Efeu - Die Kulturrundschau

Solange das Ranking stimmt

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.03.2021. Werden Übersetzungen jetzt nach einer Diskriminierungsskala vergeben, fragt Wolfgang Matz in der FAZ und wundert sich, dass unter anderem Kübra Gümüsay die Gedichte Amanda Gormans ins Deutsche übertragen soll. Hyperallergic klickt sich im "American Archive of Public Broadcasting" durch 40.000 Stunden Rundfunk mit schwarzer Literatur, Musik und Politik. Die Welt berichtet von Kampagnen gegen die Filmemacherin Chloe Zhao in China. Der Tagesspiegel verfällt am Mehringplatz dem Zauber der Berliner Postmoderne. Die taz trifft sich am Habibi-Kiosk in der Maximilianstraße.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.03.2021 finden Sie hier

Literatur

Der frühere Hanser-Lektor und Übersetzer Wolfgang Matz kritisiert in der FAZ scharf die Vorstellung, eine Übersetzungsleistung sei auch von der Hautfarbe oder der Herkunft der Übersetzin abhängig und nicht nur von ihrem Können. Die Entscheidung des deutschen Verlags Hoffmann & Campe, ein hauptsächlich aus Lyrikfernen und Routiniers bestehendes Dreiergespann auf die Gedichte von Amanda Gorman anzusetzen, belege das ausschließlich monetäre Interesse des ansonsten mit einem liebevoll betreuten Lyriksegment bislang nicht aufgefallenen Verlagshauses. Vor allem die Entscheidung für Kübra Gümüsay als Mitübersetzerin findet er daneben, da die "Deutschtürkin in keiner erkennbaren Verbindung steht zu einer schwarzen Amerikanerin. Außer man bildet eine imaginäre Diskriminierungsskala, auf der solche realen Eigenschaften völlig gleich sind. ... Doch die Sache hat noch einen Haken. Amanda Gorman, die ihr Gedicht bedenkenlos zur Feier eines alten weißen Mannes vortrug, schreibt poetisch und politisch in der Tradition der liberalen, libertären Bürgerrechtsbewegung der Vereinigten Staaten. Kübra Gümüsay hat ihre Sympathien für Erdogans AKP öffentlich zu Protokoll gegeben, in Kritiken von Ronya Othmann und Anna Prizkau ist das nachzulesen. Als Autorin Sympathisantin autoritärer Regime, beim Übersetzen Bürgerrechtlerin? Macht nichts, solange das Ranking stimmt."

Außerdem: Für den Freitag porträtiert Alexandru Bulucz den Lyriker und Verleger Dinçer Güçyeter. Im Freitag spricht die Schriftstellerin Beatrix Langner über ihren neuen Roman "Der Vorhang".

Besprochen werden unter anderem Takis Würgers "Noah" (Standard), Hernan Diaz' "In der Ferne" (SZ) und John Boynes "Die Geschichte eines Lügners" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

In China läuft ein von oberen Stellen lancierter Shitstorm gegen die in den USA lebende und arbeitende, chinesische Filmemacherin Chloe Zhao, die in ihrer Heimat gerade noch für ihren Golden-Globes-Erfolg mit "Nomadland" gefeiert wurde, bis allerdings ein Interview im Filmmaker-Magazine aus dem Jahr 2013 die Runde machte, in dem sie China als "ein Land voller Lügen" bezeichnete (hier eine Kopie des ursprünglichen Artikels, aus dem Originalinterview wurde die Passage mittlerweile gestrichen). Zwar wäre "Nomadland" in China wohl eh kein großer Hit geworden, aber Hollywood könnte dennoch davon getroffen werden, erklärt Jamin Schneider in der Welt: "Im November soll in Amerika 'The Eternals' aus Disneys Marvel-Studio erscheinen. 'The Eternals' ist in ein in klassischer Marvel-Manier aufwendig produzierter Film mit Top-Besetzung (Angelina Jolie, Kumail Nanjian, Salma Hayek) und dem damit einhergehenden Druck, finanziell zu liefern. Bisher war Zhaos Herkunft ein absoluter Pluspunkt für den Start auf einem chinesischen Markt, auf dem Marvel-Filme sowieso horrende Erfolge erzielen. Jetzt sieht das nicht mehr ganz so rosig aus."

Weitere Artikel: Cydnii Wilde Harris klickt sich für Hyperallergic begeistert und überrascht durch das "American Archive of Public Broadcasting", das über 40.000 TV- und Radio-Stunden umfasst: "Was unmittelbar deutlich wird, ist die Fülle an schwarzen Autoren, Journalisten, Musikern und Politikern, denen im öffentlichen Rundfunk eine Plattform geboten wurde." Das aktuelle Königskinderdrama um Harry & Meghan erinnert Elisabeth Binder vom Tagesspiegel an die Serie "The Crown". Harry Nutt schreibt in der FR einen Nachruf auf den Dokumentarfilmemacher Leon Gast. Und es gibt auch noch gute Nachrichten: Der Humanistische Pressedienst meldet, dass das Verwaltungsgericht Stuttgart rechtskräftig festgestellt hat, dass Christen es einem über das Mittel der Feiertagsfreigabe nicht mehr verbieten können, an Karfreitag "Das Leben des Brian" zu zeigen.

Besprochen werden die HBO-Doku "Allen v. Farrow" ("Wer eine Meinung zu Allen hat, sollte 'Allen v. Farrow' gesehen haben", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel), der zweite Teil von "Der Prinz aus Zamunda" mit Eddie Murphy (Welt, SZ), der Disney-Animationsfilm "Raya und der letzte Drache" (SZ) und die Netflix-Doku "Das Hausboot" über Olli Schulz' verzweifelte Versuche, Gunter Gabriels Hausboot zu restaurieren (ZeitOnline).
Archiv: Film

Kunst

Andy Warhol 1981 im "Altered Image" von Christopher Makos. Bild: Museum Ludwig

Die Museen in NRW haben wieder geöffnet, und in der FAZ versichert Stefan Trinks, dass die Andy-Warhol-Schau im Museum Ludwig nicht die hundertste Ausstellung zum Künstler sei, sondern Warhol als queeren Künstler und Kind slowakischer Migranten zeige, aber überhaupt ganz neue Verbindungen aufmache: "Es existiert kein Medium, das er nicht genutzt hätte oder wie Musikvideos (mit der Band 'Curiosity Killed the Cat') und Fernsehen erst noch für künstlerische Nutzung in Form gebracht hätte. Es ist daher keine Binse, wenn man konstatiert, dass Warhol wäre er nicht 1987 nur achtundfünfzigjährig gestorben heutige Social Media wie Facebook oder Instagram massiv geprägt, wo nicht erfunden hätte. Oder vielleicht auch im Gegenteil er hätte sie gemieden und völlig Entgegengesetztes propagiert. Zweitens: Er spielt lebenslang mit dem hohen Einsatz seines Lebens gegen die Bank die Zeit. Wie bei Rembrandt sind die zahllosen Selbstporträts und -befragungen der Panik vor dem Sterben und der Vanitas geschuldet."

Besprochen werden die Schau "Caspar David Friedrich und die Düsseldorfer Romantiker" im wieder offenen Düsseldorfer Kunstpalast (SZ), die Schau "Magnetic North" in der Frankfurter Schirn Kunsthalle (Monopol) und die Ausstellung "Sesam öffne dich" im Berliner Bärenzwinger (Tsp).
Archiv: Kunst

Architektur

Wer noch immer nicht seinen Frieden mit den Berliner Bauten der achtziger Jahre gemacht hat, dem empfiehlt Gunda Bartels im Tagesspiegel die Audiowalks der Berlinischen Galerie, die man sich als App zur Ausstellung "Anything goes" herunterladen kann. Zum Beispiel eine Tour die Friedrichstraße entlang: "Zum Einstieg am Mehringplatz holt Frank Arnold, der die Stadtbilderklärungen pointiert vorträgt, etwas weiter aus und verschreckt mit der Bitte, sich vorzustellen, dass nach den, nur durch Bürgerproteste verhinderten, Planungen der autogerechten Stadt, hier jetzt eigentlich die Stadtautobahn entlang donnern würde. Stattdessen hat das einst barocke Rondell ringförmige Wohnhäuser bekommen. Sozialbauten, die Hans Scharoun 1968 entwarf. Und einen zugigen Unort in der Mitte, der seit 2019 wieder aufgemöbelt wird. Die Victoria auf der zentralen Friedenssäule schaut noch etwas ratlos auf die Baugitter, Sandhügel und Pflastersteinberge zu ihren Füßen. Doch der Mehringplatz wird langsam wieder."
Archiv: Architektur

Bühne

In der taz stellt Johanna Schmeller den Habibi-Kiosk vor, der als vierte Spielstätte der Münchner Kammerspiele ein Ort für die diverse Stadtgesellschaft sein sollte, mit Ausstellungen, Konzerten, DJ-Sessions, Talkrunden und Performances. Mitten auf der Maximilianstraße: "'Wir planen immer mit A und B', sagt Kurator Sebastian Reier. Rania Mleihi ergänzt: 'A und B klingt superklein! Wir haben uns daran gewöhnt, alle Buchstaben des Alphabets durchzuplanen.' Allen Varianten gemein bleibt die Grundidee: 'einen Ort zu bauen, der für uns alle da ist'. Unterschiede anerkennen, Menschen ins Gespräch bringen, vermeintliche Fehler zulassen: Daran halten die Kuratoren allerdings bei ihren Planungen fest. Der Habibi-Kiosk sollte die Verschiedenheit feiern und Meinungen Raum geben. Reier: 'Wir haben hier eine sehr wohlhabende Nachbarschaft, und für die sind wir genauso da. Es geht um das Teilen von Perspektiven, darum, dass Menschen voneinander und von ihren Bedürfnissen in direkter Form erfahren.'"
Archiv: Bühne

Musik

Bereits über 60 Videos wurden im letzten halben Jahr in dem Youtube-Archiv hinterlegt, mit dem Daniel Grossmann, Leiter des Jewish Chamber Orchestra Munich, die Aktivitäten des Ensembles und einen Teil jüdischer Musikgeschichte dokumentieren will. Die Frage, wodurch sich jüdische Musik auszeichnet, ist dabei durchaus komplex, schreibt Florian Amort in der FAZ: Reicht die Familiengeschichte schon aus, wie das viele handhaben? "Es ist ernsthaft die Frage zu stellen, im welchen Sinne Felix Mendelssohn Bartholdy (unbeschnitten und protestantisch getauft) oder Walter Braunfels (unbeschnitten, protestantisch getauft und nach dem Ersten Weltkrieg zum katholischen Glauben konvertiert) nur aufgrund ihres familiären Milieus automatisch jüdische Komponisten sein sollen. Handelt es sich hier nicht vielmehr um 'gutgemeinte' Fortschreibungen von NS-Kategorisierungen bis in die Gegenwart?" Auch den rekonstruierten Stummfilm "Das alte Gesetz" von 1923 hat das Orchester musikalisch begleitet - einige Eindrücke:



Weitere Artikel: In SZ feiert Joachim Hentschel den deutschen Thrash-Metal-Export-Dauerschlager Kreator, der gerade eine große Box zum 40-jährigen Bestehen herausgebracht hat, und freut sich, dass die Band "immer noch stur gegen die Ausweglosigkeit des menschlichen Leidens tobt und anrennt." Für die NZZ spricht Marco Frei mit dem Bratschisten Nils Mönkemeyer über die Lage in der Pandemie. Helmut Mauró schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Pianisten Dmitri Alexandrowitsch Baschkirow.

Besprochen werden eine Erkki-Sven Tüürs Kammermusik-Album "Lost Prayers" (FR), Netflix-Doku über The Notorious B.I.G. (Standard) und neue Popveröffentlichungen, darunter "Baby, I'm Hollywood" von Judith Hill, die uns laut SZ-Popkolumnist Jakob Biazza "brettharten, wirklich absolut humorlosen Funk" und damit "das Album der Woche" kredenzt. Wir hören rein:

Archiv: Musik