Efeu - Die Kulturrundschau

Mit sommerlicher Grazie

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06.07.2021. Heute eröffnen die Filmfestspiele von Cannes. Im Standard spricht die Kamerafrau Agnès Godard, die dort für ihr Lebenswerk geehrte wird, über ihre Arbeit mit Claire Denis. Die FR freut sich, von Francis Poulencs Oper "Dialogues des Carmélites" richtig gefordert zu werden. Das Pop-Magazin und die SZ diskutieren über moralisch banale Wohlfühlliteratur  beziehungsweise schlechten Liberalismus. Die taz betrachtet lächelnd die Kniestumpf-Steifheit in den Familienfotos von Arbeitsmigranten. Artnet feiert die Neue Frau. Und der Bubblegum-Soul von The Go! Team geht der Jungle World runter wie Öl.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.07.2021 finden Sie hier

Literatur

In der SZ reagiert Marie Schmidt auf Moritz Baßlers eben vom Magazin Pop. Kultur und Kritik online gestellte Kritik daran, wie sich Identitätspolitik in der Gegenwartsliteratur und deren Rezeption niederschlägt: Unter dem Schlagwort "der neue Midcult" sieht der Literaturwissenschaftler das Umkreisen von Partikularinteressen, eine rein affirmative Lesart und die Privilegierung von Themen und Milieus zuungunsten literarischer Ambitionen. "Das Neue gegenüber dem alten 'Murakami-Franzen-Schlink-Knausgård-Ferrante-Kehlmann-Komplex' sieht Baßler darin, dass der 'Wohlfühltext' jetzt auch mit weltanschaulich-moralischen Selbstverständlichkeiten ausgestattet und durch Biografie und Identität der Autorin beglaubigt werde. Das Ergebnis bleibe: 'Kitsch.' ... Wie alle Interventionen im Sinne 'der' Ästhetik grosso modo oder des Universalismus gegen das Klein-Klein des Moralischen hört sich diese Argumentation kraftvoll an. Nur geht sie an konkreten Beispielen, hier Romanen, so gut wie nie auf. Besonders Olivia Wenzels '1000 serpentinen angst' gegenüber ist Baßler so rasend unsachlich, dass sich dabei ein schlechter Liberalismus selbst verrät. Allein weil er dem Buch einen realistischen Autobiografismus und eine personale Mitsicht mit der Erzählerin unterstellt und übergeht, dass der ganze Roman in einem Dialog mit einem frei flottierenden Gegenüber oder Alter Ego besteht, einer dezidiert formal verunsicherten Erzählperspektive."

Außerdem: Matthias Warkus berichtet auf 54books von seinen Lektüren zuversichtlich stimmender Bücher. Für die Dante-Reihe der FAZ wirft Alexander Heinemann gemeinsam mit dem italienischen Dichter einen Blick aufs unweit vom Höllenschlund liegende Grab von Papst Anastasius II.

Besprochen werden unter anderem Colin Niels Krimi "Nur die Tiere" (FR), Viet Thanh Nguyens Krimi "Die Idealisten" (online nachgereicht von der FAZ), Joachim Lottmanns "Sterben war gestern" (SZ) und John Clares Gedichtband "A Language That is Ever Green" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Juliette Binoche in Claire Denis' "Meine schöne innere Sonne" von 2017

Tim Caspar Boehme (taz), Andreas Busche (Tagesspiegel) und Daniel Kothenschulte (FR) sind gespannt aufs Filmfestival in Cannes, das heute mit einem selten gesehenen Aufgebot an hochkarätigen Filmen, aber auch einem etwas "erratischen Corona-Protokoll" (Busche) beginnt. Das Festival, das sich notorisch schwer damit tut, Filme von Frauen in nennenswerter Zahl in den Wettbewerb vordringen zu lassen, ehrt in diesem Jahr Agnès Godard mit dem Pierre Angénieux Tribute. Dominik Kamalzadeh hat für den Standard mit der Kamerafrau zur Lage von Frauen in der Filmproduktion und über ihre langjährige Zusammenarbeit mit Claire Denis gesprochen. "Es sind zuallererst filmische Begegnungen. Wir haben zur gleichen Zeit begonnen, es war wohl eine gewisse Vorstellung von Film, die uns wechselseitig befruchtet hat. Für mich war es ein Spaziergang in eine Welt, die mir nicht vertraut war. Ich musste jedes Mal erst meinen Weg finden. Vielleicht ist es der Glaube an das Kinematografische, der uns verbindet. Das klingt so mystisch, obwohl ich das gar nicht bin. ... Es bleibt immer ein wenig offen, was am Set passiert - wie bei einer chemischen Reaktion. Das ist ihr großes Talent: die Bedingung für etwas zu schaffen, das man noch nie gesehen hat. Es ist keine Wiederholung, sondern immer die Geburt einer Szene. Zu Beginn war ich unsicher, weil man hinter der Kamera auf so viel Technisches achten muss, aber ich lernte, der Intuition Raum zu gewähren."

Richard Donner ist tot. Mit Fug und Recht lässt er sich als einer der Mitbegründer des modernen Actionkinos bezeichnen: Er schenkte dem Horrorkino mit "The Omen" einen modernen Klassiker, erfand danach mit "Superman" den effektgetriebenen Superhelden-Blockbuster, legte unter Produzent Steven Spielberg mit "Die Goonies" einen Klassiker des 80s-Kino hin, das heutigen nostalgischen Projekten als Referenzpunkt dient, und erfand später mit "Lethal Weapon" obendrein noch das Buddy-Cop-Movie modernen Formats. Erste Nachrufe bringen die L.A. Times, die New York Times und Variety.

Weitere Artikel: Marus Nobach berichtet im Filmdienst von den ersten Tagen des Filmfests München. Karina Urbach erinnert in der taz an den Schauspieler und Regisseur Georg Marischka, der sich im "Dritten Reich" gegen die Nazis ausgesprochen hatte, dafür im Gefängnis gelandet ist und später dazu verdammt war, wegen seiner fülligen Gestalt im Kino den Nazi zu geben.

Besprochen wird Dominik Grafs "Fabian oder Der Gang vor die Hunde", der in der Schweiz schon jetzt startet (Filmbulletin, NZZ).
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Bühne

Maria Bengtsson und Florina Ilie in "Dialogues des Carmélites". Foto: Barbara Aumüller / Oper Frankfurt

Tut das gut, in einer Oper mal wieder gefordert zu werden, ruft Sylvia Staude in der FR nach Claus Guths Inszenierung von Francis Poulencs "Dialogues des Carmélites" an der Oper Frankfurt. Das Stück erzählt von sechzehn Nonnen, die nach der Französischen Revolution 1794 hingerichtet werden sollen, weil sie ihr Gelübde nicht brechen wollen: "Die Nonnen, die in Frankfurt bloß eine Gruppe Frauen sind, haben zweifellos Angst, große, durch den Körper gehende Angst. Die Szene, in der sie über ihr Schicksal in geheimer Wahl entscheiden, ist extrem erschütternd. Die Wahl: gemeinsam sterben oder alleine ein nicht gewünschtes Leben leben (da, wie gesagt, das Religiöse gedimmt ist, fast ausgeblendet). Guth erweckt den Eindruck, dass es wirklich eine Wahl ist. Zugleich wird klar, dass Druck ausgeübt wird - es ist eine markant unverlogene Inszenierung -, denn Mère Marie, Claudia Mahnke, macht kein Hehl daraus, was sie für richtig hielte. Sie und die neue Priorin, Ambur Braid, machen die Erzählung auch zu einer Oper über persönliche Verantwortung. Vielleicht ist das so besonders spannend, weil es nicht um Politik geht. Und nichts Frömmlerisches, nicht einmal etwas Frommes haftet Mère Marie an, auch Ambur Braid nicht, Ambur Braid ohnehin nicht."

In der FAZ ist Jan Brachmann zwar mit Guths Inszenierung nicht ganz einverstanden, aber von der Vielfalt weiblicher Stimmen ist auch er hingerissen: "Ambur Braid als neue Priorin verströmt die Güte eines Glaubens, der Gewissensangst nicht für gottgewollt hält. Sogar das Weinen über das von den Nonnen voreilig abgelegte Martyriumsgelübde nimmt ihr Singen auf, ohne sich als Gesang preiszugeben. Florina Ilie als Schwester Constance verschenkt ihre Stimme mit sommerlicher Grazie. Ihr Sopran, warm und hell, beglaubigt durch klingende Evidenz eine Lebensfreude, die den Tod immer schon umarmt hat. Claudia Mahnke als Schwester Marie zeichnet das komplexe Charakterporträt einer Zerrissenen: Machthunger und Barmherzigkeit, Glaubensfundamentalismus und Kleinmut stecken gleichzeitig in ihr."

Besprochen werden Felicitas Bruckers Inszenierung von Wolfram Lotz' Stück "Die Politiker" (SZ), Michel Decars "Die Reise nach Kallisto" in den Frankfurter Kammerspielen (FR, Nachtkritik) und die Uraufführung von Manuela Infantes Collage "Noise. Das Rauschen der Menge" am Bochumer Schauspielhaus (FAZ) und die Aufführungen beim Opernfestival in Aix-en-Provence (Welt).
Archiv: Bühne

Kunst

Onur Dülger vor dem Ford-Arbeiterwohnheim Köln, 1965, Foto: Onur Dülger, DOMiD-Archiv, Köln

Berührende Geschichten erlebt taz-Kritikerin Regine Müller in der Foto-Ausstellung "Vor Ort" im Kölner Museum Ludwig, die das Leben von ArbeitsmigrantInnen in Deutschland in privaten und professionellen Bildern zeigt: "Die Farbfotos der familiären Sonntagsausflüge ab den späten 1960er Jahren vor Blumenrabatten und Springbrunnen sind in ihrer brav ausstaffierten Kniestrumpf-Steifheit von Fotos deutscher Familien jener Zeit nicht zu unterscheiden: die Kinder im Sonntagsstaat mit demonstrativ präsentiertem Spielzeug oder Wohlstandsnachweisen wie Kofferradios, die Frauen in kniekurzen Röcken ohne Kopftücher, die Männer in korrekten Anzügen mit Krawatte. Im Kontrast zu diesen Fotos, die überwiegend Optimismus transportieren und ersten bescheidenen Wohlstand, stehen Dokumentarfotos von Jörg Boström im Kapitel 'Schaffen von Möglichkeitsräumen', der in Duisburg düstere Innenhöfe und endzeitliche Industrielandschaften fotografierte, in denen verloren wirkende Kinder spielen."

Ilse Bing, Selbstporträt mit Leica, 1931. Bild: Metropolitan Museum 

Hellauf begeistert ist Nancy Kenney in einem fantastisch bebilderten Text in Artnet von der Schau "The New Woman Behind the Camera" im Metropolitan Museum in New York, die den großen Fotografinnen huldigt, die sich in den zwanziger Jahren eine Leica schnappten, um die neue Frau in Szene zu setzen, soziale Not in den USA und das Kriegsgeschehen in Europa zu dokumentieren. Von Ilse Bing, Germaine Krull und Lucia Moholy bis zu Dorothea Lange, sind alle dabei. Auch in der SZ freut sich Christian Zaschke, Fotografinnen wie Lee Miller und Margaret Bourke-White zu entdecken.

Besprochen werden die Gustave-Caillebotte-Schau in der Fondation Pierre Gianadda in Martigny (NZZ) und Damien Hirsts "Cherry Blossoms" in der Fondation Cartier in Paris (FAZ).
Archiv: Kunst

Design

Das Fishnet kehrt zurück, beobachtet tazlerin Elisabeth Wagner: Gefühlt kaum ein aktueller Entwurf, kaum ein Kleidungsstück und Accessoire, das ohne auskommt. "Im Netz ist die Beute. Der Fang. Dieser offensichtliche Zusammenhang macht das Fishnet für die bürgerliche Mode kompliziert. Denn worüber sie lieber schweigen möchte, zeigt das Netz vor aller Welt her." Somit ist "das Risiko der Blamage in Bezug auf das Fishnet maximal hoch. Umso interessanter ist er ja, der Trend. Könnte es nicht sein, dass er nach eineinhalb Jahren tiefer Krise besonders geeignet ist, um über Angst und Verlust zu sprechen? Die spannenden Inszenierungen von Fishnet nehmen die Herausforderung an. ... So sehr wie kein anderes Textil in der Mode ist das Fishnet ein Phänomen der Grenze. Es gehört dazu, und auch wieder nicht. In diesem Spannungsverhältnis wird es zu einer List der Mode."

Besprochen wird Nina Holleins und Philipp Schweigers Ausstellung "Palindrome - Mode und Malerei" im Kunstverein Familie Montez in Frankurt am Main (taz).
Archiv: Design
Stichwörter: Fishnet, Mode

Musik

Für die Jungle World holt sich Maik Bierwirth seine nötige Portion gute Laune für den Sommer auf "Get Up Sequences Part One", dem neuen Album von The Go! Team ab. Bereits seit den mittleren Nullerjahren verbindet das Projekt um Ian Parton und die Rapperin Ninja eklektizischte Samples mit aufpeitschendem Cheerleader-Gesang. "Für die neueste Single "A Bee Without Its Sting" wurden die Teenagerinnen Jessie Miller und Rian Woods vom Chor der Detroit Academy for Arts and Sciences als juvenile Gastsängerinnen engagiert, die dem Stück einen noch unbefangeneren Charakter verleihen. Der herzerweichende Bubblegum-Soul des Songs ist deutlich geradliniger als viele der sonstigen Stilcollagen mit ihren unerwarteten Brüchen und Übergängen. Es handelt sich um ein Protestlied, dem diese idealistische Direktheit ohnehin guttut, wenn Miller und Woods geradezu beiläufig von Selbstorganisation und Selbstermächtigung singen, die Stück für Stück, in kleinen Schritten und dadurch unaufhaltsam erfolgen soll."



Außerdem: Dirk Peitz verschafft auf ZeitOnline einen Überblick über die aktuellen Debatten über Britney Spears, die sich aus ihrer Entmündigung zu befreien versucht. Thomas Schacher berichtet in der NZZ von den Plänen des Tonhalle-Orchesters Zürich für die kommende Saison. Harry Nutt (FR), Jan Feddersen (taz), Manuel Brug (Welt) und Andrian Kreye (SZ) schreiben Nachrufe auf Bill Ramsey.

Besprochen werden neue Klassikveröffentlichungen, darunter Elisaveta Bluminas CD mit Aufnahmen von Grigori Frieds Klavierkompositionen für Kinder aus den Jahren 1952 bis 1960 (SZ). Wir hören rein:

Archiv: Musik
Stichwörter: The Go!team, Soul, Schach, Detroit