Efeu - Die Kulturrundschau

Federleicht oder peitschenscharf

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11.11.2019. Die FAZ huldigt dem Pariser Kunstkritiker und Anarchisten Félix Fénéon. Die SZ erzählt, wie entschlossen die Biennale von Karatchi eine beteiligte Künstlerin gegen Angriffe nicht verteidigte. The Intercept zerpflückt Suhrkamps Handreichung in der Causa Peter Handke. Die Die NZZ erkennt beim Dissidenten Handke einen Hauch von Tragik. Und alle gratulieren Hans Magnus Enzensberger, der heute neunzig wird.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.11.2019 finden Sie hier

Kunst

Paul Signac: Porträt von Félix Fénéon, 1890. © The Museum of Modern Art


Aufregend findet FAZ-Kritiker Tomas W. Gaethgens die Pariser Schau "Les temps nouveaux" über den Kunstkritiker, Intellektuellen und Anarchisten Félix Fénéon, der den Neoimpressionismus erfand und mit seiner "Revue Blanche" die künstlerische Avantgarde durchsetzte, von Proust, Valéry und Apollinaire bis zu Cézanne, van Gogh, Matisse,: "Dem Dichter- und Künstlerfreund stand ein anderer Fénéon gegenüber. Eine Sympathie für den Anarchismus, gelegentlich sogar konkretes Handeln, war nicht nur in der Arbeiterschaft, sondern auch in der Pariser Intelligenzija der Epoche verbreitet. Die Kehrseite der Belle Époque war die wirtschaftliche Krise, die Aufruhr nicht nur gegen die Regierung, sondern das gesellschaftliche System an sich hervorrief. Die idealistische, utopische Vorstellung von einem freien, naturverbundenen Leben fand in Gemälden Signacs, Luces, Cross' und Pissarros ihren Ausdruck... 'Wir waren alle Anarchisten, ohne Bomben zu werfen', erinnerte sich Kees van Dongen."

Ingo Arend berichtet in der SZ aus Karatschi, das sich jetzt auch eine Kunst-Biennale gegeben hat. Als Stadtmarketing wollte sie allerdings nicht so recht gelingen: Bewaffnete Sicherheitskräfte zerstörten eine Installation der Künstlerin Adeela Suleman, die an 444 Opfer eines berüchtgten Polizeioffiziers erinnerte: "Um ihr junges Projekt nicht zu gefährden, schwieg Niilofur Farrukh, Doyenne der pakistanischen Kunstkritik und Gründerin der Biennale, zunächst zu dem Übergriff. Ein Statement der Biennale warf der Künstlerin sogar vor, die Schau zu 'politisieren', ihre Arbeit sei 'nicht kompatibel mit dem Ethos' der Biennale."

Weiteres: Olga Kronsteiner berichtet im Standard vom Streit mehrerer Erbengemeinschaften um ein Schiele-Aquarell.

Besprochen werden die Moebius-Ausstellung im Max-Ernst-Museum in Brühl (taz) und eine Schau der amerikanischen Künstlerin Carrie Mae Weems in der Galerie Barbara Thumm in Berlin (taz).
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Bühne

Roland Schimmelpfennings "Der Riss durch die Welt" am Münchner Cuvilliéstheater. Foto:  Sandra Then 

Am Münchner Cuvilliéstheater hatte Roland Schimmelpfennigs neues Stück "Der Riss durch die Welt" Premiere, das als leichtes Konversationsstück das große globale Drama verhandelt: Ein Unternehmer lädt eine Künstlerin und ihren Asisstenten in seine Villa, um ihr ein neues Projekt zu finanzieren. Zur Schau gestellte Lässigkeit trift auf Ghetto-Pose, bis es knallt. Großartig findet Christine Dössel in der SZ das Ensemble und die Mehrfachbelichtungen, mit denen Schimmelpfennig arbeitet: "Es ist ein apokalyptisches Stück, in dem Schimmelpfennig buchstäblich mit dem Erdball spielt und dabei ein schleichendes Unbehagen erzeugt. Wie feinsprachlich kunstvoll und klug komponiert er das tut, ist das Aufregende daran." In der Nachtkritik wurde Petra Hallmayer nicht ganz warm mit dem Stück. FAZ-Kritikerin Teresa Grenzmann ist das Yasmina-Reza-Setting des Stücks etwas zueintönig.

Besprochen werden Birk Meinhardts "Brüder und Schwestern im Nationaltheater Weimar (Nachtkritik), das Stück "Reine Formsache" von Mudar Alhaggi mit dem Collective Malouba im Theater an der Ruht (Nachtkritik), die Wiederaufnahme von Friedrich von Flotows "Martha" an der Frankfurter Oper (FR) und die Aufführungen vom inklusiven Theaterfestival "No Limits" in Berlin (Tsp, Berliner Zeitung).
Archiv: Bühne

Literatur

Für The Intercept zerpflückt Peter Maass Suhrkamps Handreichung zur Causa Handke (mehr dazu bereits hier und dort): "Ist man in der richtigen Stimmung, liest sich das Statement in manchen Passagen auf geradezu komische Weise unbeholfen. Etwa im Versuch, die Kritiker zu entkräften, die auf Handkes Nähe zum serbischen Machthaber Slobodan Milosevic, der den Völkermord in Bosnien arrangiert hat, 2000 von seinen eigenen Leuten abgesetzt und ein Jahr später an Den Haag ausgeliefert wurde, wo ihm der Prozess wegen Kriegsverbrechen gemacht wurde und im Gefängnis verstarb, noch bevor ein Urteil gefällt werden konnte. Handke besuchte Milosevic im Gefängnis und hielt 2006 eine Trauerrede bei dessen Beerdignung. Um von diesen Verbindungen des zukünftigen Nobelpreisträgers zu einem der schlimmsten Tyrannen der letzten Dekaden abzulenken, weist Suhrkamp schwächlich darauf hin, dass Handke sich, obwohl er von Milosevics Anwälten als ein möglicher Zeuge der Verteidigung angeführt wurde, 'dazu entschlossen hat, vor Gericht nicht auszusagen.'"

Leopold Federmair verteidigt Handke in der NZZ als Idealisten, der sein eigenes Schreiben in den Dienst einer utopischen "Friedensepik" gestellt habe. Essenziell zum Verständnis sei Handkes frühe Begeisterung für Slowenien, mit dessen Austritt aus dem jugoslawischen Staatenbund begann "Handkes Dissidenz, seine Frontstellung gegen den Mainstream der Massenmedien und der westeuropäischen Politiker. ... Dass er sich auf die Seite der Serben schlug, Slowenien gleichsam durch den letzten Hort Jugoslawiens ersetzend, ist konsequent, es hat eine innere Logik und einen Hauch von Tragik." Handkes Friedensepik strebe "immer wieder zu einem manchmal geheimen, manchmal offen benannten Ort, einem selbstgeschaffenen, imaginierten Balkan, der die verlorenen Neunten Länder ersetzen soll. Realutopien, die sich nun oft in Spanien finden, zuweilen auch in Österreich, und immer noch an der Morawa, in irgendeiner - ja, gewiss! - idealisierten Enklave."

Hans Magnus Enzensberger wird 90 Jahre alt, das Feuilleton gratuliert. Im Tagesspiegel beobachtet Peter von Becker wie der Jubilar "als federleicht oder peitschenscharf formulierender, immer mehr ironischer als melancholischer Lyriker und Essayist durch die Zeiten" fegt. Konrad Hummler erinnert sich in der NZZ an jugendliche Lektüren, die nach der Aussicht auf kommunistischen Agitprop zunächst enttäuscht wurden. Klar wurde ihm dennoch: "Enzensberger führt das Florett, Enzensberger hat Humor, Enzensberger sträubt sich gegen Etikettierung." Enzensbergers neuestem Band "Fallobst" entnimmt SZ-Gratulant Lothar Müller, dass der Autor in seinen späten Jahren "ein hartnäckiger Skeptiker gegenüber den Universalitätsansprüchen der digitalen Welt" ist. Und Andreas Platthaus behauptet in der FAZ, dass "kein anderer lebender deutschsprachiger Schriftsteller ein so tiefempfundenes Traditionsverständnis hat."

Weiteres: Der Schriftsteller Michael Kleeberg schwärmt in der FAZ vom Thomas-Mann-Haus in Los Angeles: "Welch einmaliger Glücksfall es für unsere Kultur ist, dass der deutsche Staat beherzt zugegriffen hat", als dass Haus vor wenigen Jahren verkauft wurde. Besprochen werden unter anderem die Moebius-Ausstellung im Max Ernst Museum in Brühl (taz), neue Studien über Hölderlin von Rüdiger Safranski und Karl-Heinz Ott (Tagesspiegel), Volker Weidermanns Buch über das Verhältnis zwischen Marcel Reich-Ranicki und Günter Grass (Standard), Nadine Schneiders "Drei Kilometer" (Standard), André Acimans "Fünf Lieben lang" (Presse), Max Annas' in der DDR der 80er spielender Kriminalroman "Morduntersuchungskommission" (Freitag), Jan Weilers Krimi "Kühn hat Hunger" (Freitag), Tommy Wieringas Dorfroman "Santa Rita" (online nachgereicht von der FAZ) und Robert Walsers "Der Gehülfe" (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Helmuth Kiesel über Michael Buselmeiers "Die Läuterung (2)"

"Schmerzlust Fronlast sagst du, ihr seid das Feld,
der Gottesacker Welt; ihr seid des Lebens
..."
Archiv: Literatur

Film

In Frankreich sind im Zuge einer neuen MeToo-Debatte neue Vorwürfe gegen Roman Polanski laut geworden, berichtet Stefan Brändle im Standard: Die frühere Schauspielerin Valentine Monnier schildert im Le Parisien, dass sie 1975 von dem Filmemacher vergewaltigt worden sei. Silvia Hallensleben war für die taz auf der Viennale und für den Tagesspiegel bei der Duisburger Filwoche, die sich in diesem Jahr erstmals unter neuer Leitung präsentierte, "was sich am deutlichsten durch die Stärkung jüngerer und weiblicher Stimmen bemerkbar machte." Nadine Lange berichtet im Tagesspiegel vom Festival des osteuropäischen Films in Cottbus. Unter anderem der Standard meldet, dass es in Georgien bei Protesten gegen die Aufführung von Levan Akins schwulem Tanzfilm "Als wir tanzten" zu Zusammenstößen zwischen Nationalisten und der Polizei gekommen ist.

Besprochen werden die abschließende Staffel der Berliner Clan-Serie "4 Blocks" (taz, Welt), Florian Aigners Wendedrama "Niemandsland" (Tagesspiegel), Angela Schanelecs auf der Viennale gezeigter Film "Ich war zuhause, aber..." (Standard) und die erste Staffel der auf Motiven von Stephen King beruhenden Serie "Castle Rock" (SZ).
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Musik

Nazi-Rap gibt es seit Jahren, doch mit dem kommerziellen Erfolg von Chris Ares, der bei iTunes kurzzeitig die Charts anführte, tritt das obskure Genre erstmals aus dem Schatten der Szenennische in die breite Öffentlichkeit, schreibt Konstantin Nowotny in der Jungle World. Der ästhetische Boden für diesen Erfolg wurde freilich von langer Hand vorbereitet: Ares "bedient sich der Elemente des neueren deutschen Gangster-Rap, flowt durchschnittlich, aber vorzeigbar, und nutzt orchestral-martialische Beats, die vor ein paar Jahren einem gewissen Kollegah zu Erfolg verholfen haben. Die Bilder in seinen Musikvideos suchen die gleiche Gladiator-Ästhetik, die auch jener für imaginäre Kriege gestählte Kampfkoloss schätzt. ... Ehre, Stolz und Loyalität - Vorstellungen, die von der Bruderschaft bis zur Straßengang ähnlich attraktiv sind, die im Gegensatz zur atomisierten kapitalistischen Gesellschaft hervorragend funktionieren, die 'migrantische' Rapper seit jeher nutzen, um eine Gegenkultur zur entfremdeten Gesellschaft zu zeichnen."

Weiteres: Christine Lemke-Matwey hat sich für die Zeit mit der Sopranistin Anna Lucia Richter getroffen. Für die Welt spricht Michael Pilz mit Ray Davies über das wiederveröffentlichte Kinks-Album "Arthur or The Decline and Fall of the British Empire". Im ZeitMagazin träumt die Sängerin Alli Neumann.

Besprochen werden Charli XCXs Auftritt in Berlin (SZ), ein Bildband mit Polaroids aus dem Fundus von Paul McCartney (NZZ), Christoph Wagners Buch "Jodelmania. Von den Alpen nach Amerika und darüber hinaus" (NZZ), ein Konzert des brasilianischen Gitarristen Yamandú Costa (taz) und neue Schallplatten, darunter eine Edition der Lieder von Hanns Eisler mit Holger Falk und Steffen Schleiermacher (FAZ).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Jens Buchholz über "Catfish Kate" von den Pixies:

Archiv: Musik
Stichwörter: Nazi-Rap, Charts, Rap, Gegenkultur, Pixies