Efeu - Die Kulturrundschau

Taube Momente auf den Geschmackskapillaren

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19.12.2020. Die NZZ versinkt in Azurblau, während sie versucht, nicht auf eine Krabbe zu treten in der Wiener Ausstellung des Malers Hugo Canoilas. In der Welt fragt die 23-jährige Zelda Biller, warum Journalisten heute so viel Angst haben, etwas falsch zu machen. In der NZZ schnuppert Sibylle Lewitscharoff markanten Gerüchen und Düften ihrer Jugend nach. ZeitOnline hört den Blues im Netflix-Biopic "Ma Rainey's Black Bottom" und er klingt ganz unromantisch. Pitchfork malt einen grauen Samstag bunt mit dem Musikvideo zu Tierra Whacks "Dora".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.12.2020 finden Sie hier

Kunst

Hugo  Canoilas, On the extremes of good and evil. Ausstellungsansichten. Foto: Klaus Pichler © mumok / Klaus Pichler


Alles so azurblau hier! Beim Betreten der Ausstellung "On the extremes of good and evil" des Malers Hugo Canoilas im Wiener Mumok steht Katharina Rustler (Standard) sofort im Meer. Der Fußboden ist mit blauem Teppich ausgelegt, auf denen Quallen und Rochen sitzen. "Ich war immer ein Fan des Erhabenen", sagt Canoilas im Gespräch. "Damit meine ich diese Sensation, die uns das Gefühl gibt, nur ein kleiner Teil des Universums zu sein. So soll es auch in der Ausstellung sein. Die Besucher sind ein kleiner Teil dieses Kosmos, sie bringen die Realität in das Bild - und bauen so eine Brücke zwischen Kunst und der Welt da draußen."

Philipp Meier darf für die NZZ die private Nicola Erni Collection besuchen, die ihre Tore künftig jeden Mittwoch für Führungen öffnet. Rund 5000 Kunstwerke umfasst die Sammlung, daneben noch Mode und Fotografie. Von der Unterscheidung zwischen high und low hält die Sammlerin gar nichts, notiert der betörte Kritiker vor diesem "Mix von erstklassiger Gegenwartskunst mit dem Charme von Vintage-Design und dem Glitter von Modefotografie: das Nebeneinander von Paparazzi-Kult-Fotos und orientalischen Teppichen, von coolen Möbelentwürfen, die kaum zu unterscheiden sind von der Design-Kunst des Künstlerduos Elmgreen & Dragset, und von knalligen, lebenssprühenden Riesenformaten eines Julian Schnabels oder bunt-elektrisierender Graffiti-Malerei eines Jean-Michel Basquiat. Diese Amalgamierung trifft einen Zeitgeschmack: Nicola Ernis Sammlung bringt gleichsam die Trends in der internationalen Kunstsammler-Szene auf den Punkt."

Warum dieser Mix, erklärt Erni im Interview: "Der White Cube funktioniert sicherlich nach wie vor für viele Ausstellungen und Künstler, doch für mich ist Farbe essenziell, um Kunst immer wieder neu zu zeigen. Daher präsentiere ich meine Sammlung eben im vorher erwähnten Zusammenspiel zwischen Architektur und Interior Design; ein bisschen, wie ich zu Hause lebe. Ein bunter Mix aus Designermöbeln, schrägen Dekofunden, über Jahre zusammengetragen, bis zu hundertjährigen Teppichen, Selbstentworfenem, skurrilen Lampen und eben der Kunst. Deshalb begrüßen wir unsere Gäste auch im 'extended living room'. So verliert die Kunst für den Kunstnovizen an Schrecken und entzieht sich dem Elitären." Ähem.

Weitere Artikel: Im Interview mit der taz erzählen Julia Grosse und Yvette Mutumba, beide gerade als Europäische Kulturmanagerinnen des Jahres 2020 ausgezeichnet, wie sie den Kunstdiskurs diverser und globaler machen wollen. Ebenfalls in der taz stellt Simone Schmollack die Grafikerin und Illustratorin Anusch Thielbeer vor. Besprochen wird ein Ausstellungsreigen der Künstlerinnen Jakob Lena Knebl und Ashley Hans Scheirl im Kunsthaus Bregenz (FAZ).
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Literatur

Zelda Biller ist 23 Jahre alt und viel auf den Sozialen Medien unterwegs. In der Literarischen Welt begeistert sie sich bei der Lektüre von Willy Haas' Memoiren für die journalistische und redaktionelle Leichtigkeit, mit der Haas die historische Literarische Welt angegangen ist - eine Leichtigkeit, die sie in der Gegenwart sehr vermisst und die das deutsch-jüdische Prag des frühen 20. Jahrhunderts zu einem Sehnsuchtsort werden lässt: "Kann es sein, dass sich Journalisten und Redakteure, aber auch Künstler, heute weniger trauen? Dass über Ideen und mögliche Konsequenzen viel zu lange nachgedacht wird, aus Angst, etwas falsch zu machen? ... Wo sind die Leute, denen es Spaß macht, Chefredakteure, Intendanten, Leser oder Zuschauer hin und wieder aus der Fassung zu bringen und denen es tatsächlich egal ist, ob andere wichtige Leute oder pöbelnde Twitter-Rowdys ihre Meinung oder ihre Kunst für anmaßend halten?"

In der NZZ schnuppert Sibylle Lewitscharoff markanten Gerüchen und Düften in ihrer Jugend nach. Aber erst mal wird unterschieden: "Anders als im Geruch schwebt im Wort Duft etwas Leichtes. Der Geruch haftet, der Duft verfliegt. Die Atome des Letzteren scheinen zu tanzen, zu schweben und mit der Luft umherzuziehen, um sich rasch wieder in alle Winde zu zerstreuen. Der Geruch hingegen hockt. Er bleibt stur, wirkt schwer, als hätte er einen eigenen Leib. Um ihn ist dicke Luft. Trotzdem darf man in unserer Sprache auch das anmutige Wort Duft mit der Widrigkeit des Schlechten behaften, will heißen: mit Gestank."

Weitere Artikel: Für die taz spaziert Susanne Messmer mit dem Schriftsteller Lorenz Just durch Berlin-Mitte. Roman Bucheli plaudert für die NZZ mit dem Schriftsteller Thomas Hürlimann. In der SZ-Reihe mit Kulturschaffenden zur Coronakrise denkt Kabarettist Josef Hader über Gott und die Welt nach und was das alles mit dem Licht zu tun hat. Im "Literarischen Leben" der FAZ berichtet der Schriftsteller Mario Schlembach von seinem beschwerlichen Ausstieg aus dem Fußball. Im Literaturfeature von Dlf Kultur widmen sich Marc Bädorf und Konstantin Schönfeldern der Kunst der letzten Sätze.

Besprochen werden unter anderem Jane Gardams "Robinsons Tochter" (taz), Yuval Noah Hararis Comic "Sapiens" (FR), Richard Fords Erzählband "Irische Passagiere" (taz), Eliot Weinbergers Essaysammlung "Neulich in Amerika" (Standard), Wolfgang Büschers "Heimkehr" (Freitag), Hinrich Schmidt-Henkels Neuübersetzung von Tarjei Vesaas' "Die Vögel (SZ), Jin Yangs Kungfu-Roman "Die Legende der Adlerkrieger" (Literarische Welt) und Thomas Hürlimanns Essayband "Abendspaziergang mit dem Kater" (FAZ).
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Bühne

In der FAZ porträtiert Kevin Hanschke Philip Rubner, Ausstattungsleiter am Deutschen Nationaltheater Weimar. Und Niklas Maak macht in der FAZ angesichts der Raubzüge in Dresdner und Berliner Museen darauf aufmerksam, wie wenig sinnvoll es ist, "halbmilliardenteure neue Museen" zu errichten, wenn man nicht mal die alten effektiv mit Alarmanlagen und kompetentem Wachpersonal schützen kann.Die nmz gibt Streamingtipps bis Heilig Abend. Die nachtkritik gibt Streamingtipps für Kinder- und Jugendtheater an den Feiertagen.

Besprochen wird Milo Raus Jesus-Film "Das neue Evangelium" (SZ).
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Film

"Ma Rainey's Black Bottom" (David Lee / Netflix)

Daniel Kothenschulte nutzt in der FR seine Besprechung von George C. Wolfes auf Netflix gezeigtem, Kothenschulte sehr begeisterndes Biopic "Ma Rainey's Black Bottom" über die Bluessängerin Gertrude "Ma" Rainey, um über das Kinojahr 2020 als das Kinojahr ohne Kino nachzudenken: Kino und Fernsehen, fürchtet er, nähern sich an. "Es ist eben nicht so, dass man ein Medium einfach auf das andere übertragen kann. Am Bildschirm sieht man anders als im Kino, und man sieht wohl auch in Zukunft etwas anderes. Wenn man daraus eine Art Optimismus ableiten möchte: Das Kino werden Netflix und Co. nicht ersetzen, und vielleicht bekommen wir ja wieder besseres Fernsehen."

Daniel Gerhardt steigt auf ZeitOnline tiefer in den Film an sich ein, der auf einem Theaterstück von August Wilson aus dem Jahr 1982 basiert. Der Kampf der Titelfigur um ihre eigene Emanzipation werde hier ganz großartig geschildert, schreibt Gerhardt: "In virtuosen, oft mehrminütigen Dialogen tauschen sich Levee und die anderen Musiker über Rassismus- sowie Glaubens- und Sündenfragen aus. Aus ihren Worten spricht unverkennbar der Blues, während der Rhythmus ihrer Gespräche schon auf den Jazz voraus weist, der sich bald als Musik der Stunde etablieren wird." Allerdings "erscheinen der Blues und seine Protagonisten genauso unromantisch wie die Geschäftsbedingungen, unter denen sie produziert und verbraucht werden."

Weiteres: Auf Artechock denkt Dunja Bialas über die neuen Geschäftsmodelle von Kinos und Verleihern um, die sich zu digitalen Kinosälen im Netz umrüsten. Im Dlf Kultur erläutert die Berlinale-Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek die Pläne, das Festival im kommenden Jahr aufzusplitten (mehr dazu hier). Ebenfalls im Dlf Kultur verteidigt die Regisseurin Doris Dörrie die Meinungsfreiheit.

Besprochen werden die BluRay von Sohrab Shahid Saless' (in der Tat sehr großartigem, aber kaum bekanntem) Prostitutionsdrama "Utopia" von 1983 mit Manfred Zapatka als finsterem Zuhälter (critic), Chantal Akermans letzter, auf Mubi gezeigter Film "No Home Movie" (Tagesspiegel), die Bluray von Elem Klimows restauriertem Antikriegsfilmklassiker "Komm und Sieh" (Jungle World), die Serie "The Collapse" (Freitag), die Serie "El Cid" (FAZ) und die fünfte Staffel der SF-Serie "The Expanse", die uns Presse-Kritikerin Heide Rampetzreiter allerwärmstens ans Herz legt.
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Musik

Auch nach dem Füllhorn neuer Aufnahmen, die das Beethovenjahr 2020 mit sich brachte, greift Manuel Brug lieber zu den Klassikern, gesteht der Kritiker in der Welt: Denn "all das modische Hin und Her hinterlässt ein schales Gefühl, taube Momente knospen immer öfter auf den Geschmackskapillaren." Vor allem Hermann Scherchens Aufnahmen finden ihren Weg ins Kritikerherz: "Hört man in den Aufnahmen früheren Datums noch bisweilen steinerne Statuarik bar jeden romantischen Pathos, so lodert beim späten Scherchen das Feuer einzigartig rebellischer Energie. Ein eleganter, biegsamer Beethoven, schnörkelfrei und ohne die Feierlichkeit zu langsamer Tempi, springt hier raubkatzenartig elastisch aus dem Lautsprecher." Wir springen nur unwesentlich weniger elastisch mit:



Weitere Artikel: In der FR erklärt Daniel Kothenschulte, wie Beethovens Melodien die Filmgeschichte prägten. Andrian Kreye schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Jazzpianisten Stanley Cowell. The Quietus kürt die besten Tapes des Jahres. Auch Pitchfork ruft bereits seit Tagen alle möglichen Bestenlisten aus, frisch hinzugekommen unter anderem die besten Musikbücher des Jahres und die besten Musikvideos des Jahres. Dieses grauen Samstag in viele bunte Farben taucht zum Beispiel das Video zu Tierra Whacks "Dora":



Besprochen werden Paul McCartneys neues Solo-Album (Standard), Kevin Morbys "Sundowner" (FR) und die eben erschienene Blumfeld-Discografie (online nachgereicht von der FAS). Wir schwelgen mit diesem tollen Video mit Helmut Berger ein bisschen mit:

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