Efeu - Die Kulturrundschau

Der Vollrausch ist zuweilen Systemkritik

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.09.2019. Im Standard outet sich Peter Eötvös, dessen Oper "Angels in America" heute in Wien Premiere hat, als begeisterter Ausländer. Der Tagesspiegel feiert den Horrorfilmregisseur Ari Aster als meisterhaften Arrangeur des Unheimlichen. Bedřich Smetana bietet eigentlich viel Stoff für Gender-Science, denkt sich die neue musikzeitung vor einer mit allen maskulinen Klang-Attributen charakterisierten Libuše. Das neue Deichkind-Album macht Epoche, ruft eine hingerissene SZ. Die NZZ freut sich an den surrealen Überhöhungen des Modefotografen Tim Walker.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.09.2019 finden Sie hier

Kunst

Swinton, der Totem (Bild: Tim Walker Studio/Victoria & Albert Museum)

Da hatte einer viel Freude: Das Victoria & Albert hat den Modefotografen Tim Walker in den Beständen der britischen Kunstinstitution stöbern und sich davon fotografisch inspirieren lassen. "Wonderful Things" heißt die Ausstellung und viel Freude daran hatte auch NZZ-Kritikerin Daniele Muscionico, denn "der Mann für surreale Überhöhungen erfindet für die Glanzstücke aus der Museumssammlung neue, unerhört freche Bedeutungszusammenhänge. Er verheiratet Artefakte mit Fashion, wenn er die echte Stil-Queen Tilda Swinton in Szene setzt und schwer belädt mit dem Erbe ihrer adeligen Herkunft und kolonialistischen Vorväter: Martialische Steine und gigantesker Fingerschmuck aus fernen Ländern zieren ihre Hände. Swinton, der Mensch wird zu Swinton, dem Totem. Walker überführt auf exzentrische Weise mittelalterliche Glasscheiben zu futuristischen Objekten, und er findet wie keiner vor ihm ketzerische Verwandtschaften zwischen indischen Miniaturen, erotischen Illustrationen, goldenen Schuhen und einem 65 Meter langen Wandteppich von Bayeux aus dem 11. Jahrhundert."

Besprochen werden eine Tobias-Rehberger-Ausstellung im Berliner Haus am Waldsee (Tagesspiegel), die Maria-Lassnig-Ausstellung an der Wiener Albertina (taz), die Ausstellung der Webarbeiten der norwegischen Künstlerin Hannah Ryggen in der Frankfurter Schirn ("ein Funke puren Vergnügens, in Stoff gewebt", freut sich Rose Maria Gropp in der FAZ), eine Ausstellung mit Werken aus der Gemäldesammlung Cornelius Gurlitts im Israel-Museum in Jerusalem (FAZ) und die Dürer-Ausstellung in der Albertina (Zeit).
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Literatur

Dass die Stadt Dortmund den Nelly-Sachs-Preis nun doch nicht an Kamila Shamsie vergibt (hier der Überblick dazu in unserem Kulturrundschauen), hält Martin Eimermacher in der Zeit für durchaus gerechtfertigt. Die Autorin sagt, "ihre Bücher könnten nicht ins Hebräische übersetzt werden, weil sie eben keinen Israeli als Verleger akzeptiere. Das ist freilich ihr gutes Recht. Und es ist eben auch das gute Recht der Jury, ihr dafür keinen Preis zu verleihen, erst recht, wenn er nach Nelly Sachs benannt ist." Im Freitag gerät derweil Mladen Gladic beim Durchgehen der Liste von Shamsies Unterstützern ins Grübeln: Diese befürchten, "die strategische Identifizierung von Kritik an israelischer Politik mit Antisemitismus könnte gang und gäbe werden. Schon weil es sich bei diesen Intellektuellen nicht um irgendwen handelt, sollte man solche Befürchtungen ernst nehmen. Sonst wird man die Angst schüren, in Deutschland müsse man sich einer Gesinnungsprüfung unterziehen, um als Kulturschaffender gewürdigt zu werden." Sein Vorschlag zur Versöhnung daher: Irgendein Preis muss her, mit dem man Shamsie zur Güte und auf Grundlage rein literarischer Kriterien auszeichnen kann.

Weiteres: Der Tagesspiegel präsentiert seine neue Comic-Bestenliste. Besprochen werden unter anderem der Gesprächsband aus der Werkausgabe Wolfgang Koeppen (Tell-Review), Ayesha Harruna Attahs "Die Frauen von Salaga" (FR), Albrecht Selges "Fliegen" (FR), Frank Jakubziks Erzählband "Gefühlte Zuversicht" (Glanz und Elend), Bastien Vivès' Comic "Die Bluse" (Titel), Hans Blumenbergs "Die nackte Wahrheit" (NZZ), Tommy Oranges "Dort dort" (SZ) und Aleš Štegers "Logbuch der Gegenwart" (FAZ).

Mehr auf unserem literarischen Meta-Blog Lit21 und ab 14 Uhr in unserer aktuellen Bücherschau.
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Bühne

Szene aus "Angels in America". Foto: Armin Bardel


Im Standard unterhält sich Daniel Ender mit dem Komponisten Péter Eötvös über dessen Oper "Angels in America", die ab heute im Wiener Museumsquartier aufgeführt wird. Das Libretto ist auf Englisch, was Eötvös sehr wichtig ist: "Dass ich noch keine einzige Oper auf Ungarisch geschrieben habe, zeigt mir, dass ich ein begeisterter Ausländer bin. Seit ich meine Heimat 1966 zum ersten Mal verlassen habe - nicht als Dissident, sondern ganz offiziell -, war es entscheidend für mich, viele Sprachen um mich zu haben. Jede Sprache hat eine andere Kultur, einen anderen Rhythmus und ein eigenes Tempo. Wenn ich auf Französisch komponiere, kommt eine völlig andere Musik heraus als beim selben Text auf Deutsch. Ich suche mir bei jedem Stück musikalische Anhaltspunkte. In meiner neuen Oper für die Staatsoper Berlin nach einem Libretto von Jon Fosse spielt eine nordische Fidel eine Hauptrolle - das gibt mir klanglich eine Richtung. Und ich stelle mir das Licht in einem Land vor und die Wolken, die mir sehr wichtig sind, ob in Wien, Budapest oder Paris. Oder in Deutschland. Dort ist es sowieso immer grau." Was "Angels in America" angeht, sei er für zwei Wochen nach New York gefahren und habe sie alle Musical-Produktionen am Broadway angesehen: "Es ist ein Musical-Stil à la Eötvös geworden".

Szene aus Smetanas "Libuse"


Bedřich Smetana bietet eigentlich "viel Stoff für Gender-Science", denkt sich Roland H. Dippel (nmz) in einer Aufführung der Smetana-Oper "Libuše" durch das nordböhmische Opern- und Balletttheater Ustí nad Labem am König Albert Theater in Bad Elster. Regie führte Andrea Hlinková: "Absolut beeindruckend und alle Solist*innen sind Repräsentant*innen einer heute selten gewordenen regionalen Gesangstradition. Die Frauen bei voller Rundung mit verschiedenen Gewichtungen von Leicht- bis Schwermetall. Michaela Katráková, blond von Gestalt und Rollencharakter, schlittert als Krassava ins monumental aufgedonnerte Koketterie-Desaster zwischen den dadurch uneinigen Brüdern Chrudoš (massiver Bariton mit Drang zur Bombenhöhe: Zdenek Plech) und Stahlav (leicht nasaler Edeltenor: Jan Ondráček). ... Zeit wäre es, von Seite des internationalen Einheitsrepertoires die trotz Blechpanzer ohne Kampfparolen auskommende 'Libuše' etwas genauer ins Visier zu nehmen. Denn wie in Smetanas 'Dalibor', dessen schwule Implikationen bereits um 1900 kritisiert wurde, zeigt auch die Titelfigur Libuše ein Verhalten gegen konventionelle Geschlechterrollen: Libuše heiratet zwar, aber Smetana charakterisiert und heroisiert sie mit allen maskulinen Klang-Attributen, die ihm bei der Komposition 1871/72 zur Verfügung standen."

Der Tenor Plácido Domingo zieht sich wegen Belästigungsvorwürfen von Met zurück, melden die Zeitungen, darunter der Standard. "Er weise die Vorwürfe zwar 'aufs Schärfste zurück', doch sei er besorgt, dass 'in dem Klima von Vorverurteilungen (...) mein Auftritt in dieser Produktion von 'Macbeth' von der harten Arbeit meiner Kollegen auf und hinter der Bühne ablenken würde. Daher habe ich darum gebeten, mich zurückzuziehen, und danke der Führung der Met dafür, meinem Wunsch so gütig entsprochen zu haben', hieß es in einer schriftlichen Erklärung Domingos." Im Tagesspiegel scheint Frederik Hanssen mit dem Rücktritt zufrieden zu sein.

Weitere Artikel: Ronald Pohl liefert im Standard ein kleines Dramolett zu Ehren des heute seinen 75. Geburtstag feiernden Peter Turrini. Manuel Brug erinnert in der Welt an den "Flüchtling des Jahrhunderts", den russischen Star-Tänzer Rudolf Nurejew, dem ein neuer Film gewidmet ist. Michael Wolf empfiehlt in der nachtkritik das Nichtinszenieren als neue Regietugend. In der taz unterhält sich Ariane Lemme mit dem Choreografen Tomer Zirkilevich über Tänzer, Gott und Israel.

Besprochen werden außerdem die Brüsseler Uraufführung von Pascal Dusapins Oper "Macbeth Underworld" in der Regie von Thomas Jolly (dem Bruno de Lavenère eine wunderbare Drehbühne gebaut hat, staunt nmz-Kritiker Joachim Lange: "Es ist eine hochatmosphärische Installation des Grauens. Ein Schatten-Schottland ohne Ausweg"), ein "Naturereignis" namens Erwin Schrott als Don Giovanni (Presse), der Ballettabend "Beginning" mit Choreografien von Andonis Foniadakis und Medhi Walerski an der Staatsoper Hannover ("Ausgerechnet in Zeiten einer vielbeschworenen Diversität verliert sich die Vielfalt, statt Mann und Frau erobert das Gender-X die Tanzbühne", beobachtet FAZ-Kritikerin Alexandra Albrecht)
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Musik

Pop, Performance, Prollen, Gesellschaftskritik - oder kurz: Kunst. Das neue Deichkind-Album "Wer sagt denn das?" macht mindestens Epoche, ist ein durch und durch enthusiastischer Jens-Christian Rabe in der SZ felsenfest überzeugt. Allein der Titelsong "ist der cleverste Popmusiksong, der in deutscher Sprache je geschrieben wurde. Und das bislang unlösbar erscheinende Problem, das er löste, war, wie man einen großen kritischen Popsong macht aus dem kaputten Karma dieses Landes, aus Rechtsruck und Fake-News-Hysterie, aus Verunsicherung, Verrohung, Spaltung und so weiter." Und überhaupt ist Deichkind, was erst jetzt so richtig zutage trete, so ganz insgesamt etwas "Unglaubliches gelungen: das schlaueste, lustigste, kompromissloseste, deutsche Popkunst-Spektakel der vergangenen dreißig Jahre."

Aber auch gesoffen wird weiterhin munter, erfahren wir von Samir H. Köck in der Presse: "Der Vollrausch ist bei ihnen zuweilen Systemkritik, letzte Bastion der Abweichung in einer Gesellschaft, die immer rigider die Totalanpassung fordert. ... Einmal mehr sind sie ganz nah am Zeitgeist, ohne Sklave desselben zu werden. Dieses pfiffige Album ist reelles Abbild einer verwirrten, polarisierten Gesellschaft. Deichkinds grimmiger Humor bestätigt die Hörer auf vitale Art in ihrer Existenz." Selbstverständlich wollen wir auf den "cleversten Popmusiksong" nicht verzichten - zumal auch Lars Eidinger (wenn auch nur kurz) wieder mit dabei ist:



Weiteres: In der NZZ porträtiert Thomas Schacher Alan Gilbert, den neuen Chefdirigenten des NDR-Elbphilharmonie-Orchesters. Peter Kemper schreibt in der FAZ über das vor 50 Jahren erschienene Beatles-Album "Abbey Road".
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Architektur

Laura Weißmüller schlendert für die SZ durch Chemnitz und lässt sich vom gebürtigen "Karl-Marx-Städter" Martin Böhringer erklären, warum es, Neonazis beiseite, völlig okay ist, dass Chemnitz Kulturhauptstadt 2025 werden will: "'Wer sich hier auf Tradition beruft, der beruft sich auf eine, die maximal international war', sagt Böhringer, der mit seinem Kapuzenpulli auch als Student durchgehen könnte, dabei wurden in sein Start-up gerade mal wieder 20 Millionen Euro investiert. Er verweist damit auf die Industriegeschichte der Stadt."

Weiteres: In der NZZ nimmt Sabine von Fischer das Open House-Wochenende in Zürich zum Anlass, über Nacktheit in der Architektur und besonders im Brutalismus nachzudenken. Regine Müller besucht für die taz das frisch renovierte Düsseldorfer Schauspielhaus.
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Film

Spannende Desorientierung: Ari Asters "Midsommar"

Junge amerikanische Studenten verschlägt es auf der Suche nach einer Abschlussarbeit in Ethnologie in den hohen Norden Skandinaviens, wo sich ein zunächst sehr freundlich erscheinender Naturkult als gar nicht so freundlich entpuppt - Ari Asters Horrorfilm "Midsommar" sorgt für einige Begeisterung in den Feuilletons: Zwar gewinnt der Film im Großen und Ganzen keinen Blumentopf für Originalität, meint Daniel Kothenschulte in der FR, aber zumindest "die erste Hälfte ist tatsächlich mitunter staunenswert mit ihren gezirkelten Kompositionen unter freiem Himmel, den herrlich absurden Holzbauten, den pseudo-folkloristischen Kult- und Wohnstätten." Taz-Kritiker Dennis Vetter bescheinigt dem Regisseur "ein großes Talent für das Austesten filmischer Möglichkeiten: Alles scheint hier in zweieinhalb Stunden möglich und beinahe alles realistisch. ... . Wenn nichts Zentrales zu erzählen ist, fängt die Kamera rätselhafte Randnotizen ein. Weil 'Midsommar' in seiner Montage und in den entfesselten Perspektiven unberechenbar bleibt, werden Grundspannung und Desorientierung zunehmend unerträglich."

Aster geht es "nicht um Schrecken auf Knopfdruck", erklärt Dominik Kamalzadeh im Standard, "sondern um ein tiefgründigeres Zusammenwirken von Trauer und Horror. ... Seine Akzente findet er im filmisch hervorgehobenen Detail. Auf fast unspektakuläre Weise, oft im Off der Bilder entledigt er sich der ohnehin oberflächlich hedonistisch gezeichneten US-Jungmänner. Gar nicht sattinszenieren kann er sich dagegen an den Abläufen im Dorf, die Stufe um Stufe bizarrer anmuten." Für Tagesspiegel-Kritiker Thomas Groh hält hier "ein meisterhafter Arrangeur des Unheimlichen im Kino Einzug, der zudem weitgehend auf gängiges Horror-Instrumentarium verzichtet." Presse-Kritiker Andrey Arnold hingegen fand den Film zwar effektiv, aber auch sehr boutiquenhaft auf den guten Geschmack hin zusammengestellt. Und in der Jungle World stellt Tobias Prüwer fest: "Das Herz der Finsternis ist die sonnendurchflutete Idylle des Nordens."

Weiteres: In der NZZ erzählt Karl Spoerri vom besonderen Verhältnis zwischen Oliver Stone und dem Zurich Film Festival. Außerdem spricht in der NZZ Urs Bühler mit Julie Delpy, die das Zürich Film Festival besuchen wird. Den Berliner taz-Lesern empfiehlt Fabian Tietke die Reihe "Im Auftrag des Fernsehens der DDR" im Berliner Zeughauskino.

Besprochen werden François Ozons Missbrauchs-Kirchendrama "Gelobt sei Gott" (SZ, FR, Gespräche mit dem Regisseur gibt es außerdem in SZ, ZeitOnline und Welt), Richard Phelans und Will Bechers Animationsfilm "Shaun das Schaf: Ufo-Alarm" (taz, Tagesspiegel, Standard, ZeitOnline), der Abschluss der Serie "Transparent" (ZeitOnline) und die Netflix-Komödie "The Politician" (FAZ).
Archiv: Film