Efeu - Die Kulturrundschau

Schlussszene an einem gefrorenen Teich

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.09.2019. Die Kritiker sind begeistert von Thomas Heises Essayfilm "Heimat ist ein Raum aus Zeit", in dem der Filmemacher die Geschichte seiner Familie im Spiegel der deutschen Geschichte zeigt. Annekathrin Kohout unterhält sich für ihr Blog mit der Malerin Mona Broschár über deren "Kick-Off-Bilder", bei denen nicht selten eine Wurst im Mittelpunkt steht. ZeitOnline führt durch die Geschichte des türkischen Raps bis zu seinen deutsch-türkischen Wurzeln. Der Tagesspiegel gratuliert Norbert Scheuer zum Raabe-Preis.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.09.2019 finden Sie hier

Film

Still aus Thomas Heises "Heimat ist ein Raum aus Zeit" (GMfilms)

Dreieinhalb Stunden versenkt sich Thomas Heise mit seinem neuen Essayfilm "Heimat ist ein Raum aus Zeit" in die Chronik seiner Familiengeschichte. Ein intensives Filmerlebnis, versichern durchweg alle Kritikerinnen und Kritiker: "Es ist das Schicksal von vier Generationen, das sich über beinahe hundert Jahre, zwei Weltkriege, entstehende und zusammenbrechende Systeme von Wien über Dresden und Mainz bis nach (Ost-)Berlin erstreckt", schreibt Peter Neumann in der Zeit. "Mit jedem Bild, Schulaufsatz, Briefwechsel rückt Heise, der alle Texte selbst vorliest, mit ruhiger Stimme, aus dem Off, dem unauflösbaren Rest näher, der dabei unvermeidlicherweise bleibt. Was so entsteht, ist ein Nachdenken über die Zeit, bei dem sich Orte und Landschaften überlagern."

Allein 24 Minuten lang rollt im Film eine Liste mit den Namen deportierter Juden ab, dazu liest der Filmemacher einen Briefwechsel im Off vor, erklärt Christiane Peitz im Tagesspiegel: "24 Minuten, es ist die Chronik einer Vernichtung. In ihrer Nüchternheit wird sie zur stärksten Passage" in diesem Film, der "das Biografische wie eine archäologische Stätte erkundet. 'Wir sind schürfen gegangen', sagte Heise, als der Film auf der Berlinale uraufgeführt wurde. Er buddelt Scherben aus, Rudimente der Kriege, des geteilten und wiedervereinten Deutschland, setzt sie behutsam zusammen, entziffert Unleserliches." In der taz lobt Claudia Lenssen Heises den behutsamen Ansatz, mit dem Heise sein Material sortiert und collagiert: "Intime Zeugnisse seiner prominenten DDR-Intellektuellen-Familie treffen auf die öffentliche Neugier, aber für Heise, ein erklärter Außenseiter des gegenwärtigen Dokumentarfilmbetriebs, kam die gängige Narration zu illustrierenden Foto- und Filmpassagen (...) nicht in Frage." Er "verweigert radikal die eingeschliffenen Konventionen, die die gängigen Formate zur Geschichtsvermittlung zu Sehgewohnheiten verfestigt haben." Sehr begeistert berichtete auch Perlentaucherin Thekla Dannenberg zur Berlinale-Premiere von diesem Film.

Weitere Artikel: Beim Human Rights Film Festival in Berlin ist überraschend auch Oleg Senzow aufgetreten, berichten Christiane Peitz und Dominique Ott-Despoix im Tagesspiegel. Sabine Rennefanz (FR) und Peter Richter (SZ) empfehlen das Online-Videoarchiv Open Memory Box, das Privataufnahmen aus dem Alltag der DDR sammelt. Dominik Kamalzadeh porträtiert im Standard den Dokumentarfilmemacher Sebastian Brameshuber. In der NZZ gratuliert Urs Bühler dem sich nunmehr aus dem Geschäft zurückziehenden Gründer-Duo des Zurich Film Festivals, Nadja Schildknecht und Karl Spoerri, dazu, ein anfangs skeptisch beäugtes, mittlerweile sehr erfolgreiches Festival auf die Beine gestellt zu haben.

Besprochen werden Francois Ozons Kirchen-Missbrauchsdrama "Gelobt sei Gott" (Perlentaucher, mehr dazu hier), Ari Asters Horrorfilm "Midsommar" (Zeit, mehr dazu hier), John Crowleys Verfilmung von Donna Tartts Bestseller "Der Distelfink" (NZZ, Tagesspiegel, SZ), der Netflix-Dokumentarfilm "Inside Bill's Brain" über Bill Gates (Golem), Ralph Fiennes' Biopic "The White Crow" über den Tänzer Rudolf Nurejew (Tagesspiegel, Dlf Kultur hat mit dem Regisseur gesprochen), Nathalie Borgers' Dokumentarfilm "The Remains" (Tagesspiegel), Ryan Murphys Netflix-Serie "The Politician" (Welt) und die in der Frankfurter HipHop-Szene angesiedelte Netflix-Serie "Skylines" (taz).
Archiv: Film

Literatur

Wenigstens auf die Jury des Wilhelm-Raabe-Preises, der in diesem Jahr an Norbert Scheuer geht, ist noch Verlass, atmet Gerrit Bartels im Tagesspiegel auf: Anders als beim Deutschen Buchpreis gehe es hier wirklich noch um gestandene Literatur - für Bartels jedenfalls ist die Entscheidung für Scheuer "ein deutlicher Fingerzeig an die Deutsche-Buchpreis-Jury: Wir hier in Braunschweig zeigen euch, wie man das macht, was preiswürdige Literatur von Debütliteratur unterscheidet!"

Besprochen werden unter anderem Erik Fosnes Hansens "Ein Hummerleben" (SZ) und Dietmar Daths Science-Fiction-Roman "Neptunation oder: Naturgesetze, Alter!", der davon handelt, dass der Sozialismus 1989 nicht zusammengebrochen ist, sondern sich Richtung Neptun verabschiedet hat (Welt).
Archiv: Literatur

Kunst

Mona Broschár, Symmetrie, 2019. © Mona Broschár


Annekathrin Kohout unterhält sich für ihr Blog mit der Malerin Mona Broschár, die ihr erzählt, wie ein Jahr in London ihren Blick verändert hat und sie plötzlich wusste, wie sie malen will: "Ich habe mich damals hauptsächlich mit den roten Doppeldeckerbussen fortbewegt, mich oben rein gesetzt und natürlich das Ziel verfolgt, irgendwo hinzukommen. Aus dieser Perspektive erkannte ich, dass die Stadt wie ein Ameisenhaufen organisiert war. Alle wimmeln herum, aber jeder hat eine Aufgabe und muss irgendwo hin. Es geht also bei diesem riesigen Wimmelbild los, und dann sitzt man im Bus und dann nähert man sich einem Ziel. Ich werde diesen vielen Eindrücken ausgesetzt, um dann irgendwo zu landen, wo ich eine Aufgabe habe. Der Umraum reduziert sich immer mehr, es wird immer konkreter. Das war etwas, das ich mit in die Bilder genommen habe". Und so entstand noch in London ihr erstes "Kick-Off-Bild", wie Kohout es nennt: "Da habe ich kleine Zwerge gemalt, die unter einem Baum stehen, und von der Baumkrone hängt eine Wurst. Die Zwerge wimmeln unter der Wurst und schauen hoch, als wüssten sie nicht, was sie damit anfangen sollen. Das war das erste Bild, bei dem es um ein Ding ging. Es war noch narrativer, aber da habe ich mich schon dem, was ich heute mache, angenähert." (Broschár kann man ab 26. Januar in der Kunsthalle Darmstadt sehen.)

Weiteres: In monopol erzählt der Künstler Paule Hammer, was die Versteigerung der SØR Rusche Collection, zu der auch zwanzig Bilder von ihm gehören, für ihn bedeutet. Besprochen werden außerdem die Hannah-Ryggen-Ausstellung in der Frankfurter Schirn (monopol) und die Ausstellung der dreizehnte Absolvent*innen der Ostkreuz-Fotoschule in den Reinbeckhallen in Berlin (taz).
Archiv: Kunst
Stichwörter: Broschar, Mona, Monopole, Malerin

Architektur

Blick auf "The Twist". Foto laurianghinitoiu/kistefosmuseum


In der Welt stellt Marcus Woeller den dänischen Architekten Bjarke Ingels vor, der mit seinem norwegischen Architekturbüro BIG gerade bei Oslo die Kunsthalle "The Twist" über einen Fluss gebaut hat: "Um die senkrechte Achse gedrehte Hochhäuser gibt es inzwischen einige, seit Santiago Calatrava im schwedischen Malmö seinen 2005 eingeweihten 'Turning Torso' baute, waagerecht verdrehte Flachbauten aber noch keine. Sein Entwurf habe außerdem etwas Universelles, sagt Ingels und beruft sich auf Jan Utzon als Vorbild, den dänischen Architekten des berühmten Opernhauses von Sydney. 'Utzon war besessen von der Idee, dass man jede nur vorstellbare Form aus massengefertigten Elementen herstellen könne.' Im 'Twist' drücke sich nun diese 'Utzonische Verpflichtung' aus, mit den einfachsten Mitteln eine hochkomplexe Struktur zu erschaffen. Besonders stolz ist Ingels darauf, dass die Biegungen im Gebäude erreicht wurden, ohne auch nur ein gebogenes Bauteil zu verwenden."
Archiv: Architektur

Bühne

Besprochen werden die Uraufführung von Benjamin Attahirs Oper "Le Silence des ombres" in Brüssel (nmz), Thorleifur Örn Arnarssons Inszenierung von Homers "Odyssee" an der Berliner Volksbühne (Freitag), David Bobees Inszenierung des "Tannhäusers" am Klagenfurter Stadttheater (Standard), Martin Kusejs Inszenierung von Karl Schönherrs "Weibsteufel" am Burgtheater (Standard), Ralph Fiennes' Nurejew-Biopic "The White Crow" (Tagesspiegel), Wagners "Ring" in Minden, inszeniert von Gerd Heinz (FAZ) und Calixto Bieitos Inszenierung von Horvaths "Italienische Nacht" am Staatstheater Stuttgart (SZ).
Archiv: Bühne

Musik

Sinem Kılıç führt auf ZeitOnline durch die Geschichte des türkischen Raps, der seine Wurzeln nicht etwa am Bosporus, sondern in den deutsch-türkischen Communitys hat. Das Erdogan-kritische Rap-Epos "Susamam" ist ein Meilenstein in dieser Geschichte und markiert vor allem einen Wandel, wie Kılıç von dem in Berlin aufgewachsenen Rapper Fuat Ergin erfährt: ""Türkischer Rap musste erwachsen werden. Das hat Ergin, der bei den Gezi-Protesten 2013 mitten im Geschehen war, am eigenen Leibe erfahren. 'Neben mir wurden Leute erschossen, ich habe anderen geholfen, die vom Tränengas verletzt wurden.' Diese Erfahrung unterscheidet ihn von manchen seiner Mitstreiter im Susamam-Video, ... Er sei immer politisch gewesen, sagt Ergin. Warum hat es so etwas wie 'Susamam' dann nicht schon vorher gegeben? 'Das war ein Gärungsprozess. 2013 haben wir uns wirklich alle krass gefürchtet', sagt Ergin. 'Man muss sich das vorstellen: Freunde von uns sind gestorben, sind erblindet von den Plastikkugeln der Polizisten. Wir hatten wirklich ernsthafte Angst davor, irgendetwas zu machen. Hätten wir diesen Song 2013 gemacht, wir wären heute immer noch im Knast.'"

John Coltranes "Blue World", die bislang unveröffentlichten Soundtrack-Aufnahmen zu Gilles Groulx' weitgehend in Vergessenheit geratenen Film "Le chat dans le sac" von 1964, ist es definitiv wert, als eigenständiges Album betrachtet zu werden, auch wenn die Aufnahmen an Coltranes großen Klassiker nicht ganz heranreichen, meint Andrian Kreye in der SZ. Er betrachtet die Musik vor allem auch im Kontext des Films, dem Coltranes Musik ziemlich gut zu Leibe steht: "Dem Weltschmerz der beiden Protagonisten verhilft sie zu einer Tiefe, die kein noch so guter Schauspieler aus einem so überintellektualisierten Drehbuch herausholen könnte. ... Später im Film gewinnen banale Momente in der Stadt durch Coltrane an Bedeutung und Symbolkraft, was er schließlich in der Schlussszene an einem gefrorenen Teich mit einem Adagio von Vivaldi noch auf die Spitze treibt." Auf The Quietus schreibt Peter Margasak: "Auch wenn die Kritiker bei solchen Entdeckungen regelmäßig überschäumen, handelt es sich bei 'Blue World' weder um einen Heiligen Gral, noch um ein bislang vermisstes Verbindungsstück. Doch die Performances sind toll und wir hören bereits den entdeckungslustigen Impuls des Quartetts, das tiefer ins Material vordringt als noch einige Jahre zuvor. ... Es gibt eindeutige Anzeichen der Höhen, die Coltrane fünf Monate später mit 'A Love Supreme' erreichen wird." Hier einige Auszüge aus den Aufnahmen:



Weiteres: Im Tagesspiegel spricht Christian Böhme mit dem syrischen Rapper Amir Almuarri, der seine Videos in den zerstörten Provinzen Syriens dreht. Die Pianistin Martha Argerich gibt der NZZ eines ihrer raren Interviews. Für The Quietus spricht Patrick Clarke ausführlich mit Jonny Greenwood von Radiohead. Im großen Popmatters-Gespräch erinnern sich Creedence Clearwater Revival an Woodstock und denken über's baldige Aufhören nach. Tilman Krause erinnert in der Welt an Robert Gilbert, der die Texte zu so gut wie allem geschrieben hat, was sich nach deutschem Volkslied anhört. Die SZ spricht mit dem Jazzklarinettisten Rolf Kühn, der am kommenden Sonntag 90 Jahre alt wird. Wilhelm Sinkovicz (Presse) und Helmut Mauró (SZ) schreiben Nachrufe auf den Pianisten Paul Badura-Skoda.

Besprochen werden das neue Deichkind-Album (Freitag, taz, mehr dazu hier), Perilas mit ASMR-Klangelementen spielendes Ambient-Album "Irer Dent" (taz), eine Bruckner-Edition der Berliner Philharmoniker unter Herbert von Karajan (Presse), ein Auftritt des Sängers Michael Bublé (NZZ), ein Cher-Konzert (Tagesspiegel) und ein von Pietari Inkinen dirigierter Abend in Saarbrücken (FAZ).
Archiv: Musik