Efeu - Die Kulturrundschau

Eine aufrichtige und absolute Offenbarung

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30.11.2020. Coop Himmelb(l)au will Wladimir Putin einen Kulturtempel auf der Krim errrichten. Könnte gut sein, dass das Architekturbüro damit nicht nur gegen den Anstand, sondern auch gegen die internationalen Sanktionen verstößt, meint die SZ. In der FAS verteidigt Michel Houellebecq das Recht auf religiösen Angriff und Absturz. Im Münchner Schlachthofviertel besichtigt die taz schon mal die Fundamente des neuen Volkstheaters. Und von artechock bis ZeitOnline sind alle begeistert von Dominik Grafs Jubiläumstatort "In der Familie".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.11.2020 finden Sie hier

Architektur

Der Architekt Wolfgang Prix will mit seinem Büro Coop Himmelb(l)au nicht nur im sibirischen Kemerowo ein Kulturzentrum errichten, sondern auch eines in Swastopol - auf der völkerrechtswidrig annektierten Krim. Einwände dagegen wischt Prix, wie Gerd Matzig in der SZ berichtet, als "Unsinn" oder "Doppelmoral von Kritikern" vom Tisch. Dabei kann sich Matzig durchaus Architekten vorstellen, die einen solchen Auftrag abgelehnt hätten. Aber mit Blick etwa auf die BMW-Welt findet er die Verbindung Putin und Prix ganz passend: "Diese Bauten sind große Architekturen, aber auch Solitäre, Spektakel und stadträumliche Poser. Wie geschaffen für das Instagram-Zeitalter. Prix wäre früher jemand gewesen, der sich Pyramiden, gotische Kathedralen oder Renaissanceschlösser ausdenkt. Es gehört zum Mechanismus, dass seine Bauten sowohl das eigene Markenbewusstsein ausdrücken wie vom Ruhm der jeweiligen Bauherrn künden." Auf seiner Homepage hält Coop Himmelb(l)au mit dem Projekt in Sewastopol allerdings hinterm Berg, nur das in Kemerowo wird angepreisen.

Vor allem könnte Coop Himmelb(l)au gegen die Sanktionen verstoßen, die immerhin noch gegen die Krim intakt sind, ergänzt Cathrin Kahlweit in der SZ. Prix sieht da kein Problem: "Das Wort 'Kultur', zitieren ihn österreichische Medien, komme in den Sanktionen gar nicht vor, Kulturbauten seien ohnehin ausgenommen. Kritiker des Projekts betrachten diese Haltung als naiv und die Bereitschaft, auf der Krim zu bauen, als Bruch des Völkerrechts."
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Literatur

Die FAS brachte gestern als Buchauszug aus einem kommenden Essayband ein Gespräch mit Michel Houellebecq über Glaubensfragen. Der französische Schriftsteller gibt sich gewohnt verschlufft und antriebslos: Er ist gläubig auf Zeit. In der Messe "habe ich jedes Mal eine aufrichtige und absolute Offenbarung. Aber sobald ich draußen bin, fällt es wieder von mir ab. Es ist ein bisschen wie bei einer Droge: Es gibt immer einen Absturz." Und im übrigen ist er nun wirklich kaum noch gewillt, sich gegen Islamophobie-Vorwürfe zu verteidigen: "Das muss Teil der Meinungen sein, die man äußern darf... Punktum. Man hat das Recht, eine Religion anzugreifen. Also ja, ich fühle mich ungewollt zur Verteidigung der Redefreiheit gezwungen."

Ziemlich böse spießt Maxim Biller in der SZ seine Kollegen und Zeitgenossen für deren Reaktionen auf die Corona-Pandemie auf: Schon bei einem kleinen bisschen Verordnung von oben entdecken die "gebildeten Kinder des goldenen westdeutschen Zeitalters" nun "auf einmal den Dissidenten in sich". "Wo war eigentlich ihr todesmutiger und pathetischer Anti-Virologen-Furor, wo war ihr kritischer, widerständiger Geist, als sich Genosse Putin in die Bundestagscomputer reinhackte, als zum tausendsten Mal rauskam, dass von der Türkei ausgebildete und bezahlte Imame nach guter alter Muslimbrüder-Art deutsch-türkischen Kindern die Gehirne auswaschen, als mal wieder Botho Strauß, der geistige Vater der Neuesten Rechten und tourettehafter Massenmedienverächter, in einem Massenmedium seine undemokratischen und zum Glück ziemlich unverständlichen Back-to-the-Past-Fantasien publizierte?"

Weitere Artikel: Für die taz liest sich Christopher Suss durch die 12.000 Seiten Tagebuch, die der Mäzen und Publizist Harry Graf Kessler hinterlassen hat. Willi Winkler wirft für die SZ einen Blick auf den kürzlich von Marbach erworbenen Brief Franz Kafkas an Max Brod. Die FAZ dokumentiert Alfred Brendels Vortrag über Goethes Versuch an einer Tonlehre.

Besprochen werden unter anderem Pilar Quintanas "Hündin" (taz), Tarjei Vesaas' "Die Vögel" (ZeitOnline), die Werkausgabe Thomas Kling (Tagesspiegel), Diane Obomsawins Comic "Ich begehre Frauen" (Jungle World), Ayad Akhtars "Homeland Elegien" (NZZ), Iwan Bunins Erzählungsband "Leichter Atem" (NZZ), die Anthologie "Sie wollen uns erzählen" mit Comicadaptionen von Tocotronic-Songs (Freitag), Hubert Mingarellis "Ein Wintermahl" (NZZ), Isabella Hammads "Der Fremde aus Paris" (Berliner Zeitung), Zsuzsa Bánks "Sterben im Sommer" (Berliner Zeitung) und Lydia Davis' Band "Es ist, wie's ist" mit frühen Kurzgeschichten (SZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Alexander Košenina über Jan Wagners "sarajewo":

"der zehnte weiße friedhof
an einem jener hänge
..."
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Kunst

Ganz hervorragend findet Kerstin Holm in der FAZ die Schau "Die Avantgarde auf dem Bauernwagen ins 21. Jahrhundert" in Jekaterinenburg, fürchtet aber, dass es mit der klugen und kritischen Kunst im Jelzin-Zentrum bald ein Ende haben könnte: "Denn die in New York ausgebildete Sibirierin Dina Sorokina, die als Direktorin die Unabhängigkeit des Zentrums verkörpert, wird zum Ende dieses Jahres, in dem Präsident Putin die Jelzin-Verfassung von 1993 faktisch demontieren ließ, ihren Posten abgeben." FAZ-Kritiker Paul Ingendaay hat zwar schon genug von digitalen Kulturangeboten, aber für den Portikus der Kathedrale von Santiago de Compostela macht er eine Ausnahme: Eine App ermöglicht, das Werk des Meister Mateo aus nächster Nähe zu bewundern. In der taz unterhält sich Steffen Siegel mit dem Kunsthistoriker Ulrich Domröse, der dreißig Jahre lang die Fotografische Sammlung der Berlinischen Galerei leitete.
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Stichwörter: Portikus

Bühne

Hinter dem Münchner Schlachthof wird das neue Volkstheater gebaut, das Deutschlands modernstes Haus werden soll, und natürlich kann Christian Stückl der taz-Kritikerin Johanna Schmeller versichern, dass alles im Zeit- und Kostenplan liegt. Aber auch sonst ist Schmeller angetan von dem Bau im lebendigen Schlachthofviertel, dessen Innenhof sie an eine athenische Agora erinnert: "Es ist ein Neubeginn, auch künstlerisch. Nahezu vierzig Jahre residierte das Volkstheater in der noblen, aufgeräumten Briennerstraße - als Mieter. Die ursprünglich als Mehrzweckhalle gedachten Theaterräume im Haus des Sports entwickelten sich zur Dauer-Behelfslösung - und blieben dabei doch immer eine 'Turnhalle', wie Stückl heute sagt. Dann wurde eine Sanierung fällig. Und als der Kostenvoranschlag auf 50 Millionen Euro anschwoll, hatte der Intendant letztlich schnell die Politik bei der Idee eines Neubaus auf seiner Seite."

Weiteres: Georg Kasch hat sich für die Nachtkritik Julian Warners Konzertperformance "The History of the Federal Republic of Germany" an den Münchner Kammerspielen angesehen.
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Film

Tolle Verbindungen: Dominik Grafs Jubiläums-Tatort "In der Familie" (WDR/Frank Dicks)

Mit Dominik Grafs "In der Familie" - der erste Teil einer Doppelfolge - feierte der "Tatort" gestern Abend sein fünfzigjähriges Bestehen. Da haben sich die ARD-Sender mal was gegönnt, schwärmt Matthias Dell auf ZeitOnline: "Die Kunst feiert im ersten Teil von 'In der Familie' doch eine sehr schöne Geburtstagsparty. ... Grafs grafischer Stil mit seinen Ellipsen, Zooms, Schwenks, dem Gleiten der Kamera (Hendrik A. Kley), als würde die ins Bild reinschweben, um dann wieder auf Details zu gucken oder in die Totale zu wechseln, stellt tolle Verbindungen her." Hinzu kommt noch, dass "das Dortmunder Ensemble in Grafs Unmittelbarkeitsdistanzismus spielerisch an Kontur gewinnt; als ob das, was sonst an konventioneller Verkleidung dran ist an den Figuren und ihren Macken abgetrennt wäre durch die Klarheit des Blicks."

Auch Rüdiger Suchsland auf Artechock ist umgehauen: "Vielstimmigkeit, schnelles Hin und Her, Erinnerungen an 'Im Angesicht des Verbrechens' werden wach: Temporeich werden Tricks und Facetten der Überwachung gezeigt. Dazu sehr dezent eingesetzte, pulsierende, das Tempo unmerklich forcierende Musik. ... Das ist kein Fernsehen. Das ist ein Film." Oliver Jungen in der FAZ freut sich über diese Ausnahme im Sonntagabendkrimibrei: "Wie sich diese Verwicklung der Teufelspakte voller Schuld-, Sühne- und Racheverstrickungen ultimativ zuspitzt, ist unbedingt sehens- und dank der gelungenen Musikauswahl auch hörenswert. So darf es gerne bis 2070 weitergehen."

Weitere Artikel: Für den Standard spricht Stephan Hilpold mit der Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen über Viren im Film. Lory Roebuck schreibt in der NZZ einen Nachruf auf den Schauspieler David Prowse, der den Körper (aber nicht die Stimme) von Darth Vader gespielt hat.

Besprochen werden David Finchers Biopic "Mank" über den Hollywood-Drehbuchautor Herman J. Mankiewicz (Standard, mehr dazu bereits hier), Matthew Michael Carnahans auf Netflix gezeigter Kriegsfilm "Mosul", der in den letzten Tagen des Kampfes gegen den IS spielt (SZ), Susanne Biers Miniserie "The Undoing" mit Nicole Kidman (Berliner Zeitung) und die neue DVD-Edition von Paul Verhoevens "Showgirls", der seinerzeit bei der Kritik schwer durchfiel und nun von SZ-Kritiker Fritz Göttler rehabilitiert wird: "Einer der großen amerikanischen Filme der letzten Jahre, sagte Jacques Rivette" und Göttler schließt sich gerne an.
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Musik

Auf ZeitOnline stellt Hannah Schmidt die App Enote vor, die Orchestermusikern verspricht, Notenmaterial nicht nur optisch einzuscannen und darzustellen, sondern darüber hinaus auch inhaltlich zu analysieren und damit modifizierbar zu machen. Musiker sind begeistert, alteingesessene Verlage lehnen sich erst einmal zurück: "Was bedeutet es für den Musikmarkt, für die Arbeit von Verlagen wie Schott, Henle oder Bärenreiter, wenn ein Angebot wie Enote künftig den Zugang zu 150.000 Werken ermöglichen will, inklusive aller technischen Features, für 9,99 Euro im Monat? Clemens Scheuch, Mitglied der Geschäftsleitung bei Bärenreiter, gibt sich gelassen: 'Das ist keine Konkurrenz, die ich groß fürchte', sagt er. Die Frage sei vielmehr, ob ein so junges Unternehmen in der Lage sei, musikwissenschaftliche Arbeit auf einem Level zu leisten, wie das die etablierten Verlage oft seit Jahrhunderten tun." Ähnliches werden Brockhaus und Co. über die Wikipedia anfangs auch gesagt haben.

Weitere Artikel: Für ZeitOnline hat Ulrich Stock ein großes Gespräch mit dem Pianisten Nils Frahm über dessen neues Live-Album geführt. Karl Bruckmaier spricht in der FAZ mit dem norwegischen Akkordeon-Spieler Frode Haltli, der die Lage der letzten Monate genutzt hat, um drei Alben einzuspielen.  Für die NZZ plaudert Tobias Sedlmaier mit Campino.

Besprochen werden Nick Caves Live-Album "Idiot Prayer" (NZZ), Miley Cyrus' Album "Plastic Hearts" (Tagesspiegel, mehr dazu hier), Camille Thomas' "Voice of Hope" (FAS) AnnenMayKantereits neues Album (Freitag) und ein Online-Konzert des Berliner Konzerthausorchesters unter Joana Mallwitz (Tagesspiegel). Wir hören mit:

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