Efeu - Die Kulturrundschau

Alle drei haben die Haare schön

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25.05.2021. Die SZ erfährt in der Ausstellung "Boden für alle", warum Österreich Ackerfläche in der Größe der Steiermark verloren hat. SZ und Le Monde bewundern gebührend die von Tadao Ando umgebaute Börse für die neue Collection Pinault. Die NZZ lernt auf der Architekturbiennale in Venedig, dass Grenzen kein Ende, sondern ein Anfang sind. IndieWire erkennt, dass die Hollywood-Studios ihren Rang nicht nur in der Realität, sondern schlimmer noch in der Hierarchie der Konzerne eingebüßt haben.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.05.2021 finden Sie hier

Architektur

Baugrund zu verkaufen. © Johann Jaritz, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0; Collage: Christina Kirchmair

In den vergangenen zwanzig Jahren hat Österreich Ackerfläche in der Größe der Steiermark verloren, erklären die Kuratorinnen Karoline Mayer und Katharina Ritter im Interview mit Laura Weißmüller in der SZ: Auch wenn sie dem einzelnen Bauern die Umwandlung in Bauland gönnen, fordern sie mit der Ausstellung "Boden für alle" im Wiener Architekturzentrum eine Umkehr: "Bestellen im Internet, Autofahren, das Ferienhaus im Grünen - das sind alles Dinge, durch die jeder von uns zur Versiegelung beiträgt. Aber dann gibt es noch das System: Die Gemeinden werden in Österreich durch Gesetze in eine Konkurrenz getrieben. Gemeinden rittern um Betriebe und sie rittern um Bewohner. Es finden keine Absprachen statt, wo sinnvollerweise ein Gewerbegebiet angesiedelt werden könnte. Deswegen gibt's in Österreich bei jeder Ortsausfahrt einen Supermarkt und hundert Meter später einen weiteren."

In der NZZ hält Sabine von Fischer tatsächlich den Schweizer Pavillon für einen der interessanten auf der Architekturbiennale in Venedig. Die Genfer Architekten Mounir Ayoub und Vanessa Lacaille des Laboratoire d'architecture erkunden darin zusammen mit dem Filmemacher Fabrice Aragno und dem Bildhauer Pierre Szczepski die Grenzerfahrung: "Ein Spruch, der in einem kollektiven Schreibforum entstanden ist, wurde auf der Backsteinmauer im Hof montiert: 'Es gibt kein Ende. Es gibt immer einen Anfang, und dann noch einen.'"

Weiteres: In der FAZ schreibt Niklas Maak zum Tod des brasilianischen Architekten und Pritzker-Preisträger Paulo Mendes da Rocha, der den Beton so scheinbar schwerelos über dem Boden schweben lassen konnte.
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Kunst

Die Collection Pinault in Tadao Andos Umbau der Pariser Handeslbörse

Joseph Hanimann zeigt sich in der SZ gebührend beeindruckt von der Collection Pinault, die nunmehr in der von Tadao Ando umgebauten ehemaligen Pariser Handelsbörse residiert: "Der Collection Pinault wird manchmal nachgesagt, sie trumpfe vor allem mit berühmten Namen und Modephänomenen wie Jeff Koons auf. Bei dieser ersten Werkauswahl wurde sichtlich Wert darauf gelegt, dies zu widerlegen und Prominentes mit wenig Bekanntem zu mischen. Unvermeidbar bleibt allerdings, dass das in der Schau mitschwingende politische Konfliktpotenzial zwischen Raumsymbolik, Werkaussage und impliziten Botschaften durch die Pracht der Inszenierung ästhetisch verklärt wird. So viel restaurative Virtuosität tut nicht allen Werken gut." In der FAZ sieht Marc Zitzmann Paris dagegen wieder auf dem Weg zum Mittelpunkt der Moderne. Und in Le Monde preist Isabelle Reignier nichtsdestrotrotz Andos Architektur, deren Beton auch hier die Qualität von Samt habe.

Besprochen wird die Ausstellung "Picasso & Les Femmes d'Alger" im Berliner Museum Berggruen (Tsp).
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Bühne

Sibylle Canonica, Juliane Köhler, Charlotte Schwab in "Erinnerung eines Mädchens am Residenztheater. Foto: Sandra Then

Hin und weg ist
SZ-Kritikerin Christine Dössel von Silvia Costas Bühnenfassung von Annie Ernaux' "Erinnerung eines Mädchens" am Residenztheater, die sie nicht unbedingt über den Lockdown, aber zumindest über Anja Hillings "Teile (hartes Brot)" hinwegtröstet. Ernaux arbeitet darin ihre erste sexuelle Erfahrung auf, die einer Vergewaltigung gleichkam: "Die Regisseurin teilt den Text gleichberechtigt auf drei nicht mehr junge Frauen auf: Juliane Köhler, Sibylle Canonica und Charlotte Schwab, ein exquisites Dreigestirn, blond, rothaarig, brünett. Alle drei haben die Haare schön und bringen feine Reize ins Spiel. Die Regisseurin lässt sie während des Sprechens vieles tun: nornenhaft Fäden spannen, mit Spiegeln spielen, Wäsche sortieren, Fotos entwickeln, all sowas. Das ist oft zeigefingersymbolisch, vor allem ist es: viel. Dennoch hat der Abend eine suggestive Kraft, eine sehr weibliche."

Weiteres: Simone Kaempf resümiert in Nachtkritik den Stückemarkt beim Berliner Theatertreffen, der zwar rein englischsprachig, aber doch sehr divers ausgefallen sei, wie Kaempf versichert. In der Welt findet es Magnus Klaue an der Zeit für eine Renaissance des Absurden Theaters - angesichts einer pandemischen Regelkonformität.

Besprochen werden Salzburgs Pfingstfestspiele mit Händel, Cecilia Bartoli e tutti quanti (FR, NZZ, Tsp, FAZ) Christoph Marthalers Inszenierung von Aribert Reimanns "Lear" an der Bayerischen Staatsoper (SZ), Marie Schleefs Performance "Name her" beim Theatertreffen (taz, Nachtkritik) und Jan Bosses Inszenierung von PeterLichts "Tartuffe oder das Schwein der Weisen" vor dem Deutschen Tehater (über deren klugen Klamauk Irene Bazinger in der FAZ "herzlich kalt" lachen kann, Nachtkritik, Tsp).
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Film

Die "Major Studios" verdienen diese Bezeichnung im Grunde gar nicht mehr, schreiben Anne Thompson und Dana Harris-Bridson in IndieWire: Die Studios haben längst ihren Glanz verloren und sind wirtschaftlich längst nicht mehr die stärksten Pferde im Stall - ihr Rang in der Hierarchie der Konzerne, in die sie eingebettet sind, sinkt. "Gut möglich, dass ihre Budgets gekürzt werden", denn "die Finanziers und Studios brauchen eine neue Sprache und Flexibilität. ... Von den globalen Lockdowns schwer getroffen, sind auch die großen Kinoketten Opfer ihrer großen Ausgaben, drückenden Schulden, Mietkosten und vor allem ihrer Realitätsleugnung. Schon vor der Pandemie hätten sie mit den Studios kürzere Verleihfenster und Gewinnbeteiligung aushandeln können. Sie zögerten zu lange. Der Thriller 'The Woman in the Window', den Disney aus seiner Fox-Akquise erbte, ist ein gutes Beispiel für ein prominent besetztes Projekt, das - wie sehr es auch enttäuschen mag - normalerweise im Kino gezeigt worden wäre." Doch "heutzutage verkaufen die Studios ihre schwachen Titel an Netflix. Amazon und Apple. Nur die mächtigsten Stars und die Spielbergs dieser Welt werden künftig noch dazu in der Lage sein, eine garantierte Kinoauswertung einfordern zu können."

Filmarbeit unter Coronabedingungen ist belastend, "aber klagen können wir nicht", schreibt der Filmproduzent Friedrich Oetker in der SZ. Der Grund dafür: Volle Auftragsbücher dank des hektischen Engagements nicht zuletzt der Streamingdienste. "Die momentane Konjunkturlage trägt tatsächlich goldrauschhafte Züge; es wird auf allen Zylindern produziert und gesendet. Aufgrund der vielen Dreharbeiten fehlt es an Fachkräften, doch aus der Not wird eine Jugend gemacht. Wer gestern dem Kameramann assistierte, kann heute selbst schon einer sein. Die Pandemie ist pure Disruption, ein Stresstest für die deutsche Filmlandschaft; Jan Böhmermann hätte seine helle Freude."

Außerdem: Isabella Caldart spricht für 54books mit der Intimitätskoordinatorin Lizzy Talbot, die beim Film dafür zuständig ist, dass Liebes- und Sexszenen beim Film für alle Beteiligten so safe wie möglich über die Bühne gehen.

Besprochen werden Nicolás Rincón Gilles auf Mubi gezeigtes Filmdebüt "Valley of Souls" (ZeitOnline), Luca Lucchesis Dokumentarfilm "Black Jesus" (Tagesspiegel), Walentyn Wassjanowytschs auf Mubi gezeigter Film "Atlantis" (Freitag), Chloé Zhaos Oscarerfolg "Nomadland", der in Österreich jetzt im Kino läuft (Standard), die Instagram-Serie "Ich bin Sophie Scholl" (NZZ), die belgische Serie "The Bank Hacker" (Jungle World) und die Netflix-Serie "The One" (NZZ).
Archiv: Film

Literatur

Literaten und Journalisten kommen einfach nicht zusammen, kommentiert Mladen Gladic in der Welt augenzwinkernd die Fehde der letzten Tage zwischen Peter Handke und Michael Martens von der FAZ (unsere Resümee). Wobei: "Seit dreißig Jahren schreibt und tut Peter Handke Dinge, die Unverständnis bei großen Teilen der journalistischen Zunft hervorrufen. Mancher wird es Widerstreit nennen, zwei Weisen des Sprechens, die nie in Dialog treten, weil sie unterschiedlichen Regeln folgen. Mancher wird mittlerweile, wenn auch zynisch, an eine dreißigjährige Symbiose denken."

Weitere Artikel: Alexander Menden berichtet in der SZ von der digitalen Lit.Cologne. Johanna Adorján holt für die SZ Philip Roths Biografie über seinen Vater aus dem Regal. In der NZZ schreibt Roman Bucheli zum hundertsten Geburtstag des Lyrikers Giorgio Orelli.

Besprochen werden unter anderem Silvia Tschuis "Der Wod" (NZZ), Naoise Dolans "Aufregende Zeiten" (FR), Zeruya Shalevs "Schicksal" (online nachgereicht von der FAS), Anna Baars Erzählung "Nil" (Tagesspiegel), Taeko Konos Storyband "Toddler Hunting and Other Stories" (Guardian), Ann Cottens Neuübersetzung von Rosmarie Waldrops "Pippins Tochters Taschentuch" (Standard), Lisa Krusches "Unsere anarchistischen Herzen" (Zeit), Harry Martinsons Essayband "Schwärmer und Schnaken" (SZ) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Oliver Jeffers' "Was wir bauen" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Albrecht Schöne über Johann Caspar Schades "Ohne Titel":

"GOTT / du bist mein GOTT.
bistu mein GOtt?
GOtt du bist mein.
..."
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Musik



Im wesentlichen einig sind sich die Kritiker, dass die italienische Rockgruppe Måneskin so verdient wie zu erwarten den Eurovision Song Contest gewonnen hat. Ein gehöriges Maß an Fremdscham rief hingegen der deutsche Beitrag "I Don't Feel Hate" von Jendrik hervor, der darin für mehr Mitleid und weniger Hass plädiert. "Beim Anhören und Betrachten seiner Darbietung konnte man sich zwischen diesen Gefühlsregungen nur schwer entscheiden, so hilflos strauchelte Jendrik mit seiner Ukulele kieksend und kichernd durch einen Song, der alle paar Sekunden wieder abrupt die Richtung wechselte, vom drolligen Do-It-Yourself-Straßenmusiker-Geklampfe zu kreischenden Bollerpop- und Welchen-Sound-haben-wir-da-noch-Bumsbeat-Passagen und wieder zurück", schreibt Jens Balzer mit langem Satzbau-Atem auf ZeitOnline.

Dieses Debakel hätte man nun wirklich kommen sehen können, schreibt Elmar Kraushaar in der Berliner Zeitung. "Kaum ist der vorletzte Platz besiegelt, müht sich der langjährige ESC-Kommentator Peter Urban um eine Erklärung. Der Titel sei wohl zu schwierig und nicht verständlich für das europäische Publikum, mutmaßt Urban in völliger Realitätsverweigerung." Völlig verzweifelt ist auch Joachim Huber, der im Tagesspiegel nicht fassen mag, dass es in Deutschland Jahr um Jahr heißt, künftig werde man es besser machen und dann kommt noch nur wieder ein kalter Null-Punkte-Regen. Weitere Resümees des Wettbewerbs in SZ, Tagesspiegel , in  der taz und im Standard.

Außerdem: Über das lange Wochenende nachgereichte Geburtstagsgrüße zum 80. von Bob Dylan (hier der erste Schwung) bringen NZZ, Welt, Standard, taz, Guardian und Freitag. Die Jungle World hat derweil Magnus Klaues Cher-Hommage zum 75. Geburtstag der Sängerin online nachgereicht. Josef Oehrlein schreibt in der FAZ zum Tod des Komponisten Cristóbal Halffter.

Besprochen werden das neue Album von Jan Delay (Tagesspiegel), neuaufgelegte Alben von My Bloody Valentine (Jungle World), Igor Levits Buch "Hauskonzert" (Welt), das Comebackkonzert der Wiener Philharmoniker vor Publikum (Presse) und neue Klassikveröffentlichungen, darunter neue Mozart-Aufnahmen des Klangkollektivs Wien unter Rémy Ballot ("was nach dem Presto-Beginn kommt, ist an Plastizität und Klangschönheit kaum zu überbieten", schreibt Helmut Mauró in der SZ).
Archiv: Musik