Efeu - Die Kulturrundschau

Eine schreibende Drohne

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08.02.2020. Lensculture bewundert die erhabene Schönheit von Todesritualen auf aller Welt in den Fotografien des Dänen Klaus Bo. Elfriede Jelineks Bearbeitung der Ibiza-Affäre teilt die Theaterkritik: Hatte Jelinek angesichts der realen Schmierenkomödie überhaupt eine Chance, fragt die NZZ. Wo bleibt die Solidarität unter Fremden, ärgert sich die Zeit mit Blick auf die Debatten um kulturelle Aneignung. Die FAZ öffnet die Schatztruhe der Übersetzernachlässe. Und die Filmkritiker laufen sich warm für die Oscars.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.02.2020 finden Sie hier

Kunst

Schock und "erhabene Schönheit" zugleich erlebt Gina Williams auf lensculture auf den Fotografien des dänischen Fotojournalisten Klaus Bo, der Todesrituale auf aller Welt dokumentiert: "In Ghana werden die Verstorbenen in wunderschönen handgefertigten Särgen beigesetzt, die ihren Beruf oder ihre Leidenschaft im Leben darstellen. Beispielsweise fotografierte Bo die Beerdigung eines Hühnerbauern, dessen Körper in einem kunstvoll gestalteten und farbenfrohen Hühnersarg lag. In Indonesien veranstalten einige Gemeinden eine Ma'nene-Zeremonie, bei der tote Verwandte aus den Familiengräbern entfernt werden. Die Leichen werden gereinigt und frisch gekleidet. 'Bevor sie zurückgebracht werden, machen Familienmitglieder Fotos mit ihnen', sagt Bo. Das Volk von Madagaskar hat eine Bestattungstradition namens Famadihana, bei der das Familiengrab geöffnet, die Vorfahren herausgeholt und in frische Seide gewickelt werden. Bei Musik und Tanz wird gebetet, bevor sie in die Krypta zurückgebracht werden."

Einen Hauch Pariser Avantgarde verspürt Bernhard Schulz (Tagesspiegel) in den Kunstsammlungen Chemnitz, die ihm in der Ausstellung "Paris 1930. Fotografie der Avantgarde" neben bekannten Namen wie Eugene Atget, Man Ray oder Brassai auch Arbeiten weniger bekannter FotografInnen zeigen: "Da ist die aus Deutschland stammende Germaine Krull, die 1926 nach Paris kam und mit der Publikation 'Métal', einer Mappe mit Spiralbindung, Furore machte. (…) Krull suchte durchaus auch die typischen Orte der Stadt auf, wie die sprichwörtlichen 'Hallen' mit ihrem Gewühl und ihrem Abfall. Ganz still hingegen die Etüden von Florence Henri, die sorgfältig mit Glas, Spiegeln und wechselnden Entfernungen operiert, besonders schön in der Treppenhauskomposition 'Pariser Fenster' von 1929."

Besprochen wird die Herman-de-Vries-Ausstellung "How green is the grass?" im Berliner Georg Kolbe Museum (taz), die Ren-Hang-Retrospektive "Love" im C/O Berlin (Tagesspiegel) und eine Ausstellung mit ganz neuen Zeichnungen von Gerhard Richter im Dresdner Albertinum (Berliner Zeitung).
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Literatur

Autorennachlässe zu sammeln ist das Selbstverständlichste auf der Welt, nur um die Übersetzernachlässe kümmert sich kaum jemand, klagt Marie Luise Knott (die auch regelmäßig für den Perlentaucher über Sprache nachdenkt - in der Lyrikkolumne Tagtigall) in der FAZ. Dabei sind die langen, teils experimentellen und verblüffenden Wortlisten etwa im Nachlass des Übersetzers Peter Urban wahre Schatztruhen sprachlicher Spielfreude. "Auf welche Weise Übersetzer ihrerseits die Kultur und die Sprachkunst geprägt haben und prägen, harrt der Forschung. Und davor: der Archivierung. ... Literarisch-übersetzerische Nachlässe geben Auskunft über zweierlei: Zum einen sind Übersetzer Sprachschöpfer, und die Nachlässe geben Auskunft über die gelungenen und verworfenen Arbeitswege, die alle - im Resultat unsichtbar - zur Entstehung eines übersetzten Kunstwerks beitragen. Zum anderen sind Übersetzer Kulturbotschafter, oft auch Trüffelschweine, und ihre Nachlässe geben Auskunft über die Netzwerke, in denen die Kunst einer Zeit sich formt."

Rettet den Universalismus, ruft Thomas Assheuer im Zeit-Kommentar zur US-Kontroverse um Jeanine Cummins' "American Dirt" (hier der Überblick), in der der Autorin vorgeworfen wird als Weiße über mexikanische Flüchtlinge zu schreiben und dafür hohe Vorschüsse zu erhalten, an die für Schriftsteller dunklerer Hautfarben oft kein Rankommen ist. Dass nur von Diskriminierung direkt Betroffene über ihr Schicksal schreiben dürfen sollen, hält Assheuer für fatal, denn "das ist nicht bloß ein Empathieverbot für 'Kulturfremde', sondern schlimmer: Es ist die Absage an jede Form sprachlicher Verständigung. Es gibt dann keine Solidarität unter Fremden, nicht einmal eine in der Erinnerung - alles wäre spätkoloniale 'Aneignung'."

Weiteres: Violaine Huisman spricht in der Literarischen Welt über ihren Roman "Die Entflohene", in dem die Autorin die Geschichte ihrer Mutter erzählt. Im Verlagsblog Hundertvierzehn erinnert sich Oliver Klemp an den vor vier Jahren verstorbenen Roger Willemsen. In der Literarischen Welt gratuliert Gisela Trahms dem Schriftsteller J.M. Coetzee zum 80. Geburtstag, den dieser morgen feiert. Außerdem verabschiedet sich der Schriftsteller Durs Grünbein in der Literarischen Welt vom kürzlich gestorbenen Literaturwissenschaftler George Steiner.

Besprochen werden unter anderem die Neuauflage von Ann Petry 1946 erschienenen Romans "The Street" über eine alleinerziehend schwarze Mutter (taz), Regina Porters "Die Reisenden" (NZZ), Marion Messinas "Fehlstart" (SZ, Literarische Welt), Max Czolleks Gedichtband "Grenzwerte" (taz), Typex' Comicbiografie über Rembrandt (taz) und J.M. Coetzees "Der Tod Jesu" (FAZ).
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Film

In der Nacht von Sonntag auf Montag werden die Oscars verliehen. Der fast schon traditionelle Aufruhr im Vorfeld habe sich weitgehend gelegt, stellt Susan Vahabzadeh in der SZ fest. Das letzte richtig große Aufsehen gab es vor zwei Jahren, als für einen Moment lang der falsche beste Film ausgerufen wurde. In diesem Jahr gehe die Academy ganz auf Nummer Sicher: "Ob nun 'Parasite' oder Greta Gerwigs 'Little Women', das Scheidungsdrama 'Marriage Story' oder 'The Irishman': Es gibt wenig Raum für wirklich absurde Entscheidungen, gegen die man leidenschaftlich und mit guten Argumenten protestieren könnte."

Dennoch: Ein paar Stimmen, die den Oscars auch in diesem Jahr eine zu männliche, zu weiße Schlagseite in den Nominierungen vorwerfen, gab es auch in diesem Jahr, schreibt Barbara Schweizerhof auf ZeitOnline, die mit den Goldjungen-Anwärtern (auf die sie im Freitag ausführlicher zu sprechen kommt) allerdings weitgehend gut leben kann. Die Kritik setze an der falschen Stelle in der Produktionskette an, meint sie. Wie es besser laufen kann, zeigt derzeit das Fernsehen: Die Serie "Fleabag" von Phoebe Waller-Bridge "handelt so selbstverständlich von weiblichen Erfahrungen und einer weiblichen Perspektive, dass sie ganz ohne Bezug auf einen etablierten männlichen Vorgänger auskommt. ... Der wahre Missstand ist, dass es zu Fleabag kein wirkliches Pendant im Kino gibt. Und das hat weniger etwas mit den Abstimmungsgewohnheiten der Academys zu tun, als mit den Entscheidungsstrukturen einer risikoscheuen Filmindustrie, die allzu sehr aufs Bewährte setzt."

Im Kino fühlt man sich derzeit von Heiligenfiguren und Moralpredigern geradezu umstellt, stöhnt Rüdiger Suchsland in seiner "Cinema Moralia"-Kolumne auf Artechock: "Im Kino geht es aber nicht um Heilige und Propheten. Sondern um die Apostaten. Es geht nicht um das Reine, sondern um das Schmutzige und Unreine. Perfektion ist der Terror, Imperfektion ist die Tugend. Hölle statt Himmel: Gute Regisseure sind Judas ähnlicher als Jesus."

Das Münchner Kinosterben geht weiter, berichtet Dunja Bialas auf Artechock: Jetzt soll das Traditionskino Sendlinger Tor nach dem Willen der Immobilieneigentümer mit dem Ende des aktuellen Pachtvertrags schließen. Bialas fordert eine politische Intervention: "Solange darüber Einigung herrscht, dass Kinos einen wichtigen Bestandteil im kulturellen und sozialen Leben der Stadtgemeinschaft darstellen, soll die Stadt den ernsthaften Dialog mit den jeweiligen Eigentümern aufnehmen, und diese angebliche Privatsache eben nicht privat sein lassen."

Außerdem: Hanns-Georg Rodek plaudert in der Welt mit dem Regisseur Taika Waititi über dessen neuseeländische Hitler-Groteske "Jojo Rabbit" (unsere Kritik), die für sechs Oscars nominiert ist. Besprochen werden Marco Bellochios "Il Traditore", der laut Filmbulletin-Kritiker Lukas Foerster "auf die italienische Zeitgeschichte wie auf einen Totentanz blickt, dem sich niemand, der sich einmal im Umkreis der Mafia aufgehalten hat, auf die Dauer entziehen kann", Roman Polanskis "Intrige" (Freitag, mehr dazu bereits hier), der Horrorthriller "The Lodge" von Veronika Franz und Severin Fiala (critic.de, unsere Kritik hier), Ulrich Köhlers und Henner Wincklers "Das freiwillige Jahr" (critic.de) und Agnès Vardas "Varda par Agnès" (critic.de, unsere Kritik hier).
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Musik

"Verblüffend unbefriedigend" fällt der Versuch des Pianisten Robert Glaspers aus, auf seinem neuen Album "Fuck Yo Feelings" die "ekstatische Kraft des Jazz mit der zornigen Wucht des Hip-Hop zu vereinen", meint Andrian Kreye in der SZ: alles viel zu selbstgefällig. Dabei weise das Projekt grundsätzlich in die richtige Richung, wie Kreye anhand weiterer Veröffentlichungen verdeutlicht: "Der Schlagzeuger Makaya McCraven hat beispielsweise das ursprünglich sehr elektronische letzte Album des Lyrikers und Vorvaters des Rap Gil Scott-Heron als Jazzalbum neu interpretiert. Auf 'We're New Again' (Xl) findet man genau jenes neue Verständnis des zirkularen Musikverständnisses, das die Schnittmenge aus Jazz und Hip-Hop definiert. Oder das neue Album des Gitarristen Jeff Parker 'Suite for Max Brown' (International Anthem), das den Loop-Gedanken in die Avantgarde transportiert." Für eine "Schatzkiste des Groove und der Energie" hält auch tazler Thomas Lindemann McCravens Überarbeitung von Scott-Herons letzten Aufnahmen und hofft, dass "sich die Musik bald für Partys durchsetzt. Sie ist subversiv, aber nicht aufdringlich. Sie ist verspielt, aber macht sich nie dumm. Genau das Richtige für Hier und Jetzt." Wir hören gerne rein:



Weitere Artikel: Für die taz plaudert Thomas Winkler mit dem Musiker Nikko Weidemann, der für die Musik der Serie "Babylon Berlin" verantwortlich zeichnet. In der britischen Popmusik ist der "Typus achtsamer Mann" zum Erfolgsmodell geworden, stellt Jochen Overbeck im Tagesspiegel mit Blick auf Sam Fender und Lewis Capaldi fest. In der SZ schreibt Rudolf Neumaier einen Nachruf auf den Dirigenten Nello Santi.

Besprochen werden der Aufsatzband "These Girls - Ein Streifzug durch die feministische Musikgeschichte", der nach Ansicht von Standard-Kritikerin noch ein bisschen stringenter hätte ausfallen dürfen, und ein Mozart- und Beethoven-Abend mit Michail Pletnjow in Stuttgart (FAZ).
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Bühne

Szene aus "Schwarzwasser". Copyright: Matthias Horn.

Auch heute versetzt "Schwarzwasser", Robert Borgmanns Inszenierung von Elfriede Jelineks Bearbeitung der Ibiza-Affäre am Wiener Akademietheater, die KritikerInnen noch in sanfte Wallungen: So anstrengend wie die Lektüre der wie eine "schreibende Drohne" "prompt und prall" auf aktuelle Katastrophen reagierenden Jelinek findet Christine Dössel in der SZ die Inszenierung nicht, dafür gerät sie ihr ein wenig zu "genussvoll konsumierbar": "Borgmann, ein Deutscher, inszeniert das vermeintliche Ösi-Stück aufwendig und bilderstark, allein der Schauwert ist enorm. Es gibt Schneemaschinengestöber, inszenierte Schlägereien, Videobilder von Nazi- und anderen Aufmärschen. Ein siebenköpfiger Sprechchor aus Schauspielstudierenden bietet Tableaus in immer neuer Aufmachung, mal als Blondinenschar (braun mag blond), mal in Biedermeiertracht."  "Rasend verkopft", findet hingegen Standard-Kritikerin Margarete Affenzeller die Inszenierung.

Im Grunde sind Jelineks Texte "Petitionen", meint Jan Küveler wenig schmeichelhaft in der Welt: "Der Text hangelt sich in freier Assoziationskette durch unsere brüchige Gegenwart. René Girards Theorie vom Opfer als Sündenbock, durch dessen Stigmatisierung sich Gesellschaften konsolidieren, steht neben Euripides' 'Bakchen', jener Schilderung eines orgiastischen Rausches, in dem eine Mutter ihren eigenen Sohn zerreißt. Dionysos dient als Prospekt für heutige Populisten, die die Einheit und Harmonie der Polis bedrohen, durch Hetze, Hass und emotionale Einpeitschung. (...) Der zunehmenden Verwüstung der Bühne zum Trotz gleitet der Abend fugenlos dahin. Dafür sorgt Jelineks erprobtes Gleitmittel, der Kalauer. Sie hat ihn nicht erfunden, könnte aber ein Copyright darauf anmelden."

Hatte Jelinek angesichts der realen "Schmierenkomödie" überhaupt eine "Chance", fragt auch Bernd Noack in der NZZ - und findet eine deutliche Antwort: "Das Stück ist redundant, weil es mit den spärlichen greifbaren, freilich unfassbaren Tatsachen dauernd in neuen Varianten jongliert; es hängt in einer trotzigen Empörungsschleife fest, aus der Jelinek nicht mehr herausfindet. Und es ist überfrachtet mit wortverliebten Gedanken-Kaskaden, von denen vielleicht gerade einmal die Hälfte mit gutem Willen und Wissen zu begreifen sind." Borgmann modelliert Jelineks "Textreliefs zu feingliedrigen Sprechskulpturen", meint indes Uwe Mattheiss in der taz, während FAZ-Kritiker Martin Lhotzky "skurrilste Unterhaltung" erlebt.

Besprochen werden das Stück "Tratsch im Treppenhaus" am Hamburger Ohnsorg Theater (FAZ), Marco Stormans Inszenierung von Wolfgang Rihms "Jakob Lenz" im Bremer Theater (taz), Friederike Hellers Inszenierung von Ingo Schulzes "Peter Holtz. Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst" am Staatsschauspiel Dresden (nachtkritik) und Claus Helmers Inszenierung von Donald R. Wildes "Wie man fällt, so liebt man" in der Frankfurter Komödie (FR).
Archiv: Bühne