein.

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel stellt Dunja Bialas die für den heute vergebenen First Steps Award nominierten Filme vor. Besprochen werden Nadav Lapids "Synonymes" (Freitag, unsere Kritik hier) und die Netflix-Serie "The Spy" mit Sacha Baron Cohen in der Rolle des Mossad-Spions Eli Cohen (Welt).
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Bühne

Vorgetäuschter Scherzkeksmodus: Karin Beiers "Nase" an der Hamburger Staatsoper. Foto: Arno Declair

"Eine falsche Bewegung, und es wird richtig wehtun", lernt Nachtkritiker Falk Schreiber in Karin Beiers Inszenierung von Schostakowitschs Polizeistaat-Groteske "Die Nase" an der Hamburger Oper. Schreiber ist hellauf begeistert, vor allem weil Beier und Dirigent Kent Nagano konsequent den Scherzkeksmodus unterlaufen, den sie wochenlang vortäuschten: "Wenn die Exekutive durchdreht, dann gibt es kein Halten mehr, und tatsächlich: Auch bei Schostakowitsch folgen kurz darauf Prügel, Vergewaltigung, Folter. 'Nase' heißt auf russisch 'Nos', was rückwärts gelesen 'Son' ergibt, 'Traum'. Karin Beier hat an der Staatsoper also einen Alptraum inszeniert, dessen böse Moral man fast nicht mitbekommt, so perfekt bedient sie die Opernkonvention mit geschickt gebauten Bildern, mit Effekten, mit Drehbühne und feiner Sänger-Schaupielerführung, immer wieder auch mit derbem Humor, der Nase und Geschlechtsteil in eins setzt. Und doch hat diese 'Nase' eine zweite Ebene, die tiefer geht, wo es schmerzhafter, politischer wird. Beier jedenfalls meistert ihre Aufgabe als Querschlägerin im Opernbetrieb mit Bravour."

Weiteres: Nach Katie Mitchells Inszenierung von Virginia Woolfs "Orlando" an der Berliner Schaubühne fragt Katrin Bettina Müller in der taz: "Warum ist es nicht komisch, wenn eine Frau als Mann auftritt, aber sobald ein Mann als Frau kommt, wird eine lustige Transennummer daraus? Für den Standard blickt Lili Hering auf das Jugentheater der kommenden Saison.

Besprochen werden außerdem Falk Richters Inszenierung von Michel Hoeullebecqs Stück "Serotonin" am Hamburger Schauspielhaus, (dessen sexistischen Zynismus SZ-Kritiker Till Briegleb gar nicht mehr auf der Bühne sehen will, Nachtkritik), Ersan Mondtags Inszenierung von Brechts Künstlerdrama "Baal" im Berliner Ensemble (die Tsp-Kritikerin Christine Wahl etwas ratlos zurücklässt, Nachtkritik), Felicitas Bruckers Inszenierung von Gerhart Hauptmanns "Ratten" am Schauspiel Frankfurt (FAZ), Krzysztof Minkowskis deutsche Erstaufführung von Stijn Devillés "Hoffnung" am Staatstheater Saarland (Nachtkritik) und der Saisonstart des Staatsballetts Berlin mit Jefta van Dinthers "Plateau Effect" (Tsp).
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Kunst

Thomas Schütte: Drittes Tier, 2017. Foto: Markus Tretter / Kunsthaus Bregenz 
Im NZZ-Interview mit Angelika Drnek zeigt sich Bildhauer Thomas Schütte, dessen Arbeiten gerade im Kunsthaus Bregenz gezeigt werden, mild-nachsichtig gegenüber dem heißgelaufenen Kunstmarkt, aber den Museumsbetrieb attackiert er ungebremst: "Früher gab es acht bis zwölf Ausstellungen im Jahr, heute sind es drei bis vier. Für jeden Handschlag gibt es eine Person im Museum. Ich bin immer überrascht, aus wie vielen Kellern oder Kojen da Leute rauskommen. Ich habe schon in den achtziger Jahren geahnt, dass Museen Versorgungsanstalten sind und 96 Prozent der Künstler eben nicht von ihrer Arbeit leben können. Da kam dieser Gedanke vom Museum als riesigem Krematorium, in das die Künstler ihre Arbeiten reinschleppen. Und dann wird das nach Kilo oder Wertstoff abgenommen und verbrannt. Damit wird dann der Behördenturm beheizt, dort ist es schön warm. Die Künstler werden nach Rohstoff belohnt, weil sie sowieso nicht davon leben können."
Archiv: Kunst

Literatur

Für den Standard blättert Gerhard Zellinger durch Hans Magnus Enzensbergers Buchveröffentlichungen, die der 90 Jahre alt werdende Autor alleine in diesem Jahr herausgebracht hat. Angela Schader (NZZ)  und Alex Rühle (SZ) schreiben Nachrufe auf den indischen Schriftsteller Kiran Nagarkar.

Besprochen werden unter anderem Felix Kubins Hörspielbearbeitung von E. M. Forsters "Die Maschine steht still" (Zeit), Sayed Kashuas "Lügenleben" (taz), Thomas Pletzingers Buch über den Basketballspieler Dirk Nowitzki (ZeitOnline) und Terézia Moras "Auf dem Seil" (SZ)

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Henning Heske über Tomas Tranströmers "April und Schweigen":

"Öde liegt der Frühling.
Der samtdunkle Wassergraben
..."
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Musik

Auch bei seinem Abschiedskonzert beim Lucerne Festival ist sich der für sein bescheidenes Auftreten bekannte 90-jährige Dirigent Bernard Haitink treu geblieben - ohne viel Aufhebens hat er sich nach einem Beethoven- und Bruckner-Abend mit den Wiener Philharmonikern von der Bühne zurückgezogen. Umso feierlicher verabschiedet Christian Wildhagen den Maestro in den Ruhestand: Mit Haitink geht "einer der letzten Großen aus der Reihe jener prägenden Dirigentenpersönlichkeiten zwischen Karajan, Bernstein und Abbado, die der Musikwelt nach 1945 ihren künstlerischen Stempel aufgedrückt haben". Was  Haitinks letzten Auftritt betrifft, sieht das Helmut Mauró in der SZ ein klein wenig anders: Statt den ebenfalls durchaus betagten Emanuel Ax Beethoven spielen zu lassen, hätte Mauró lieber einen Jüngeren am Klavier gesehen: "Als müsse er das Publikum vom Gegenteil überzeugen, versuchte Ax virtuose Abschnitte und Akkordfolgen herauszustellen und allerlei, leider mit viel Altherrenschlamperei gespickte Geschwindigkeitsläufe auf der Tastatur zu absolvieren." Umso bravouröser fandt Mauró dann allerdings den Bruckner-Teil des Abends.

In der FAZ erzählt Peter Kemper die Entstehungsgeschichte von John Coltranes in den 60ern eigens als Begleitmusik für Gilles Groulxs Low-Budget-Arthouse-Film "Le Chat Dans Le Sac" (1964) eingespielte Aufnahmen, die jetzt unter dem Titel "Blue World" erstmals veröffentlicht werden: Lange Zeit galten die Aufnahmen für diesen kaum zirkulierenden Film als bereits veröffentlicht: "Erst als 'Le Chat Dans Le Sac' dann vom National Film Board of Canada online gestellt wurde, entdeckte der Musikhistoriker Chris de Vito vergangenes Jahr, dass es sich dabei um Neuaufnahmen handelte." Auf Youtube kann man sich ein genaueres Bild machen:



Besprochen werden Alan Gilberts Auftaktkonzert als Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters (SZ, FAZ), ein Konzert des Konzerthausorchesters mit Juraj Valcuha und Valeriy Sokolov beim Musikfest Berlin (Tagesspiegel) und das Abschiedskonzert des Frankfurter Punk-Urgesteins Strassenjungs (FAZ).
Archiv: Musik