Efeu - Die Kulturrundschau

Edel, gut und ein wenig einfältig

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21.08.2020. Die SZ wandert über den neuen Berliner Flughafen und lernt, was Tragik ist. Welt, Zeit und Freitag laufen mit Visar Morinas Film "Exil" die deutsche Via Dolorosa der Debatten über Identität, Heimat, Zugehörigkeit ab. Im Interview mit der Welt ärgert sich Monika Maron über die Art, wie in Coronazeiten über alte Menschen gesprochen wird. Die FAZ wirft einen Blick auf die Musikszene von Belarus. Der Standard vermisst den lauten, unberechenbaren Christoph Schlingensief.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.08.2020 finden Sie hier

Architektur

Der Flughafen Berlin-Brandenburg ist fertig, naja, fast. Peter Richter hat sich für die SZ rumführen lassen und seufzt: "Es wäre ja wirklich schön, wenn sich jetzt wenigstens herausstellte, dass sich das lange Warten gelohnt hat, das viele Geld überraschend gut investiert war. Aber am Ende ist der BER ein 5,9 Milliarden teures Jein aus Glas, Stahl, Muschelkalk und sehr viel französischem Nussbaumfurnier. Denn es kommt entschieden darauf an, von welcher Seite man die Sache sieht. Gerade luftseitig, wie das bei Flughäfen so schön heißt, hat der BER unbestreitbar Momente von Grandiosität." Daneben gibt's auch eindeutig Misslungenes, aber "entmutigender als solche Malheurs, die sich aus dem permanenten Wandel der Ansprüche ergeben, ist tatsächlich das, was exakt so werden durfte, wie die Architekten es wollten, nämlich edel, gut und ein wenig einfältig: Denn so viel antikische Gestik, wie der BER mit seinen endlosen Kolonnaden auffährt, evoziert am Ende schon von sich aus den Begriff der Tragik."

Im Tagesspiegel zeigt sich Bernhard Schulz mäßig beeindruckt. Immerhin: "Die Besucherterrasse hoch oben über den Abflugebenen, zugänglich auf zwei vollverglasten Brücken quer über den Marktplatz. Ein Ort für Menschen, die Flugzeugen einfach so zusehen mögen. Eine kleine Illusionsfläche, um in die sinkende Sonne zu blinzeln und Flugzeuge am Himmel zu zählen. Ganz zweckfrei."

Weiteres: In der Münchner Innenstadt soll eine zweite Synagoge gebaut werden. Entworfen hat sie Daniel Libeskind, berichtet Johanna Schmeller in der taz.
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Bühne

Szene aus "Everywoman". Foto: SF / Armin Smailovic


Bei den Salzburger Festspielen hatte "Everywoman" Premiere, eine Art Neufassung des "Jedermann" von Regisseur Milo Rau und der Schauspielerin Ursina Lardi. Ihre Jederfrau haben die beiden in der todkranken Helga Bedau gefunden, erzählt nachtkritiker Reinhard Kriechbaum, der gerührt ist, aber, versichert er schnell, auf die Tränendrüsen werde nicht gedrückt. "Es hätte auch ein Jedermann sein können, denn um einen feministischen Zugang geht es hier ganz und gar nicht. 71 ist die Dame erst, aber das medizinische Urteil über sie ist gesprochen. Bauchspeicheldrüsenkrebs, inoperabel. Da ist's also bitterernst mit dem Ende. Auf Video wird Helga Bedau zugespielt. Zuerst in einem die Hofmannsthal'sche Jedermann-Tischgesellschaft direkt zitierenden Setting, dann allein. Mutterseelenallein. Zwischen Ursina Lardi auf der Bühne und der Dame on screen entwickelt sich ein leises Zwiegespräch. Wie ist das für sie, sich jetzt in einem Theaterstück wieder zu finden, fragt Lardi. 'Seltsam', sagt Frau Bedau. 'Vor allen Dingen, weil ich nicht weiß, ob ich bei der Premiere noch da sein werde'. Aufatmen beim Schlussapplaus. Sie ist noch da und sie war da, verneigte sich wie alle mit Mund-Nasen-Schutz".

In der FAZ ist Martin Lhotzky nach der Vorstellung fast versöhnt mit dem Tod: "Dann wieder schauen wir der älteren Dame beim Träumen zu, während Ursina Lardi dem Publikum diese Träume schildert oder mit dem Publikum spricht. Stets in neutralem, angenehmem Tonfall, nie sentimental, selbst wenn das Geschilderte Emotionen zu wecken vermag. Zwei-, dreimal ruft sie ein 'Hallo!' in den Raum, und fast möchte man als Echo antworten. Aber niemand wagt das am Premierenabend. Sie lässt auch an ihren (und Raus) Gedanken zum Theater an sich teilhaben." Standard-Kritiker Stephan Hilpold ist dagegen überhaupt nicht beeindruckt: "Ähnlich wie bei Peer Gynts Zwiebel dringt man in Salzburg aber weder bei der Frage nach dem Tod noch bei der nach dem idealen Theater zu einem Kern vor. Im Inneren sind die gestellten Fragen hohl." In der SZ schreibt Egbert Tholl.

Christoph Schlingensief 2009 in Wien. Foto: Manfred Werner - Tsui - Eigenes Werk (Wikipedia, CC BY-SA 3.0)


Im Standard vermisst Margarete Affenzeller den vor zehn Jahren gestorbenen Christoph Schlingensief und seine "unberechenbaren Erschütterungen": "Es klafft eine Leerstelle dort, wo auf offener Straße, im Theater oder am Theatervorplatz ins Megafon geplärrt gehörte, wo lauthals von vielen widersprochen und sich dabei selbst aufs Spiel gesetzt gehörte."

Außerdem: In der NZZ schreibt Daniele Muscionico über die Schlingensief-Doku "Schlingensief - In das Schweigen hineinschreien", in der nachtkritik schreibt Andreas Wilink, in der SZ schreibt Juliane Liebert. Ebenfalls in der SZ schreibt ein sich prächtig amüsierender Peter Laudenbach über den Schlingensief-Interviewband (im Standard kann man einen Auszug lesen). Und daneben gibt es kurze Erinnerungen von SZ-Redakteuren an Schlingensief.

Weiteres: Im Interview mit der Berliner Zeitung erzählt Festivalchefin Virve Sutinen, was uns bei der Special Edition von "Tanz im August" (das eigentliche Festival ist wegen Corona ausgefallen) erwartet, und wie es überhaupt für den Tanz weitergehen kann.
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Film

Midlife-Crisis oder doch Rassismus? Mišel Matičević in Visar Morinas "Exil"

In Visar Morinas "Exil" durchlebt der aus dem Kosovo nach Deutschland eingewanderte Pharmaingenieur Xhafer (Mišel Matičević) eine Identitätskrise: Wird er von Kollegen ausgegrenzt und gemobbt? Einen Film "über die deutsche Via Dolorosa der Debatten über Identität, Heimat, Zugehörigkeit, durch die ganze spätkapitalistische Diskurslandschaft" hat Welt-Kritiker Elmar Krekeler gesehen. Und zumindest auf den ersten Blick ist der auch stimmig erzählt, meint Matthias Dell auf ZeitOnline: "Symbole und die Irritationen scheinen jenes klamme Gefühl von Fremdartigkeit zu erzeugen, mit dem die Betrachterin Xhafer lange Zeit durch diesen Film zu folgen bereit ist. Tatsächlich liegt hier aber das Problem des Films, weil der sich nicht entscheiden kann, welche Geschichte er erzählen will." Der Film verlaufe sich "irgendwann in die Luftigkeit des Kunstwollens, was die Mehrdeutigkeit des Titels schon illustriert. Die tief sitzende, aber schwer verständliche Abneigung des deutschen Kinos gegen Plot und Genre baut die Wahrnehmung von Xhafer zu einer atmosphärisch dominierten Midlife-Crisis um, bei der es am Ende egal ist, woher die Irritationen und Symbole nun kamen." Freitag-Kritikerin Julia Hertäg fühlt "sich erdrückt von der Ausweglosigkeit dieser Gefühlslage."

Weitere Artikel: Auf ZeitOnline deutet Selmar Schülein, angeregt von einem aktuellen Interview mit der Regisseurin Lilly Wachowski, die "Matrix"-Trilogie als verklausulierte Transgender-Erzählung. Madeleine Bernstorff erinnert im Tagesspiegel an die Filmkritikerin Frieda Grafe, die vor 20 Jahren gestorben ist. Im Dlf Kultur berichtet Arnd Peltner vom online stattfindenden San Franciso Pornfestival.

Besprochen werden Aritz Morenos Komödie "Die obskuren Geschichten eines Zugreisenden" (Tagesspiegel), Connie Walthers "Die Rüden" (Berliner Zeitung), Jan Komasas "Corpus Christi" (Presse) und die deutsche Netflix-Serie "Biohackers" (FAZ, Welt).
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Kunst

Besprochen werden die Ausstellungen "Earthseed" und "Sammlung" in den Zweigstellen des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt (FR) sowie die Ausstellung "Barlach Reloaded" im Ernst-Barlach-Museum in Ratzeburg (taz).
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Literatur

Für die Welt hat Hendryk M. Broder Monika Maron auf ihrem Landsitz in Mecklenburg-Vorpommern besucht, um über das Alter und das Altern zu sprechen. Schlimmer als Corona, erzählt die Schriftstellerin, fand sie den Diskurs um Alte, der sich darum gelegt hat: "Ich habe mich noch nie so alt gefühlt wie während der Zeit, als die über mich gesprochen haben, als wäre ich ein Schrotthaufen, der wegmuss." Dabei ist "Alter etwas Flexibles, nichts Eindeutiges. Und da wurde über Leute ab 65 gesprochen, als wäre es egal, ob die überleben. ... Dann dachte ich: Man darf heute 60 Geschlechter haben, kann sich eines aussuchen", doch "das Alter ist viel differenzierter und weniger eindeutig als das Geschlecht." Heute stellt auch Volker Weidermann auf Spiegel online seine neue Büchersendung "Spitzentitel" vor, in der er ebenfalls Monika Maron interviewt.

Schriftsteller Durs Grünbein sendet in der FAZ Impressionen und politische Gedanken aus dem aus dem Corona-Schlaf erwachenden Italien: "Roma aperta, Gelächter am Abend auf der Piazza in Monti, der angesagte Eisladen ist umlagert wie nie. Was fehlt, sind die Touristenmassen zwischen Colosseum und Piazza del Popolo, kein Massenandrang am Trevi-Brunnen."

Weitere Artikel: In den Actionszenen der Weltliteratur erinnert Cosima Lutz daran, wie konsequent Jean Paul auf Action im Bett verzichtet hat. Besprochen werden unter anderem Lisa Eckharts "Omama" (online nachgereicht von der FAZ), Deniz Ohdes "Streulicht" (ZeitOnline), Marco Balzanos "Ich bleibe hier" (SZ) sowie Julian Volojs und Søren Mosdals Comicbiografie "Basquiat" (Tagesspiegel).
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Musik

Für die FAZ wirft Artur Weigandt einen Blick in die Musikszene von Belarus, die die dortigen Proteste musikalisch begleitet. Eine Identität stiftende Figur ist etwa der 54-jährige Rockmusiker Ljawon Wolski, auf den Straßen erklingen derweil die Stücke der Punkband Brutto, die das mittelalte Publikum begeistert, während der Rapper Max Korsch die junge Generation mit ins Boot holt. "Rap und Rock haben früh Ausdrucksformen für das Identitätsgefühl vieler Belarussen gefunden. In beiden Musikrichtungen werden Probleme wie Perspektivlosigkeit, Orientierungslosigkeit und Korruption angeprangert. Max Korsch, der Stadien mit Fans füllen kann, inszeniert sich als romantischer Held. Auf Youtube gilt er als Jugendbotschafter von Minsk. Er schildert in russischer Sprache Alltagsprobleme, malt aber zugleich in seiner Musik ein liebevolles Bild der Stadt. Sein Rap klingt, als säße ein Krimineller freundschaftlich mit Gästen am Tisch und erzählte ihnen bei Wodka, Kartoffeln und sauren Gurken von den Vorstädten und der Kleinkriminalität in Belarus." Wir hören rein:



Weitere Artikel: Marco Frei berichtet in der NZZ vom Festival in Davos, das im Coronajahr im Hinblick auf Größe der Klangkörper und deren Prominenz auf Verschlankung setzte und damit auch einige Entdeckungen möglich machte. Dirk von Lotzow und Jan Müller plaudern in der Berliner Zeitung über das "Greatest Hits"-Album ihrer Band Tocotronic. Wolfgang Schreiber schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Pianisten Josef Bulva. Für die FAZ versenkt sich Stefan Rebenich in Paul Gerhardts "Sommer-Gesang", der den "Garten als Abbild des Paradieses beschreibt, in dem die göttliche Ökonomie das diesseitige Chaos besiegt."

Besprochen werden neue Alben von Sneaks (taz) und Burna Boy (Presse) sowie ein Salzburger Liederabend mit Benjamin Bernheim (SZ, FAZ).
Archiv: Musik