Efeu - Die Kulturrundschau

Pandemisches Trostpflaster

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.06.2020. Das Kino ist in der Krise, allen voran die Mega-Multiplexe, schreibt Artechock. Soll man diese gerade mal hundert Jahre alte Kunstform jetzt schon musealisieren, fragt bang Lars Henrik Gass, Leiter der Oberhausener Kurzfilmtage, im Filmdienst. Wer in diesen Zeiten Trost sucht, dem empfiehlt monopol eine Reise zu den Glückskeksen von Félix González-Torres in den Opelvillen in Rüsselsheim. Sehr viel bittereren Trost findet die Filmemacherin Waad al-Kateab: In Syrien hat Corona dem Töten eine Weile Einhalt geboten, erzählt sie in der NZZ. Die Welt blättert durch einen zentnerschweren Band des Architekturhistoriker Richard Nemec zu Nazibauten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.06.2020 finden Sie hier

Film

Schwerpunkt Kinokrise

Die ersten Kinos müssen wegen der Coronakrise dauerhaft die Pforten schließen - dabei trifft es vor allem große Häuser wie den Ufa-Palast in Stuttgart und das (ohnehin seit vielen Jahren angeschlagene) Colosseum in Berlin. Corona hat hier eine seit langem lodernde ökonomische Krise des Geschäftsmodells Blockbuster-Multiplex verschärft, schreibt Dunja Bialas auf Artechock: "Das Problem dieser großen Kinopanzerkreuzer ist, dass sie irrsinnige Kosten produzieren. 750.000 Besucher pro Jahr hätte das Colosseum gebraucht (...) um schwarze Zahlen zu schreiben. 2019 machte wiederum Cinestar Schlagzeilen, als die als Berlinale-Kinos bekannten Säle am Potsdamer Platz schließen mussten. Too big to fail: das gilt heute nicht mehr, die Mega-Multiplexe sind sogar für das Popcorn-Segment eindeutig zu groß." Auch die zaghaften Wiedereröffnungen, die momentan anlaufen, werden auf absehbare Zeit für keinen Geldsegen sorgen, ist sich Wenke Husmann auf ZeitOnline sicher, nachdem sie in einem Hamburger Multiplex den ersten Kinobesuch gewagt hat: "Laut der Saalpläne des Multiplex sollen rund einhundert Personen online Tickets für die acht Vorführräume gekauft haben. Doch das Foyer ist leer, zu hören ist nur das Klicken des Kugelschreibers, mit dem man Name, Anschrift, Telefonnummer auf dem Vordruck "Gästeregistrierung " hinterlässt wie einst in Hotels und jetzt fürs Gesundheitsamt."

Wenn das Kino verloren geht, geht damit auch ein Wahrnehmungsdispositiv und eine kulturelle Praxis mit entsprechenden Folgen für die Gesellschaft verloren, fürchtet Lars Henrik Gass, Leiter der Oberhausener Kurzfilmtage, im großen Filmdienst-Gespräch mit Rüdiger Suchsland: Diese Art der festgesetzten Filmpräsentation in der Öffentlichkeit "verschwindet jetzt, weil sie ökonomisch nicht mehr tragfähig ist." Aber "wie möchte man diese kulturelle Praxis, die erst seit ungefähr 100 Jahren in dieser Zivilisation eine Rolle spielt und eine gewisse Ausprägung erlangt hat, geregelt musealisieren? Möchte man ebenso wie für andere kulturelle Hervorbringungen, etwa Theater oder Oper, bestimmte Orte vorhalten, die auch bestimmte Voraussetzungen haben müssen: urban, technologisch, baulich und so weiter. Oder möchte man das nicht? Wenn man diesen Prozess dem Markt überlässt, dürfte das Kino ziemlich bald der Vergangenheit angehören."

Das Gütesiegel "Cannes 2020", dass das dieses Jahr de facto ausfallende Festival nun an insgesamt 56 Filme vergeben hat (unser Resümee), ist in den Augen von SZ-Kritiker Tobias Kniebe in erster Linie ein "egalitäres pandemisches Trostpflaster". Die Filme werden wohl später im Jahr auf anderen Festivals ihre Weltpremieren feiern. Mit dem Gütesiegel "versucht Cannes, seinen Status als Platzhirsch virtuell zu behaupten." Insbesondere Steve McQueens "Mangrove 9" - ein Film über antirassistische Riots in den 70ern - wäre in Cannes "der Film der Stunde" gewesen, schreibt Hanns-Georg Rodek in der Welt.

===

Für die NZZ hat Alina Wanner mit der heute in London lebenden, syrischen Filmemacherin Waad al-Kateab gesprochen. Aus Syrien, wo zur Drangsal des zermürbenden Krieges auch noch Corona hinzukommt, liefert sie ein galliges Bild: "Bis zum Ausbruch des Coronavirus wurde die Provinz Idlib stark beschossen. Mittlerweile haben sie die Offensive zum Glück gestoppt. Es ist verrückt, die Pandemie ist eine riesige Bedrohung für die Welt, aber bei uns in Syrien unterbrach das Virus das Töten, zumindest für eine Weile. Wir wissen nicht, wie lange es ruhig bleibt. Das Regime und die Russen können jederzeit zurückkehren. Aber im Moment haben die Leute ein bisschen Zeit, um zu leben."

Besprochen wird Alejandro Landes' "Monos", der mit einem flexiblen Starttermin in die Kinos kommt (taz).
Archiv: Film

Literatur

Wer in der Literatur Trost sucht oder darin gar das in den letzten Jahren oft und gern beschworene Allheilmittel gegen Krisen jedweder Art, geht fehl, meint Rainer Moritz in der NZZ: "Getröstet werden möchte ich von Geliebten, Freunden und Verwandten. ... Literatur, die wir auch im Nachhinein als groß und bedeutend empfinden, hat wenig Tröstendes an sich. Sie wühlt uns auf, lässt uns an allem und jedem zweifeln, bringt unsere Anschauung von der Welt ins Wanken und lässt keinen Stein auf dem anderen. Wer - nennen wir ein paar Namen - Kleist, Büchner, Emily Brontë, Schnitzler, Bachmann, Celan, Beckett, Duras, Jelinek oder Handke liest, nimmt auf keinem Ruhekissen Platz und wird nicht mit Trostpflastern versorgt. Mit Affirmation haben Literatur und Kunst nichts zu tun."

Weitere Artikel: Gregor Dotzauer schreibt im Tagesspiegel über die kanadische Dichterin Anne Carson, die am kommenden Sonntag die Berliner Rede zur Poesie halten wird. Matthias Sander von der NZZ hat in Taipeh einen Buchladen ausfindig gemacht, der rund um die Uhr geöffnet hat.

Besprochen werden unter anderem Don Winslows Kurzgeschichtenband "Broken" (SZ), Michael Stavaričs "Fremdes Licht" (Standard), Gunter Reus' "Marcel Reich-Ranicki. Kritik für alle" (Freitag) und die Ausstellung "Thomas Mann: Democracy Will Win!" im Literaturhaus München (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Felix Gonzalez-Torres "Untitled (Fortune Cookie Corner)", 1990, Installationsansicht Opelvillen Rüsselsheim, 2020. Foto: © 2020 Felix Gonzalez-Torres Foundation


Wer derzeit die Opelvillen in Rüsselsheim besucht, wird in einer Ecke der Garderobe einen großen Haufen mit Glückskeksen finden. Das ist Kunst, aber man darf sich gern bedienen, versichert Katharina Cichosch bei monopol. An 1000 Orten haben die Galeristen des an Aids verstorbenen kubanisch-amerikanischen Künstlers Félix González-Torres solche Glückskekshaufen aufschütten lassen, einem Werk des Künstlers von 1990 folgend. Das ist natürlich einerseits cleveres Marketing, so Cichosch, aber es steckt "noch eine bedeutend existenziellere Gewissheit im Geben und Nehmen, das González-Torres in heiterer Manier auch schon für eine Nachwelt, die über sein Künstlerdasein hinausgehen würde, erdachte: Die Aids-Krise prägte seinerzeit das Lebensgefühl einer ganzen Generation, der Künstler selbst verlor seinen Lebensgefährten an die Immunerkrankung, die ihn später selbst dahinraffte. Der Wunsch nach eigener Unsterblichkeit mag immer ein wichtiger Motor fürs Schaffen und Gestalten sein, hier wird er ultra-konkret, und die optimistischsten Botschaften aus dem Keks können das Dilemma nicht auflösen, allenfalls trösten."

Besprochen werden außerdem vier Fotobildbände (Tsp.)
Archiv: Kunst

Bühne

Die nachtkritik streamt heute bis 18 Uhr "Ansichten eines Clowns" nach Heinrich Böll in der Inszenierung von Maxim Didenko fürs Nationaltheater Mannheim. Der komplette Online-Spielplan hier.
Archiv: Bühne

Architektur

Abb. oben: Karlsbad. Wettbewerb 1940. Luis Sichert, Karlsbad, Projekt-Nr. 94. Abb. unten: Stabilimento baleare Lungomare. Strandpromenade und Badeanstalt in Ostia, 1933-1936, Enrico Del Debbio


Dankwart Guratzsch für die Welt liest ein zentnerschweres Werk des Architekturhistoriker Richard Nemec, "Die Ökonomisierung des Raums", der mit viel Bildmaterial zu belegen sucht, dass die Nazis in ihrem Herrschaftsgebiet Architektur und Städtebau als Machtinstrumente einsetzten. Guratzsch hat das nicht überzeugt. Dafür waren die Nazis, allen voran Hitler, viel zu widersprüchlich in ihren Forderungen, mal wollten sie historisierendes, mal modernes, meint er und nennt als Beispiel zerstörte Warschau, das als "Neue deutsche Stadt" wiederaufgebaut werden sollte: "Wenn man dem von Nemec gezeigten Stadtmodell trauen kann, das der Architekt Oskar Dengel 'unter Überschreitung seiner Kompetenzen' anfertigen ließ, sollte es eine streng schematische Neubaustadt in uniformer Reihung der Häuserblocks werden - ein Ordnungsschema, das an die von den Nazis bekämpften 1920er-Jahre-Siedlungen erinnert, nach ihrer Betrachtungsweise also nicht unbedingt als 'germanisch' gelten kann."

Weiteres: Durch den Band "The Essence of Berlin-Tegel" des Fotografen Peter Ortner blätternd, erinnert sich Peter Richter in der SZ noch einmal daran, welch architektonisches Meisterwerk der Tegeler Flughafen war.
Archiv: Architektur

Musik

Run the Jewels haben mal als lustig-adoleszentes Rap-Duo mit Gags aus dem Süden des Körpers angefangen, heute zählen sie mit ihrem Polit-Rap zu den wichtigsten Sprachrohren der schwarzen US-Gegenwart. Gerade haben sie ihr neues Album "RTJ4" veröffentlicht (unser erstes Resümee) und es "ist ein politisches Infernal, das wirken könnte, als sei es eilig auf die aktuellen Unruhen in den USA hingeschrieben", schreibt Quentin Lichtblau in der SZ. "Wer als Künstler die Welt stetig reflektiert, der ist gedanklich eben schon da, wenn sie sich mal wieder im Kreis gedreht hat." Für Tagesspiegel-Kritiker Andreas Busche ist "Pulling the Pin" der zentrale Track des Albums: "Soul-Legende Mavis Staples singt den Refrain 'There is a Grenade in my Heart'. In einer Woche, in der der Präsident unter Tränengasschwaden eine Kirche für einen Presseauftritt okkupiert, klingt diese Zeile unendlich traurig. Oder wie eine Drohung." Auch Pitchfork-Kritiker Sheldon Pearce staunt und preist. Wir hören rein:



Weiteres: In der taz porträtiert Dagmar Leischow die finnische Musikerin Alma, die Pop und Punk gleichermaßen was abgewinnen kann: "Beides mische ich auf meinem Album mit Zement."

Besprochen werden David Yaffes Buch über die Musikerin Joni Mitchell (FAZ) sowie neue Alben von Thundercat (Presse), Sonic Boom (Standard) und Haftbefehl, das laut Standard-Kritikerin Amira Ben Saoud allerdings weitgehend "unspannend" ausfällt: Denn "ab dem Zeitpunkt, an dem man erfolgreich ist und sich seine Zeit damit vertreiben kann, Schmuck zu kaufen (Ice), Vater zu sein (Papa war ein Rolling Stone) oder einfach für immer reich (Für immer reich), ist die Luft raus."
Archiv: Musik