Efeu - Die Kulturrundschau

Und Schuschnigg fährt zu Hitler

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18.09.2019. Die Shortlist für den Deutschen Buchpreis teilt die Kritik: Der DlfKultur sieht in der Auswahl den großen Generationenwechsel vollzogen, der Tagesspiegel zwanghafte Originalität. Die Kosten für das geplante Museum der Moderne schnellen in die Höhe. Der Tagesspiegel vermisst auch nach der Erklärung der Kulturpolitik eine - Erklärung. Die SZ findet immerhin, dass der Renommierbau Struktur auf den Friedhof der Solitäre bringt. Die Welt berichtet von den Intrigen in Salzburg um Christian Thielemann und die Osterfestspiele.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.09.2019 finden Sie hier

Literatur

Als "faustdicke Überraschung" bezeichnet Wiebke Porombka im Dlf Kultur die gestern bekannt gegebene Shortlist des Deutschen Buchpreises: Drei der sechs nominierten Romane sind Debüts - hier finde ein "Generationenwechsel" statt. Nominiert sind im einzelnen Raphaela Edelbauers "Das flüssige Land", Miku Sophie Kühmels "Kintsugi", Tonio Schachingers "Nicht wie ihr", Norbert Scheuers "Winterbienen", Saša Stanišićs "Herkunft" und Jackie Thomaes "Brüder".

Im Tagesspiegel kann Gerrit Bartels seine Unzufriedenheit über diese "sogenannten Überraschungen" kaum verbergen: Jan Peter Bremers "Der junge Doktorand" und Nora Bossongs "Schutzzone" vermisst er schmerzlich, alles in allem wolle die Jury wohl zwanghaft originell sein. Am Ende werde sie den Preis wohl einfach an Tonio Schachingers Fußball-Roman vergeben, denn "Fußball ist schließlich unser Leben, und das Leben ist immer Literatur." Auch Welt-Redakteur Richard Kämmerlings vermisst die gestandenen literarischen Stimmen, deren Kandidaten teils schon nicht auf der Longlist standen - dafür gibt es mit Norbert Scheuers "Winterbienen" und Saša Stanišićs "Herkunft" zwei sensationelle Romane etablierter Autoren auf der Shortlist, meint er: "Scheuer durchpflügt in seinem tragischen, elegischen Kriegsbuch die deutsche, blutgetränkte Provinz; Saša Stanišić stößt in einem Dorf in Bosnien auf viele Gräber, auf denen der eigenen Name steht. Beide Geschichten müssen heute dringender denn je erzählt und gelesen werden." Stanišić ist im übrigen auch Andreas Platthaus' Favorit in der FAZ. Für die taz hat Jens Uthoff genau nachgezählt: "Zwei Migrationsgeschichten, zwei NS-Rekurrenzen, einmal Antikapitalismus, einmal Ehe für alle. Bei dieser Lesart könnte man sagen, die gesellschaftliche Politisierung zeige sich auch in der Literaturlandschaft."

Die FAZ bringt einen Vortrag von Durs Grünbein, den der Schriftsteller auf einer Tagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Belfast zum Thema Mauern und Grenzen hielt: "Mir selbst, geboren 1962 im Circus Marxismus, ein Jahr nach Errichtung der Berliner Mauer, ist die Teilung im Rückblick zur größten Lektion geworden. Sie hat mich das doppelte Sehen gelehrt, den dialektischen Blick auf die Verhältnisse geschult. Sie hat aber auch die Sehnsucht nach etwas Größerem geweckt, nach einem höheren Prinzip territorialer Organisation - nennen wir es Europa -, gerade weil Deutschland in seiner Zerrissenheit, seinem historischen Scheitern mir als verbranntes Gelände erschien."

Weiteres: Im Jungle-World-Gespräch erzählt Lizzie Doron unter anderem von ihrer Situation als israelische Schriftstellerin, die insbesondere in Deutschland ihren Markt hat, und von ihren Erfahrungen mit BDS-Aktivisten. Für ZeitOnline porträtiert Marietta Steinhart den amerikanischen Schriftsteller André Aciman. Ulrich M. Schmid wirft für die NZZ einen Blick zurück auf Suhrkamps lange Publikationsgeschichte osteuropäischer Literatur. Im Tagesspiegel spricht der Comiczeichner Luke Pearson über den Abschluss seiner "Hilde"-Reihe. Und in der NZZ erzählt der Schriftsteller Norbert Gstrein eine kleine Schauergeschichte über ein Kind, das als Moralmonster nervt, und seine nicht weniger nervtötende Mutter.

Besprochen werden unter anderem Claudia Steinitz' Neuübersetzung von Albertine Sarrazins "Querwege" (NZZ), Volker Weidermanns "Das Duell" über das Verhältnis zwischen Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki (SZ), Frank Schmolkes Comic "Nachts im Paradies" (Titel Magazin) und Edward Snowdens Autobiografie "Permanent Record" (FAZ).
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Film

Linear auf Heldenreise: Brad Pitt in "Ad Astra"

In James Grays "Ad Astra" fliegt Brad Pitt auf der Suche nach seinem Vater zu den Sternen. Schon bei der Weltpremiere in Venedig gab es mitunter schwärmerische Kritiken, denen sich Lukas Foerster im Filmbulletin gerne anschließt. Zwar ist dies beileibe nicht der erste Film, in dem kosmische Weite auf private Mikrodramen treffen, doch "selten fällt beides so sehr in eins wie hier, ohne jegliche allegorische Hilfskonstruktion. Da fliegt einer bis ans Ende des Universums, und am Ende wartet tatsächlich, buchstäblich: Papa. Der Weg dorthin ist trotzdem, wunderbarerweise, eine ganz klassische, lineare Heldenreise. Die nebenbei zu einem Durchgang durch die Ästhetiken des modernen Science-Fiction-Kinos wird", der seinen Weg auch zum Mars findet, den "James Gray in die wabernden Farben der entschläunigten psychedelischen Genrekinometaphysik taucht. ... 'Ad Astra' ist kein subtiler Film, aber Subtilität im Kino wird wahrscheinlich grundsätzlich überschätzt. Ein präzise geführter emotionaler Vorschlaghammer ist, das wagt man meist erst anzuerkennen, wenn er einen getroffen hat, allemal effektiver."

FAZ-Kritiker Dietmar Dath kann den Spaß-Angeboten des Films zwar durchaus etwas abgewinnen, "aber Spannung und Jux sind ja erkennbar nicht der Kunstzweck dieser Veranstaltung".SZ-Kritiker Philipp Stadelmaier findet derweil großen Gefallen an den "Zwischentönen" des Films: "Die Zukunft ist weder dystopisch noch besonders strahlend."

Im Tagesspiegel-Kommentar zu Hans Joahim Mendig - der Chef der hessischen Filmförderung hatte sich mit dem AfDler Jörg Meuthen getroffen, was im Filmbetrieb mittlerweile für erhebliche Irritationen sorgt (unsere Resümees hier und dort) - äußert Andreas Busche zwar Verständnis für die Filmschaffenden und zeigt sich selber skeptisch, was dieses Treffen betrifft, allerdings sollte gegen ein solches Treffen mit einem demokratisch gewählten Politiker zumindest so lange nichts sprechen, wie sich daraus keine Parteilichkeit ergibt. "Die Forderung nach einem Rücktritt ist ein Reflex, der immer öfter im Umgang mit den Rechtspopulisten zu vernehmen ist. Es sorgt aber auch, siehe Donald Trump, für schleichende Abnutzungserscheinungen. Unbedingt nötig ist es jedoch, sich die Arbeit von Hans Joachim Mendig künftig sehr genau anzusehen."
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Kunst

Leichter Bau mit zwei Tiefgeschossen: Das Museum des 20. Jahrhunderts. Foto: Stiftung Preußischer Kulturbesitz

Gestern lud die Stiftung Preußischer Kulturbesitz zur Pressekonferenz, um zu erklären, warum die anvisierten Kosten für das geplante Museum des 20. Jahrhunderts von 200 auf 450 Millionen Euro steigen sollen. Für Tagesspiegel-Autor Bernhard Schulz blieb die Frage weitestgehend unbeantwortet: "Diese Frage umschifften alle Redner, indem sie die - von niemandem je bezweifelte - Notwendigkeit des Museumsgebäudes betonten, um endlich die Sammlung der Nationalgalerie angemessen präsentieren zu können. Dass der Entwurf von Herzog & de Meuron nunmehr ein zusätzliches Tiefgeschoss umfasst, dessen Ausbleiben doch bei der Siegerwahl im Wettbewerb gerade als Vorzug herausgestellt worden war - geschenkt. Ganz nebenbei ließ Herzog einfließen, 'dass wir mitten in einer Großstadt mit anspruchsvollen Bodenverhältnissen ein Museum bauen'. War das vorher unbekannt?" In der Welt berichtet Boris Pofalla von der Pressekonferenz: "Man wird den Eindruck nicht los, dass bei den fünf Verantwortlichen hier in der Villa nichts mehr infrage steht. Der Beschluss, das Museum so und nicht anders zu bauen, sei nun einmal gefasst, sagt dann auch Parzinger."

So grundsätzlich wie die Kritik von Niklas Maak in der FAZ (unser Resümee) fällt in der SZ die von Jens Bisky und Jörg Hätzschel nicht am geplanten Museum des 20. Jahrhunderts in Berlin aus. Sie stören sich zwar an den exorbitanten Kosten und an den erpresserischen Forderungen der Sammler, finden aber den veränderten Entwurf gut: "Noch immer scheint das geplante Museum geeignet zu sein, auf dem Friedhof der Solitäre, der 'Kulturforum' heißt, klare räumliche Strukturen zu schaffen. Zwei Probleme werden bleiben: die Piazza-Ödnis vor der Gemäldegalerie und die Abgewandtheit der Staatsbibliothek. Und auch wenn Konzept und Entwurf viel für sich haben, ist es unverantwortlich, so viel Geld für einen Bundesrenommierbau auszugeben, während der laufende Betrieb unterfinanziert ist und Renovierungsarbeiten in anderen Häusern auf die lange Bank geschoben werden."

Weiteres: In der taz stellt Margarete Moulin den nordkoreanischen, inzwischen aber in Seoul lebenden Künstler Sun Mu vor, dessen Arbeiten gerade im Kunstraum München gezeigt werden. Im Guardian streift Adrian Searle über die Istanbul Biennale. Besprochen wird eine Schau des österreichischen Künstlers Martin Grandit im Bank Austria Kunstforum (Standard) und eine Ausstellung des britischen Künstlers Antony Gormley in der Royal Academy (Guardian).
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Bühne

Ronald Pohl interviewt für den Standard Klaus Maria Brandauer, der heute im Burgtheater aus Éric Vuillards "Die Tagesordnung" liest. Sehr plastisch zeige Vuillard, wie sich 1933 Inhumanität und Passivität unter den Eliten ausbreiteten, meint der Schauspieler: "Bleiben wir bei Vuillards Schilderung. Der deutsche Einmarsch in Österreich zeichnet sich ab. Im Untergrund werkten die illegalen Nazis, es fehlte praktisch allen der Glaube an die Lebensfähigkeit der Nachfolgestaaten der Donaumonarchie. Und Schuschnigg fährt zu Hitler, getarnt als Skifahrer. Und hinter seinem Rücken rechnen von vorn her ein alle mit seinem Scheitern. Und jetzt die Frage an alle nachträglichen Besserwisser: Was hätten wir denn gemacht?"

Besprochen Wajdi Mouawads Nahost-Familiendrama "Vögel" am Wiener Akademietheater ("packend" findet es FR-Kritikerin Judith von Sternburg, "kalkuliert" SZ-Kritiker Wolfgang Kaliczek) und Luigi Nonos Revolutionsoper "Al gran sole carico d'amore" im Theater Basel (FAZ).
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Musik

Christian Thielemanns Kalkül im Streit um die Salzburger Osterfestspiele ist nicht aufgegangen, gegenüber dem Geschäftsführer Nikolaus Bachler zogen er und die Sächsische Staatskapelle Dresden nun den Kürzeren: Der Vertrag mit den Festspielen läuft nach 2022 aus. Niemand fängt den Geist von Salzburg so schön ein wie Manuel Brug, der in der Welt die Intrigen ausführlichst aufdröselt: Die politisch Verantwortlichen hätten es "so richtig schön dreckig getrieben" und Orchester samt Dirigent "mit einem Fußtritt nach Vertragsende 2022 hinausbefördert ... Und das nur, weil Haslauer und seine Kuratoriumskonsorten glaubten, dem im Umgang unangenehmen Thielemann nach dem Abgang seines kuschelfreundlichen Intendanten Peter Ruzicka ab 2021 den großen Zampano Nikolaus Bachler vorsetzen zu müssen. Dass die beiden nicht miteinander können und können würden, war doch jedem im Betrieb klar. Schuld hat aber jetzt natürlich nur Thielemann, der ja angeblich bockig war. Aber der Bachler wird es schon richten, wo dem Festival doch jetzt schon das Geld ausgeht, obwohl man hier noch einigermaßen exklusiv den Thielemann mit Oper hören konnte."

Im Standard erfahren wir mehr von den Plänen, die Bachler mit den Festspielen hat: Die Festspiele dauern weiterhin zehn Tage, würden aber im Programm aufgefüllt, auch Jazz und Ballett sind vorgesehen.

Weiteres: Frederik Hanssen gratuliert im Tagesspiegel Anne-Sophie Mutter zur Auszeichnung mit dem internationalen Praemium-Imperiale-Preis. Besprochen werden Solange Knowles Auftritt in der Elbphilharmonie (taz, Welt, Tagesspiegel), Wolframs neues Album "Amadeus" (Standard), Konzerte beim Musikfest Berlin (taz, FAZ), ein Abend mit Mozarts "Così fan tutte" unter Teodor Currentzis (NZZ), neue Popveröffentlichungen, darunter ein neues Album von Liam Gallagher (SZ) und Dominik Eulbergs neues, auf Tiergeräusche zurückgreifendes Techno-Album "Mannifaltig" (ZeitOnline). Wir hören rein:

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