Efeu - Die Kulturrundschau

Die Bombenlegernatur der Kunst

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09.06.2020. Die Nachtkritik fragt, warum die Kultur eigentlich nur noch als Pflegefall in Erscheinung tritt und nicht als Akteur.  Und warum will sie eigentlich systemrelevant sein, fragt die SZ gleich hinterher. In der Berliner Zeitung fordert Ines Geipel etwas mehr historische Expertise vom Literarischen Quartett. In Monopol sprich der Maler Daniel Richter von den Ochsen und Schwalben im Kunstbetrieb. Die taz bedauert den Abzug der Fashion Week von Berlin nach Frankfurt. Berlin und Mode, das passt eh nicht, meint dagegen ZeitOnline.  
9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.06.2020 finden Sie hier

Kunst

Daniel Richter: "Vogeltrost, dahin", 2020. Galerie Thaddaeus Ropac, Salzburg
Auf Monopol führt Daniel Völzke ein sehr tolles Gespräch mit dem Maler Daniel Richter, dessen Bilder gerade in der Galerie Thaddaeus Ropac in Salzburg zu sehen sind. Es geht um die Ehrlichkeit von Vernissagegästen, Fluidität und den Machismo im Kunstbetrieb: "Es ist ein Überbleibsel aus der Romantik, das Heldenbild in Kombination mit dem Happen, der auf dem Tisch liegt. Die Frage ist, aus welcher Position man in der Gesellschaft spricht. Für Malerinnen war die Situation immer eine andere als für Männer. Das ist einfach Fakt. Und sie haben sich als Marginalisierte auch notwendigerweise solidarisiert miteinander. Wenn du der Typ bist mit den dicksten Eiern im Raum und um dich herum stehen nur Männer mit dicken Eiern und dicken Portmonees, die dir die ganze Zeit zu verstehen geben, wie wichtig es ist, ein starker Ochse zu sein, ein furchteinflößendes Vieh, dann ist in solch einem Raum kein Platz für die Solidarität der Schwalben. Die bauen ihre Nester zwangsläufig woanders."

Weiteres: Im Tagesspiegel umreißt Frederik Hanssen die weiteren Berliner Pläne zur Unterstützung von Kunst und Kultur. Für die NZZ unterhält sich Anke Brack mit dem Künstler Franz Erhard Walther über seine Ausstellung im Münchner Haus der Kunst. Besprochen werden die Fotografien des französischen Künstlers Georges Rousse in der Galerie Springer (Tsp).
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Bühne

Was bedeutet es eigentlich für die Kritik, wenn Theater nur noch unter Hygienebedingungen stattfinden kann? Wie soll man eine Inszenierung beurteilen, die nicht frei in der Wahl ihrer künstlerischen Mittel ist? Bei Nachtkritikerin Esther Slevogt haben sich etliche Fragen aufgetürmt, zum Verhältnis von Theater, Kritik und Publikum, die sie bisher aus Solidarität nicht zu stellen wagte: "Zum Beispiel die Frage, warum eigentlich die Kunst statt als Akteurin nur als gigantischer Pflegefall öffentlich in Erscheinung tritt. Und wie erst sollten all die ungelenken Versuche beurteilt werden, mit denen Künstler*innen, Gruppen und Institutionen im Internet um Sichtbarkeit und Kontakt mit dem ausgesperrten Publikum kämpften? Hat das Publikum die Theater überhaupt in der gleichen Weise vermisst, wie die Künstler*innen das Publikum? Wo schließlich blieben die Stimmen, ja Demonstrationen, die eine Wiederaufnahme des Spielbetriebs forderten? War das Theater wirklich so systemrelevant, wie auch an dieser Stelle zu Beginn der Krise geschrieben und auch allgemein immer lauter geschrien worden ist?"

Und wieso wollen KünstlerInnen überhaupt "systemrelevant" sein?, fragt Reinhard Brembeck in der SZ. Wenn es gut läuft, ist die Kunst nicht einmal Teil des Systems, ruft er mit Blick auf Schönberg, Villon oder Schlingensief: "Der anarchistische Schriftsteller, Maler und Filmemacher Herbert Achternbusch, der mit seinem von einem BRD-Innenminister verbotenen Film 'Das Gespenst' ebenfalls ein Opfer der CSU wurde, hat Schönbergs These auf die Spitze getrieben. Für Achternbusch kommt Kunst von Kontern. Also vom Dagegensein, von der Rebellion gegen das System, gegen das Wohlanständige und Erhabene. Alle diese Begriffe passen nicht zur Kunst, denn diese fordert nicht erst seit den Romantikern die absolute Freiheit. Sie gehören vielmehr zur Kultur, die immer alles Erdenkliche tut, um die anarchistisch egomane Bombenlegernatur der Kunst einzupassen ins System der Braven und Anständigen und Systemimmanenten."
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Film

Für die FAZ porträtiert Axel Weidemann den syrischstämmigen Schauspieler Moussa Sullaiman, der mit seiner Rolle als Clanchef Halim Karami einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde.
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Design

Die Fashion Week wird ab Sommer 2021 nicht mehr in Berlin, sondern in Frankfurt stattfinden, wurde gestern gemeldet. Irgendwie schon kein Wunder, kommentiert Carmen Böker im ZeitMagazin: Denn Berlin wollte Modestadt, ein neues Zentrum für "Eleganz und Extravaganz" werden, doch "das Werden war irgendwann das Problem. Denn es wurde kein Sein daraus und zuletzt nur ein Vergehen."

In der taz glaubt Brigitte Werneburg zwar, dass der Weggang der Fashion Week mehr mit dem Schwächeln des Messewesens und der Textilindustrie als mit Berlin zu tun hat, aber um die innovative Plattform Neonyt tut es ihr schon leid: "Das kulturelle Kapital der Hauptstadt schmilzt ab. Denn gleichgültig wie gut die Fashion Week lief, sie war ein Wirtschaftsfaktor. Ihre modebewussten und -interessierten Besucher ließen an zwei Terminen im Januar und im Juli 240 Millionen Euro in der Stadt. Sie werden den neuen und jungen Designern fehlen, die bislang vor allem in Berlin arbeiten und leben. Nicht nur finanziell, sondern auch - und wahrscheinlich sogar ganz besonders - intellektuell. "

Besprochen wird ein Band über den Bauhaus-Designer Hin Bredendieck (taz) und Karl Schlögels Buch "Der Duft der Imperien. Chanel No. 5 und Rotes Moskau" (NZZ).
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Literatur

Die Schriftstellerin Ines Geipel ärgert sich in der Berliner Zeitung darüber, wie unkundig ihrer Meinung nach in der aktuellen Folge des Literarischen Quartetts über Susanne Kerckhoff und deren 1948 verfasste, jetzt wiederveröffentlichte "Berliner Briefe" gesprochen wurde. Zu tun haben könnten die Fehleinschätzung der TV-Runde auch mit der etwas kargen Neu-Edition, die es an wichtigen Hintergrundinformationen mangeln lässt, meint Geipel: "Was bleibt von der Identität eines Werks, wenn die Zeichen seiner Anamnese im Kern auf Amnesie zielen? ... Was ist zu wünschen? 1. Ein Literaturstreit, der die geschassten, kaputt gemachten Autorinnen des Ostens endlich in die geeinte Literaturgeschichte des Landes aufnimmt. Susanne Kerckhoff war nur der Anfang. 2. Der ZDF-Redaktion des hochrenommierten Literarischen Quartetts ein Stück mehr historische Expertise. Bei Kerckhoff hätte schon ein Blick auf die Wikipedia-Seite ein paar Fragen wie die der bereits vorliegenden Editionen vorab geklärt. 3. Für Susanne Kerckhoff sorgsam edierte Neuausgaben, eine gut recherchierte Biografie sowie den Vorschlag, Susanne und Hermann Kerckhoff in Yad Vashem in die Liste der Gerechten unter den Völkern' aufzunehmen."

Paul Ingendaay freut sich in der FAZ über die vom New Yorker aus dem Nachlass Ernest Hemingways veröffentlichte Kurzgeschichte "Pursuit of Happiness": In dieser - wie schon "Der alte Mann und das Meer" - von einem Fischer handelnden Geschichte "ist ein Teil des Zaubers wieder da. ... Hemingways Tierschilderungen gehören zum Besten ihres Genres, weil er selbst da, wo es ihm vor Staunen den Atem verschlägt, nichts davon in die Sprache dringen lässt."

Weiteres: René Hamann resümiert in der taz das Berliner Poesiefestival, das in diesem Jahr online stattgefunden hat und dessen Beiträge gegen einen kleinen Obolus auch weiterhin online stehen. Die Übersetzerin Claudia Ott gibt im FAZ-Gespräch eine Wasserstandsmeldung ihrer Arbeit an "Tausendundeinernacht" - derzeit sind "noch fast sechshundert Nächte offen". Judith von Sternburg erinnert in der FR an Charles Dickens, der heute vor 150 Jahren gestorben ist.

Besprochen werden unter anderem Angie Kims Gerichtsroman "Miracle Creek" (Tagesspiegel), Heinrich Heines "Ich rede von der Cholera. Ein Bericht aus Paris von 1832" (Tagesspiegel), Richard Russos "Jenseits der Empfindungen" (Tagesspiegel), Leonid Zypkins "Ein Sommer in Baden-Baden" (NZZ), Bernd Cailloux' "Der amerikanische Sohn" (SZ) und Amanda Lasker-Berlins Debütroman "Elijas Lied" (FAZ).
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Architektur

Ziemlich unzufrieden ist SZ-Kritiker Gerhard Matzig mit dem Entwurf für Hitlers Geburtshaus in Braunau, mit dem die oberösterreichische Gemeinde endlich eine Nutzung des unglückseligen Hauses möglich machen will. Ihm ist das Konzept von Marte.Marte Architekten zu einfach, zu vergessend. Aber dass aus dem Gebäude ausgerechnet eine Polizeistation werden soll, findet er eigentlich okay: "Ja, die Polizei kann eine Demokratie bejahen und verteidigen. Aber die Polizei kann auch in einem Polizeistaat wirken. Offenbar verband sich mit der Wahl der neuen Mieter die Hoffnung, die Polizei könne an solchem Ort fürderhin effizient unterbinden, dass das Haus doch noch zur Pilgerstätte der Vorgestrigkeit wird. Kann sein. Man wird es sehen."
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Musik

In Dortmund ist es zu einem Konzert vor Publikum gekommen, berichtet Michael Stallknecht in der SZ. Gegeben wurden Werke der litauischen Komponistin Raminta Šerkšnytė, von Haydn und Beethoven. Der Saal war wegen Corona wenig gefüllt, auf der Bühne stand Plexiglas zwischen den Musikern. Den Taktstock geschwungen hat die von einer Corona-Infektion genesene und somit mutmaßlich immune Dirigentin Mirga Gražinytė-Tyla. "Beethovens Vierte dirigiert die Litauerin so zupackend, als wolle sie den Musikbetrieb im Alleingang wieder in Bewegung bringen. In rasanten Tempi schäumt die Musik vor Freude über, mit wuchtigen Schlägen behauptet Beethoven seinen Wiedereinzug in den Konzertsaal. ... Nach einem richtigen Konzert fühlt es sich dennoch noch nicht an, dafür fehlt der festliche Rahmen, das gemeinsame Einschwingen vor dem Konzert, die verdichtete Energie, die von einem vollen Haus ausgeht. Dafür wird zwischen den Sätzen nicht gehustet, was gern auch in den Zeiten nach dem Virus so bleiben darf."

Außerdem: Christina Rietz spricht im Tagesspiegel mit Daniel Stabrawa, der Ersten Geige und Konzertmeister der Berliner Philharmoniker. Besprochen werden das neue Album von Lady Gaga (Freitag, mehr dazu bereits hier), Potsa Lotsa XLs Album "Silk Songs for Space Dogs" (FR) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine von Teodor Currentzis mit Musica Aeterna eingespielte Aufnahme von Beethovens Fünfter ("munter, frisch, sehr nachvollziehbar", lobt SZ-Kritiker Helmut Mauró).
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