Efeu - Die Kulturrundschau

Auf die Melodielinie kommt es an

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29.10.2020. Der Jazzmusiker Till Brönner fragt in einem Video wütend: Warum hat die Kulturbranche keinen Gewerkschafts-Boss wie Claus Weselsky, der der Politik im Nacken sitzt. "Wenn man Kitas und Schulen offen halten will, warum dann nicht auch die Theater?", fragt Barbara Mundel von den Münchner Kammerspielen in der SZ. In Belarus wurde der Dichter Dmitri Strozew verhaftet, berichtet die FAZ, und es war nicht das erste Mal! Der Guardian besucht eine Ausstellung über "Turner's Modern World", die schon die ganze Geschichte der Luftverschmutzung erzählt. Die FAZ fragt, ob Cancel Culture nicht mitverantwortlich ist für die jüngsten Anschläge auf Kunstwerke.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.10.2020 finden Sie hier

Kunst

Joseph Mallord William Turner, Rain, Steam and Speed. © The National Gallery, London

Die Luftverschmutzung zu Beginn der industriellen Revolution hielt kein Maler so exakt und spektakulär fest wie William Turner, erkennt Guardian-Kritikerin Anna Souter in der Tate Britain, die ihr in der Ausstellung "Turner's Modern World" die Geschichte der Luftverschmutzung in der Kunst bis heute - und deren veränderte Wahrnehmung erzählt: "Die amerikanische Künstlerin Andrea Polli arbeitet daran, Wege zu finden, um Luftverschmutzung für ein Publikum sichtbar zu machen, dem es sonst schwer fällt, mit Daten umzugehen. In verschiedenen US-Städten wurden 'Particle Falls' installiert, projizierte Wasserfälle aus Licht, die die Luftqualität darstellen. Die Arbeit wird von einem Nephelometer gesteuert, das mit einem Lichtstrahl die Konzentration von Feinstaub misst. Hohe Schadstoffgehalte führen dazu, dass ein blauer Pixelstrom mit gelben und roten Warnblitzen unterbrochen wird. Aufgrund seiner Echtzeitempfindlichkeit verwandelt sich der Wasserfall in ein tobendes Inferno, das die Aufmerksamkeit auf die schlimmsten Umweltverschmutzer lenkt und zeigt, wie sich die Luftqualität von Moment zu Moment ändert."

Nach dem Angriff mit Pflanzenöl auf der Museumsinsel müssen fünfzig Kunstwerke restauriert werden, meldet Alexander Fröhlich im Tagesspiegel: "Die Stiftung selbst sprach vom umfangreichsten Schaden, der nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Museumsinsel angerichtet worden sei." In der FAZ fragt sich Stefan Trinks, ob solche Anschläge nicht auch dem Klima geschuldet sind, dass die Cancel Culture geschaffen hat. Als Beispiel nennt er etwa eine Ausstellung der Kunsthalle Hamburg, die Hans Makarts Monumentalgemälde "Der Einzug Karls V. in Antwerpen", das auch fünf halbnackte Frauen zeigt, nach aufwändiger Restauration mit den Fragen: "Finden Sie das Gemälde provokativ? Finden Sie es sexistisch?" versehen hat. "Wenn ein Museum, das sich wie alle solchen Häuser der Trias 'Sammeln, Bewahren, Erforschen' verpflichtet hat, bald anderthalb Jahrhunderte später mit diesen populistischen Infragestellungen nicht nur hinter das damalige Anspruchsniveau einer künstlerischen Freiheit zurückfällt, sondern auch das 'Bewahren' suspendiert, indem es seinen eigenen Bildbestand der Lächerlichkeit preisgibt - welches gute Kunstwerk wäre denn nicht 'provokativ'? - und zu wohlfeiler Kritik geradezu auffordert, sollte es eigentlich seine Pforten schließen. Seinen Auftrag hat es allemal verwirkt. Ein solches Museum darf sich auch nicht wundern, wenn derart inkriminierte Bilder Ziel von Anschlägen werden".

Weitere Artikel: Die Welt hat ihre heutige Ausgabe von Katharina Grosse gestalten lassen. Im Skype-Gespräch mit Boris Pofalla erklärt die Künstlerin, weshalb sie die physische Zeitung der digitalen vorzieht: "Der körperliche Umgang mit dem Printmedium ist mittlerweile auch eine Besonderheit, weil wir doch das meiste über den Bildschirm aufnehmen, der homogen ist und auf dem sich alles auf einer glatten Oberfläche hin und her zu schieben scheint, wohingegen die Zeitung eine Verbindung mit dem Körper eingeht." In der taz hakt Tilman Baumgärtel bei der neuen Künstlerischen Leiterin der Transmediale, Nora Murchú nach, was sie für das Festival plant. Weil Maximilian Probst in der Zeit nicht selbst zur Berner Ausstellung "No Dandy, No Fun" reisen kann, macht er sich Gedanken zum Nutzen des Dandys.

Besprochen werden der Fotoband "Divided We Stand" (taz), die Ausstellung "No Dandy, No Fun" in der Kunsthalle Bern (Zeit) und die Ausstellung "Matisse, comme un roman" im Pariser Centre Pompidou (FAZ).
Archiv: Kunst

Musik

Der Jazzmusiker Till Brönner hat seiner Wut über die schlechte Behandlung von Künstlern in der Coronakrise mit einem zornigen Video Luft gemacht, berichtet Andrian Kreye in der SZ. "Besonders ärgere ihn, wie reflexartig in systemrelevante und -irrelevante Berufe unterteilt werde. 'Es geht hier nicht um Selbstverwirklicher, die in ihrer Eitelkeit gekränkt sind. Es geht um Geld.' Die Krise habe eine Strukturschwäche entlarvt: 'Wir in der Veranstaltungs- und Kulturbranche sind noch immer zu leise, weil wir keine ernst zu nehmende Gewerkschaft haben. Und das rächt sich jetzt! Wer ist es, der der Politik stellvertretend im Nacken sitzt, wie der Lokführergewerkschafts-Boss Claus Weselsky der Deutschen Bahn - und das mit nur 9000 Mitgliedern.'"

Hier Brönner:



Im Standard stellt uns Ronald Pohl "Surrender to the Rhythm" vor, eine Compilation mit "Pub Rock", der eine Art Vorläufer des Punk in den frühen Siebzigern war: "Die Musik dieser betont nachlässig gekleideten 'Working Poor' stach radikal ab vom Feenzirkus, der damals in den Konzertsälen des Vereinigten Königreichs sein Unwesen trieb. ... Damals war Großbritannien schließlich ein Hort der Industriearbeit! Pub-Rock-Platten, die noch Ende der 1970er auf Chiswick Records herauskamen, wurden manches Mal sogar durch Striptänzerinnen beworben. Politische Korrektheit gehörte unbedingt zum Inventar des Klassenfeindes; so wie auch der sogenannte gute Geschmack. Dafür besannen sich viele Rockbands der Music-Hall-Tradition: Auf die Melodielinie kommt es an, auch dann, wenn man, auf dem Spannteppich neben dem Messingaschenbecher kniend, nach der Shillingmünze sucht! Der Rest sind Groove-Monster, laidback gespielt, und Pilzköpfe, die man mit Cowboyhüten tarnt."

Hier ein Beispiel: Die Kursaal Flyers mit "Orginal Model":



Besprochen wird Carla Brunis neues Album (FAZ).
Archiv: Musik

Film

Das Antifa-Drama "Und morgen die ganze Welt" von Julia von Heinz geht für Deutschland in das Rennen um die Oscars, meldet der Tagesspiegel: "In einer Zeit, in der die Demokratie zunehmend unter Druck komme, gehe die Regisseurin der Frage nach, ob Gewalt gerechtfertigt oder überhaupt notwendig sei, begründete die Jury ihre Entscheidung."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel porträtiert Silvia Hallensleben die Berliner Schnittmeisterin Karin Schöning, die gerade beim Kölner Filmfestival für ihr Lebenswerk ausgezeichnet wurde. Auch die 62. Nordischen Filmtage finden nur online statt, meldet die taz. Ebenso das 34. Filmfestival in Braunschweig, mit dessen Direktor Andreas Lewin sich Wilfried Hippen für die taz unterhält. Und im Interview mit der Berliner Zeitung denkt der Schauspieler Gerard Butler über die Realitätsnähe von Weltuntergangsfilmen nach.

Besprochen werden Julia von Heinz' Drama "Und morgen die ganze Welt" (Zeit, Berliner Zeitung, taz), der ARD-Thriller "Exit" (Berliner Zeitung, welt), Michael Venus' Horrorfilm "Schlaf" (FR, Berliner Zeitung), der Dokumentarfilm "Eine Frage der Haltung" von Felix und Miriam Remter über das Bienensterben (Berliner Zeitung), Till Kleinerts Sky-Horrorserie "Hausen" (taz), "Schwesterlein" von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond (SZ), Nebojša Slijepčevićs Dokumentarfilm "Srbenka" (taz) und Milorad Krstics Animationsfilm "Ruben Brandt" (taz, SZ).
Archiv: Film
Stichwörter: Horrorfilm, ARD, Antifa

Literatur

Unter den Zehntausenden, die inzwischen in Belarus verhaftet wurden, ist seit Mittwoch auch der Dichter Dmitri Strozew, berichten Yaraslava Ananka und Heinrich Kirschbaum in der FAZ. Er wurde offenbar von der Straße weg in das berüchtigte Untersuchungsgefängnis Okrestino verschleppt. "Hier wurden auch schon früher Menschen misshandelt, nach Protesten gegen Wahlfälschungen 2006 und 2010. Viele, die heute protestieren, wissen das nicht. Doch Strozew schrieb schon 2006 ein schmerzerfülltes Gedicht, die 'Flickenode', über die damaligen Proteste - seinerzeit ging eine Minderheit auf die Straße, der es zu verdanken ist, dass heute eine Mehrheit demonstriert. Dieses Gedicht beschwört eine Topographie des Ungehorsams: Minsker Plätze und Straßen, auf denen sich die Unruhen abspielten; auch Okrestino taucht auf. 2006 gingen die Spezialeinheiten ebenfalls grausam gegen die Demonstranten vor. Deren Zeltlager auf dem Oktoberplatz wurde in Fetzen - in Flicken - gerissen, die Festgenommenen in Okrestino eingesperrt. Es waren fünfhundert Menschen: renitente Oppositionelle, die man nicht leicht brechen konnte, aber auch schüchterne tapfere Studenten, deren Gewissen ihnen nicht erlaubte, zu Hause zu bleiben. Die Menschen gingen auf die Plätze wie Opferlämmer zur Schlachtbank. Sie konnten nicht anders."

Es gibt einen neuen Lucky-Luke-Comic, der kurz nach dem amerikanischen Bürgerkrieg spielt, und er ist beides, versichert ein begeisterter Martin Zips in der SZ: witzig und politisch korrekt. "Die ehemaligen Sklaven sind mal devot gebeugte, mal selbstbewusste und laute und ebenso wie alle anderen Charaktere comichaft überzeichnete, aber in jedem Fall sympathische Männer, Frauen und Kinder." Und Standard-Kritiker Michael Wurmitzer lobt: "'Fackeln im Baumwollfeld' ist ein Basiskurs in Südstaatenrassismus. Wer aktuelle diskursive Graphic Novels kennt, wird davon nicht zu beeindruckt sein. Aber es kann nie genug Gute auf der Welt geben."

Weitere Artikel: In der taz gratuliert Stephan Wackwitz dem Verbrecher Verlag zum 25. Geburtstag. Alex Rühle besucht für die SZ in Schwabing die Übersetzerin Elisabeth Edl und unterhält sich mit ihr über ihre viel gelobte neue Übersetzung von Flauberts "Éducation sentimentale". Ebenfalls in der SZ würdigt Lothar Müller Maria Dessauer, die lange Zeit als maßgebliche Flaubert-Übersetzerin in Deutschland galt. Heute muss Müller beim Melderegister der Stadt Frankfurt nachfragen, ob sie noch lebt (sie lebt!).

Besprochen werden u.a. Emma Beckers Bordell-Roman "La Maison" (Tsp) und zwei Bücher über Anna Seghers: Monika Melcherts "Im Schutz von Ader und Schlange. Anna Seghers im mexikanischen Exil" und Volker Weidermanns "Brennendes Licht. Anna Seghers in Mexiko" (Berliner Zeitung). Zeit und SZ bringen heute ein Krimibeilage. In der Zeit unterhält sich Tobias Gohlis mit dem koreanischen Krimi-Autor Un-Su Kim über dessen Leben und Werk.
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Bühne

"Wenn man Kitas und Schulen offen halten will, warum dann nicht auch die Theater?", fragt Barbara Mundel, Intendantin der Münchner Kammerspiele im SZ-Gespräch mit Christiane Lutz, das offenbar noch vor dem Beschluss eines zweiten Lockdowns für Theater geführt wurde. Schon den Erlass, nur noch 50 Zuschauer ins Theater zu lassen, hält sie für "komplette Willkür": "Ich hielt und halte es trotz allem für wichtig, dass wir in einer Demokratie Regeln verhandeln und einen neuen Umgang mit der Pandemie erlernen. Auch angesichts eines Lockdowns. Lernen und verhandeln kann man aber nicht, wenn mit Verboten und Willkür durchregiert wird. Das höhlt auf Dauer Demokratie und die offene Gesellschaft aus, die wir doch sein wollen. Krise kann als Gefühl kein Dauerzustand sein. (…) Ich bin der Überzeugung, dass gerade jetzt diese Räume wichtig sind, um etwas anderes zu erfahren als soziale Distanz und Angst."

Die neue musikzeitung veröffentlicht einen Offenen Brief der Theaterleitung des Staatstheaters Mainz, die gegen die Schließung der Theater protestiert: "Statt die wenigen gefahrlosen offenen Orte als Chance zu begreifen und den Menschen in einer Zeit der Ein- schränkungen, Sorgen und Fragen hier die Möglichkeit zu geben, sich nicht nur als Virenschleudern, sondern im Austausch miteinander als denkende und handelnde Individuen zu erleben, werden Theater grundlos verriegelt. Wird Kultur verhindert."

"Bildet Banden" über Genregrenzen hinweg, ruft Nachtkritiker Georg Kasch, der zwar nicht versteht, warum Theater nicht als Bildung gelten, den Lockdown aber zähneknirschend hinnimmt: "Es geht der Kanzlerin und den Länderchef*innen offensichtlich darum, es einmal richtig laut knallen zu lassen, damit auch der und die Letzte kapiert, dass der Sommer mit seinen Freiheiten vorbei ist. Die Theater sind da nur eines von mehreren Bauernopfern. Gerade weil sich die Theater und Künstler*innen schon im ersten Lockdown bedacht und solidarisch zeigten, haben sie nun alles Recht, für ihre Bestandssicherung zu kämpfen - und sich Ausfälle ersetzen zu lassen. Ein angemessener finanzieller Ausgleich, eine Art Grundeinkommen für alle Freien mit Verdienstausfall, auch eine Bestandsgarantie für die Kultur - drunter sollte dieser erneute Verzicht nicht zu haben sein."

Während Mundel im SZ-Gespräch ebenfalls laut nach mehr Subventionen für deutsche Theater ruft, können Englands Theater von "Zuschüssen nur träumen", weiß Alexander Menden in der SZ: "In Deutschland ist, je nach Auslastung, jede Theaterkarte mit bis weit mehr als hundert Euro bezuschusst." An vielen britischen Theatern hingegen "hat es längst massive Kündigungen gegeben - im Royal Exchange in Manchester verloren alle Platzanweiser und Barangestellten ihre Stelle, im Theater in Sheffield gab es in der ersten Runde 25 Entlassungen. Es ist klar, dass die britische Theaterlandschaft auf einen Kahlschlag zusteuert, sollten nicht bald wieder Zuschauer in ausreichender Zahl hereingelassen werden können."

Besprochen werden Charlotte Sprengers Inszenierung "Hitchcock im Pyjama" am Theater Basel (nachtkritik), Silvia Andringas Stück "Kind gesucht" am Theaterhaus Frankfurt (FR) und David Hermanns Inszenierung von Gustav Mahlers "Lied von der Erde" an der Stuttgarter Oper (FR).
Archiv: Bühne