Efeu - Die Kulturrundschau

Schreckliche Götternacht

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20.03.2020. Die New York Review of Books schweift durch frühlingsfrohe Künstlergärten. In der Zeit erklärt Karl-Heinz Ott, warum Hölderlin sich so gut von ganz rechts wie ganz links vereinnahmen ließ. Ein gutes hat die Corona-Krise doch: Sie lässt die Populisten ziemlich nackt aussehen, meint der italienische Schriftsteller Paolo Rumiz im Freitag. Die Jungle World amüsiert sich in der Quarantäne mit den jüdischen Nazijägern der Amazon-Serie "Hunters". Zeit online weint still auf die vollkommen sinnfreie neue Morrissey-CD.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.03.2020 finden Sie hier

Kunst


Charles Mahoney, The Garden, 1950. Foto courtesy of Liss Llewellyn / Phyllis Dodd, Summer Doorway with African Lilies, c.1948, Foto courtesy of Liss Llewellyn

Frühling kommt, der Sperling piept... Bisschen früh vielleicht, aber Jenny Uglow (NYRB) ist schon voll in Stimmung für die Ausstellung "Sanctuary: Artist-Gardeners 1919-1939" im Garden Museum in London: "Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt nicht auf großen Landgütern, sondern auf häuslichen Landschaften und einzelnen Pflanzen, und implizit auf der allegorischen Kraft des Gartens: den Mythen von Eden. Die erwartbaren Namen findet man alle: eine Bleistift-Aquarell-Skizze von Uferschnecken von John Nash; ein Tapetenentwurf von Eric Ravilious; ein witziges Aquarell mit Käfer, Rose und Schmetterling von Edward Bawden; erotische Kupferstiche von Eric Gill, üppige Holzschnitte (und Blöcke) von Clare Leighton und Gertrude Hermes. Der Schwerpunkt liegt jedoch auf weniger bekannten Künstlern, wodurch der Sinn für Gartenarbeit als demokratische Freizeitbeschäftigung verstärkt wird - oder als Arbeit, die von Frauen und Männern, Jungen und Alten, auf dem Land, in der Stadt und in den Vorstädten ausgeübt wird".

Edward Hopper, Cape Cod Morning, 1950. National Museum of  Modern Art, Washington DC
In der SZ überlegt Nicolas Freund, warum ausgerechnet die Bilder von Edward Hopper derzeit so gern in den sozialen Netzen herumgereicht werden und findet schöne Erklärungen bei der Fondation Beyeler, die ihre Hopper-Ausstellung auf Instagram verlegt hat, wo sie Bilder aus der Schau mit kurzen Erklärungen postet: Zu "Cape Cod" etwa schreibe sie (auf Englisch): "Was man nicht sieht, ist genauso wichtig wie das, was man sieht. Denn draußen, das scheinen die Figuren alle zu wissen, da ist das Virus. Schön ist es trotzdem. ... Nicht politische, sondern gesellschaftliche Verhältnisse drängen das Individuum zu diesem Rückzug. Der heimische Innenraum hat in der Moderne immer auch etwas Neurotisches, und man merkt Hoppers Figuren die Spannung an, die auch uns gerade wieder erfasst."

Weitere Artikel: In der NZZ schildert Manfred Clemenz die tragischen Kunstmarkt-Strategien Vincent van Goghs. Ingeborg Ruthe (Berliner Zeitung) besucht online die Robert-Mapplethorpe-Ausstellung in der Berliner Galerie Thomas Schulte. Und auch Christian Schachinger (Standard) streift durch die Museen im Netz. Er empfiehlt insbesondere die Gratis-App "KHM Stories" des Wiener Kunsthistorischen Museums: "Mit einem speziellen Angebot gerade auch für Kinder kann man mit dieser Applikation Touren anhand ausgewählter Exponate durch das Museum machen, die sich etwa mit dem Klimawandel beschäftigen. Die erste Tour nennt sich 'Schnee von gestern?! - Klima, Kunst und Katastrophen' und beinhaltet unter anderem das Bild 'Die Jäger im Schnee' von Pieter Bruegel dem Älteren - und schildert, was mit dem Schnee seitdem passiert ist. Anhand eines Gemäldes des venezianischen Stadtmalers Canaletto aus dem 18. Jahrhundert erfährt man weiters von den Auswüchsen des Massentourismus in der Lagunenstadt, an einer anderen Station, warum der Wundervogel Dodo ausgestorben ist."
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Literatur

In einem ganzseitigen Interview mit der Zeit beschreibt der Schriftsteller Karl-Heinz Ott den Dichter Friedrich Hölderlin, dessen Verehrern er gerade ein Buch gewidmet hat, als anstrengenden Visionär. Dazu trug auch sein ziemlich wirr anmutendes Geschichtsbild bei: "Demnach war am Anfang, bei den alten Griechen, alles herrlich, harmonisch und schön. Dann kam mit dem Christentum die schreckliche Götternacht, die andauert bis heute. Und nun gibt es Hoffnung auf die Wiederkehr der Götter. Dieses Geschichtsdenken kam im 20. Jahrhundert sehr gut an. Die Nazis haben damit die Idee mythischer Größe bewirtschaftet. Sie wollten, auch mit Rückgriff auf Hölderlin, ein ursprüngliches Germanien wiederauferstehen lassen. Auf linker Seite wurde Hölderlin zum Kryptomarxisten stilisiert, der sich zwar unklarer ausdrückt als Marx, dafür aber schöner. Statt an eine herrliche Antike glaubt man dort an den Urkommunismus, den es nach vielen Verwerfungen wiederzugewinnen gilt, in der höheren Form des Kommunismus."

Mehr zum heutigen 250. Geburtstag Hölderlins: Mit ihm begann die literarische Moderne, schreibt Roman Bucheli in der NZZ. Hölderlins lyrische Welt war düster, aber in Frankfurt fand er das Glück, erklärt Peter Michalzik in der FR. Jürgen Berger hat für die taz das restaurierte Geburtsthaus Hölderlins besucht. Für die SZ besucht Alex Rühle Gedenkorte und liest neue Bücher über Hölderlin. Außerdem fragte die SZ Schriftsteller nach Notizen dazu, wie sie heute zu Hölderlin stehen, darunter Dagmara Kraus und Jan Wagner. Der BR hat ein Hörspiel über Hölderlin von Ulrike Haage online gestellt. Wir haben eine Leseliste mit Neuerscheinungen zu Hölderlin in unserem Buchladen Eichendorff21 online gestellt.

"Wie auf einem Schiff" fühlt sich der in Triest lebende Schriftsteller Paolo Rumiz beim Blick von seiner Terrasse auf Meer und Alpen. Im Freitag berichtet er von seiner Klausur, in die er sich angesichts der Corona-Pandemie aus Alters- und Selbstschutzgründen begeben hat. Das Coronavirus lässt die Populisten nackt dastehen, meint er. Aber interessanter als die Nachrichten findet er tatsächlich den Alltag: "Es ist eine persönliche und kollektive Mutation im Gang, an deren Ende wir nicht mehr dieselben sein werden. Ich häute mich, das erkenne ich an den Gedanken, die so schnell sprudeln, dass ich sie fast nicht niederschreiben kann. ... Am Balkon der Wohnung gegenüber singt ein Herr 'La donna è mobile', zum Beweis, dass Italien zusammenhält. Ich plaudere mit einer Freundin am Balkon links. Wir machen uns jeder einen Kaffee. Sie sagt: 'Allmählich denkt man wieder im Sinn des Gemeinwohls, es war höchste Zeit.' Sie hört gern Radio, zu genau festgelegten Zeiten, wie BBC zu Kriegszeiten. Das Fernsehen macht ihr Angst, zu chaotisch. In Augenblicken wie diesen braucht man nur Worte. Klare, eindeutige Worte."

Der Verlauf der Coronakrise deckt sich mit den Recherchen, die Marc Elsberg in seinen Katastrophenthrillern recherchiert hat, erklärt der Autor im Standard-Interview. Er weiß aber auch: Zu hässlichen Ereignissen in der Bevölkerung kommt es erst, wenn die Grundversorgung zur Neige geht. Und "davon sind wir weit entfernt. In betroffeneren Ländern wie China und Italien ist es auch nicht dazu gekommen."

Weiteres: In einem online nachgereichten FAZ-Beitrag berichtet Verena Lueken von ihrer erneuten Lektüre einer Kurzgeschichte von Susan Sontag, die darin den Umgang mit den AIDS-Kranken im New York der 80er reflektierte. Für ZeitOnline schreibt der Schriftsteller Tilman Rammstedt weiter Quarantänetagebuch. Auch das kollektiv geführte Quarantäne-Tagebuch von 54books.de geht weiter. Den zweiten Teil von Thomas Glavinics Corona-Fortsetzungsroman hat die Welt, vielleicht auch aus Rücksicht auf Johannes Franzen, hinter einer Paywall online gestellt. Besprochen werden unter anderem John von Düffels "Der brennende See" (Tagesspiegel), Leif Randts "Allegro Pastell" (online nachgereicht von der FAZ) und Hilary Mantels "Spiegel und Licht" (FAZ).
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Film

In der Jungle World rettet Patrick Viol die Amazon-Serie "Hunters", in der Al Pacino einen jüdischen Nazijäger spielt, vor der mitunter extrem negativen Kritik: Diese "Serie ist keine stilisierte Blutorgie, sondern eine sehenswerte und bemerkenswert kritische Antiheldenerzählung, in der sich spezifische Konflikte und Traumata der Generation nach jener der Überlebenden der Shoah ausdrücken. Also von jenen, die sie zwar nicht erlebten, aber durch ihre Familiengeschichte untrennbar mit ihr verbunden sind. Vor diesem Hintergrund sind die Kritik am Nebeneinander von KZ-Gräuel und Spielshowklamauk beispielsweise nicht moralisch zu bewerten, sondern sollten als Ausdruck dessen begriffen werden, welche zerrüttende Kraft die Präsenz der Vernichtung im Bewusstsein des jugendlichen Protagonisten entwickelt."

Andreas Busche hat für den Tagesspiegel recherchiert, was die momentane Coronakrise für die hiesigen Arthouse-Verleiher und das Kino-Netzwerk, auf das diese angewiesen sind, bedeutet. Insbesondere der Verleih Neue Visionen schaut in die Röhre, der in diesen Tagen mit gleich zwei vielversprechenden Arthouse-Titeln in den Programmkinos vertreten gewesen wäre, einer davon der iranische Film "Die perfekte Kandidatin": "200.000 Euro haben die Lizenzrechte, das Marketing und der Vertrieb gekostet. Das Geld ist nun weg - selbst wenn der Film im Herbst noch einmal in die Kinos käme. Wovon Verleiher Torsten Frehse momentan keineswegs ausgeht. Sollten die Schließungen bis zum Sommer andauern - Baden-Württemberg plant mit dem 15. Juni bisher am weitesten voraus -, suchen etwa 150 Filme einen neuen Starttermin. Doch wohin mit so vielen Filmen in einem ohnehin übersättigten deutschen Markt mit knapp 700 Starts pro Jahr?" In einer großen Reportage aus den USA berichtet Marietta Steinhart für ZeitOnline, wie Hollywood und dessen Stars mit der momentanen Krise umgehen.

Weiteres: Für die New York Review of Books bespricht Jiwei Xiao Diao Yinans chinesischen Noir-Film "The Wild Goose Lake", der in den Straßen Wuhans gedreht wurde und dessen düsterer Ton in dem Kritiker vor dem Eindruck der Ereignisse der letzten Wochen den Schauer leiser Vorahnungen auslöst.  Kinogänger Daniel Kothenschulte sucht für die FR nach Alternativen im Netz, jetzt da die meisten Kinos geschlossen sind. Währenddessen meldet die taz, dass Netflix und Co. in der Schweiz das Internet fast schon überlasten. Das Münchner Dokfest wird digital stattfinden, meldet David Steinitz in der SZ. In den USA hat das Coronavirus für einen kleinen Boom bei Autokinos gesorgt, berichtet die LA Times. 30 Jahre nach dem Welthit "Pretty Woman" fragt sich Nina Jerzy in der NZZ, warum das Hollywoodkino der Gegenwart eigentlich so "erschreckend prüde" geworden ist.

Und: Das von Perlentaucher-Filmkritiker Patrick Holzapfel betriebene Online-Magazin Jugend ohne Film hat eine neue Ausgabe online gestellt, diesmal zum Thema "Regen" - viel Lesestoff fürs Wochenende!
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Bühne

Auch die Passionsspiele in Oberammergau müssen wegen der Corona-Krise verschoben werden - auf den 21. Mai 2022, meldet der Tagesspiegel. Über die Folgen der Krise für die Bühnen und ihre Mitarbeiter unterhält sich Nachtkritikerin Elena Philipp am Telefon mit dem Intendanten des Deutschen Theaters Berlin, Ulrich Khuon.
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Stichwörter: Corona, Coronakrise, Khuon, Ulrich

Musik

Morrissey war mal ein Säulenheiliger der Popkritik, hat sich in den letzten Jahren die Sympathien aber durch Flirts mit dem rechten Rand verscherzt - dabei sind seine Aussagen in diese Richtungen "niemals dezidiert politisch, sondern immer subjektiv kasuistisch, streng individualistisch und auch schlicht wirr", meint Christoph Schröder in seiner ZeitOnline-Besprechung des neuen Morrissey-Albums "I Am Not a Dog on a Chain", dessen Verbrechen eher darin besteht, schlicht uninteressant zu sein: Wenn der Künstler hier "zu belanglosem und ödem Synthiegedudel Lyrics beisteuert, die bestenfalls banal, noch häufiger allerdings vollkommen sinnfrei sind, ist das kein Versagen, dem mit Ideologiekritik beizukommen wäre." Die Synthies hält Karl Fluch im Standard immerhin noch für das Zeichen einer "ästhetischen Neuorientierung", nur inhaltlich sei das alles mal wieder eher unausgegoren.

Schwer betroffen von der Coronakrise sind auch die Plattenläden, die nun geschlossen sind - auch weil sich ein großer Bestand ausliegender Platten nicht ohne weiteres schnell desinfizieren lässt. Für die taz hat sich Lars Fleischmann sich bei Georg Odijk und Frank Dommert vom Kölner Plattenladen A-Musik erkundigt, wie die Lage ist. Immerhin: "Der Mail-Order-Versand läuft weiter; wir haben genug zu tun. Wir machen das weitestgehend als Zwei-Mann-Betrieb; Aushilfen bleiben jetzt zu Hause", andererseits ist "die Nachfrage vergleichsweise schlapp. Dabei fahren DHL und ähnliche Lieferdienste weiter Post aus. Es ist wichtig, dass dies bei den Kund*innen ankommt. Für uns ist Mail-Order generell das zweite Standbein - und dass es da weiterläuft, ist derzeit für unsere Existenz essenziell."

Weiteres: In seiner Standard-Kolumne Unknown Pleasures erinnert Karl Fluch an die Solo-Musik von Money Mark, die er neben seiner Haupttätigkeit den den Beastie Boys produziert hat. Besprochen werden das neue Album von CocoRosie (Tagesspiegel), eine Gundula-Janowitz-Edition (Presse), das Debüt von My Ugly Clementine (Presse) und der erste via United We Stream übertragene Berliner Clubabend aus dem Watergate (Tagesspiegel).

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