Efeu - Die Kulturrundschau

Könner im Klang

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.12.2020. Die NZZ streift durch wilde Schweizer Mode. Die FAZ denkt über postdramatisches Theater nach. Kathrin Passig hat beim Aufräumen im Keller eine unveröffentlichte Kurzgeschichte von Wolfgang Herrndorf entdeckt. Die taz erinnert an den Protestsänger Phil Ochs, die NZZ schmilzt dahin bei den neuen Liebesliedern von Sophie Hunger. Die Filmkritiker diskutieren die Pläne für die Corona-Berlinale - mit einem Onlinewettbewerb für die Jury im Februar und einem Publikumsfestival im Juni.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 18.12.2020 finden Sie hier

Musik

Adrian Schräder schmilzt in der NZZ dahin beim Hören des gemeinsamen Albums von Dino Brandão, Faber und Sophie Hunger, die ein Liebesalbum in Schweizer Mundart aufgenommen haben (hier hatten wir schon kuŕz darauf hingewiesen), ziemlich dahin. Die drei "sind Könner im Klang, Könner im ganz eigenen Sprachgebrauch, Könner im Rausch, Könner im Viel und im Zuviel. Sie berauschen sich an der eigenen Kunst. Gerade das, was bei Sophie Hunger spalten mag, diese heilige Absolutheit bis hin zum Narzissmus, das alles Kontrollierende, löst sich hier, in diesem Kontext, wunderschön auf. Die Singenden berühren und berauschen sich gegenseitig. Das 'Ich liebe dich' adressieren sie auch aneinander."

Diedrich Diederichsen erinnert in der taz an den US-Protestsänger Phil Ochs, der morgen seinen 80. Geburtstag feiern könnte. Ochs war mitunter auch eine tragische, hin und her gerissene Figur, erfahren wir: Sein "Engagement, das mit kognitiven Dissonanzen nicht umgehen konnte, war sein Dilemma. Er wollte, ganz zu Recht, zwei Dinge zugleich: die coole Verführung seiner Rock-beeinflussten Posen und die ultraaufrichtige Wahrheitspeinlichkeit seiner Yeats verehrenden Polit-Balladen, Dylan und Joan Baez, das Kunstlied und den goldenen Lamé - das alles aber in einem Denk- und vor allem Gefühlsstil, der Wahrheit nur als einstimmige, aufrichtige, widerspruchsfreie Haltung kannte." Wir hören rein:



Weitere Artikel: Valerie Eiseler befasst sich in der FR mit der Taubheit Beethovens. Benno Schwinghammer gratuliert in der Berliner Zeitung Christina Aguilera zum 40. Geburtstag. Jan Feddersen schreibt in der taz einen Nachruf auf Gotthilf Fischer.

Besprochen werden neue Alben von Taylor Swift (taz), Paul McCartney (SZ) und Raed Yassin (Tagesspiegel).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Viktor Sattler über Suzanne Vegas "Tom's Diner":

Archiv: Musik

Design

Für die NZZ flaniert Sabine Fischer durch die Ausstellung "Wild Thing" im Museum für Gestaltung in Zürich, das sich hier der Schweizer Modeszene widmet. "Die Schweiz ist keine Hochburg des Modedesigns", räumt Fischer ein. "Aber womöglich ist sie eine Nische, in der ganz besondere Erfindungen möglich sind." Hier "hängen Foulards, Röcke und Jacken mit Löchern und aufgedruckten Texten von der Decke. In den vom Tageslicht durchfluteten Seitenflügeln schimmern bemalte, zerknitterte und gefaltete Gewebe für alle möglichen Körperteile. Die Schau ist selber ein wildes Ding: Alltäglicher Lifestyle und Outfits für Prominente stehen wie selbstverständlich nebeneinander.  ... Die Nomaden der Gegenwart lieben farbige Vielfalt."


Archiv: Design

Architektur

In der SZ berichtet Gerhard Matzig vom Angriff auf den Chef des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt, Peter Cachola Schmal, der vom Aktivisten Matthias Müntze geohrfeigt worden war. Es ging um die Frage, ob die Schauspielbühnen Frankfurts rekonstruiert oder abgerissen werden sollen.
Archiv: Architektur

Bühne

Postdramatisches Theater ist jetzt auch schon dreißig Jahre alt und im Betrieb angekommen. Hat es noch revolutionäre Sprengkraft, fragt Simon Strauß in der FAZ. Oder ist es nicht nur eine Form, die neben anderen bestehen muss? Eher letzteres, denkt er, und vergleicht ein neues Stück von Wolfram Höll mit einem des britischen Dramatikers Simon Stephens. Bei letzterem "begegnet man Menschen, sozialen Wesen von nebenan, die als Lehrerin oder im Wettbüro arbeiten, sich die Krawatte richten, Bier trinken, auf die Uhr schauen und sich umbringen wollen. Was Stephens bietet, ist Sozialrealismus im besten Sinne des Erfinders ... Man könnte sagen: Während bei Höll die Sprache die Ereignisse vorantreibt, treiben bei Stephens die Ereignisse die Sprache an. Spitzt der eine mehr zu als der andere? Ja, vielleicht, aber ist nicht das viel Entscheidendere, dass bei beiden aus Sätzen Bilder werden wollen? Dass man sie gesprochen hören will, von Schauspielern, die sich verwandeln und im besten Falle auch uns? Nicht wie weit oder nah die Sätze auf dem Papier voneinander stehen, ist entscheidend, sondern dass sie die Entfernung zwischen uns lindern."

Im Van Magazin überlegt Michael Struck-Schloen am Beispiel der Karlsruher und Kölner Opern, welche Anforderungen heute an eine moderne Opernleitung gestellt werden müssten. Besprochen wird Milo Raus Film "Das Neue Evangelium" (Tsp).
Archiv: Bühne

Literatur

Kathrin Passig hat beim Aufräumen im Keller eine unveröffentlichte Kurzgeschichte von Wolfgang Herrndorf entdeckt (ab hier als Volltext abgeschrieben):



Besprochen werden unter anderem die Netflix-Serie "Liebe und Anarchie" über das schwedische Verlagswesen, über die in der FAS die Hanserverlegerin Lina Muzur schreibt und sich und ihre Branche durchaus ertappt fühlt, Peter Sloterdijks "Den Himmel zum Sprechen bringen" (NZZ), Monika Helfers "Die Bagage" (Standard) und Roman Ehrlichs "Malé" (SZ).

Archiv: Literatur

Kunst

In der FAZ stellt Stefan Trinks ein Kunstwerk von Pergialis & Di Paola vor, die in Schwäbisch Gmünd tausende Nägel in kleine Holfpflöcke geschlagen haben für tausende von Corona-Toten. Besprochen wird eine Ausstellungsserie im Berliner KVOST mit Videoarbeiten von Vikenti Komitski, Nina Kurtela und Honorata Martin (taz).
Archiv: Kunst
Stichwörter: Corona, Corona-Tote

Film

Die Berlinale wird sich im kommenden Jahr coronabedingt aufspreizen. Anders als in dem Variety-Artikel behauptet, der die Nachricht als erstes brachte (unser Resümee), werde es wohl kein allgemeines Onlinefestival im Februar geben - zumindest lässt ein Tweet des Festivalleiters Carlo Chatrian ("Sei sicuro?") entsprechende Schlüsse zu. Ein digitaler Filmmarkt im März und ein Sommerfestival fürs Publikum im Juni soll es nun laut Medienberichten werden. Das Festival selbst hält sich auf seiner Website diesbezüglich noch sehr bedeckt. Da viele Rechteinhaber sich von ihren Festivalpremieren bessere Chancen auf dem Filmmarkt versprechen, eine nicht ganz unpikante Lösung.

Und der Wettbewerb? Den gibt es auch. Hanns-Georg Rodek in der Welt weiß nach Telefonaten schon etwas mehr: "Bekanntgabe des Bewerberfeldes bis Ende Januar -, und es gibt Silberne und einen Goldenen Bären. Es gibt eine prominente Jury, und die soll bis Ende Februar alle Filme sichten (online, leider) und die Gewinner küren. ... Es fragt sich natürlich, welche Filme sich für den Wettbewerb zur Verfügung stellen werden, denn der Vorteil, weswegen man im Februar-Schmuddelwetter nach Berlin geht - das große Medienecho -, entfällt diesmal. Paradoxerweise könnten der Berlinale sogar einige Filme in den Schoß fallen, die ihr sonst entgangen wären: amerikanische Oscar-Kandidaten, deren Stars aber zu faul zum Reisen sind. Das eiserne Berlinale-Junktim - ein Film wird nur eingeladen, wenn sich dessen Stars auf dem roten Teppich sehen lassen - fällt in diesem Jahr ja ersatzlos weg."

Christiane Peitz vom Tagesspiegel hat mit dem Führungsduo Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian gesprochen. Ganz in sicheren Tüten scheint die Sommerausgabe demnach noch nicht zu sein, lässt sich Chatrians Antworten entnehmen: "'Es ist ein neues Konzept, dem nicht zuletzt die Rechteinhaber der Filme zustimmen müssen. Und wir bitten das Publikum um etwas Geduld. Wir versprechen ihm dafür eine tolles Sommer-Event.' Hat das Publikum genug Geduld bis zum Juni und kann dafür dann ein echtes Festivalerlebnis genießen? Hilft es den Filmen, lediglich die Rückendeckung von Fachbesuchern zu haben? Ein riskantes Experiment."

Besprochen werden Matteo Garrones "Pinocchio" (Presse), eine Amazon-Doku über die Bild-Zeitung (FAZ) und das Netflix-Musical "The Prom" mit Nicole Kidman und Meryl Streep (Welt),
Archiv: Film