Efeu - Die Kulturrundschau

Strategisches Vertippen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.11.2021. Der Filmdienst unterhält sich mit Vanessa Lapa über ihre Doku "Speer goes to Hollywood". Die NZZ empfiehlt neue Literatur aus Grönland. Die FAZ lernt im Münchner Architekturmuseum, wie man Obdachlosen helfen kann. Standard und Zeit begreifen nicht, warum Damon Albarn sein neues Album in Island aufgenommen hat: Nebel gibt's schließlich überall. Dem Tagesspiegel sitzt die Antimaterie eines Pollesch-Abends in den Knochen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.11.2021 finden Sie hier

Film

Unbekanntes Material: Speer beim Dreh 

Der gute, anständige Nazi - so präsentierte sich Albert Speer in seinen Memoiren, die der Drehbuchautor Andrew Birkin in den Siebzigern sogar in Hollywood verfilmen wollte. Daraus wurde nichts, aber auf Grundlage der Tonbandaufnahmen, die damals mit Speer entstanden, hat Vanessa Lapa nun den Dokumentarfilm "Speer goes to Hollywood" zusammengestellt. Ihr Ziel war es, den Speer-Mythos zu knacken, verrät sie dem Filmdienst. Visuell war der Film eine Herausforderung: "Ich wollte unbekanntes Material finden, das wir noch nie gesehen hatten. ... Im Bundesarchiv fand ich drei Filmrollen, und es war sehr interessant, hier Speer und Hitler mit den Modellen zu sehen und dieses Beieinander nicht künstlich über Spezialeffekte zu konstruieren." Zwar "ist es sehr einfach, bekanntes Archivmaterial zu benutzen", doch "es ist deprimierend zu sehen, wie viel Material es gibt und dass die Filmemacher trotzdem immer wieder auf dieselben Bilder zurückgreifen. Vielleicht liegt es am Budget, das Produktionen zur Verfügung steht. Sie haben kein Geld, um zu recherchieren, um Bilder zu digitalisieren oder zu restaurieren. Dabei ist es so wichtig, Bildmaterialien zu finden und zu benutzen; sie verrotten sonst und verschwinden."

Außerdem: In der FAZ gratuliert Andreas Kilb dem chinesischen Filmemacher Zhang Yimou zum 70. Geburtstag. Besprochen werden Lee Daniels' Dokumentarfilm "Billie" über Billie Holiday (Jungle World), Andreas Kleinerts "Lieber Thomas" über Thomas Brasch (Filmdienst, mehr dazu hier und dort), Maura Delperos "Maternal" (Filmdienst), Ferdinand von Schirachs RTL-Miniserie "Glauben" (Freitag), Edgar Wrights Horrorfilm "Last Night in Soho" (Presse, FAZ, unsere Kritik hier), die auf AppleTV+ gezeigte Serie "Der Therapeut von nebenan" mit Will Ferrell (FAZ), der Arte-Krimi "Alles auf rot" (FAZ), die Disney-Serie "Dopesick" über die Opioidkrise in den USA (ZeitOnline) und das auf Disney+ gezeigte Remake von "Kevin Allein zu Haus" (ZeitOnline).
Archiv: Film

Literatur

In der grönländischen Literatur tut sich was, schreibt Anna Gielas in der NZZ. Autorinnen wie Niviaq Korneliussen, Sørine Steenholdt und Rachel Qitsualik-Tinsley überschreiten Genregrenzen, spielen mit Tropen aus Science-Fiction und Horror, sie erkunden queere Zwischenregionen und überwinden traditionelle Haltungen: "'Zuvor schrieben ältere männliche Schriftsteller über religiös-spirituelle Themen, wobei eine elegante Diktion in korrekter Sprache eine wichtige Rolle spielte', sagt Ebbe Volquardsen, Kulturhistoriker an der Universität von Grönland. Dagegen gestaltet Korneliussen ganze Kapitel als Whatsapp-Dialoge. Ihre Charaktere schreiben und sprechen, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist - und verlieren mitunter den Überblick. Korneliussens strategisches Vertippen ist ein einschneidender literarischer Akt. ... Die Inuit verwandeln ihre arktischen Heimatgebiete in eine vielfältige Literaturlandschaft. Uns ist diese literarische Nordwestpassage immerhin vereinzelt zugänglich."

Anlässlich der Europäischen Literaturtage in Krems unterhält sich Andrea Heinz für den Standard mit der Schriftstellerin Felicitas Hoppe über das Reisen und die kürzlich aufgeflammte Debatte, ob sich die Gegenwartsliteratur vor dem Klimawandel versteckt: Gezeigt hat sich ihr dabei , "dass man in den Feuilletons offenbar immer noch nicht begriffen hat, dass Literatur und Journalismus nach wie vor zwei Paar Schuhe sind. Wer schreibend in aktuelle Debatten eingreifen will, kann und soll dies ohne Not tun. Doch ein Pamphlet oder ein Aufruf sind keine Literatur. Literatur ist auf andere Weise politisch und damit manchmal 'politischer' als jeder Zeitungsbericht, weil sie die Probleme des menschlichen Miteinanders auf ihre ganz eigene Weise benennt. "

Weitere Artikel: Mladen Gladic führt in der Welt ein geradezu episches Gespräch mit der Soziologin Carolin Amlinger über die gesellschaftliche Position und Situation von Schriftstellern - wozu sie gerade auch eine große Studie verfasst hat. Für die SZ wirft Cornelius Pollmer einen ersten Blick in Roger Willemsens Nachlass, der fünf Jahre nach seinem Tod an die Akademie der Künste in Berlin ging: Gefasst ist er in "108 Archivkästen, 151 Aktenordner, 2200 audiovisuelle Materialien. Ein Schatz im unendlichen Silbensee alles auf dieser Welt je Gesagten, Gesprochenen, Gefühlten." Der Dlf Kultur bringt eine "Lange Nacht" von Sven Brömsel über die Schriftstellerin Dagny Juel. Hannes Hintermeier berichtet in der FAZ von der österreichischen Buchmesse "Buch Wien", wo sich in diesem Jahr mit Russland auch ein Gastland präsentiert. Die FAZ dokumentiert Anne Webers Schillerrede.

Besprochen werden unter anderem Arthur Koestlers "Der Sklavenkrieg" (taz), Caroline Arnis "Lauter Frauen" (SZ) Can Dündars und Mohamed Anwars Comic "Erdoğan" (Tagesspiegel), Nadifa Mohameds "Der Geist von Tiger Bay" (FR), Pascal Dessaints "Verlorener Horizont" (Freitag), Jens Sparschuhs "Die Matrosen der Schweiz" (taz) und Helmut Böttigers "Die Jahre der wahren Empfindung" über die deutsche Literatur der Siebziger (FAZ).
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Kunst

Michail Wrubel, Gestürzter Dämon, 1902. Foto: Wikipedia


In der FAZ stellt Kerstin Holm den Jugendstilmaler Michail Wrubel vor, dem die Neue Tretjakow-Galerie in Moskau gerade eine Retrospektive widmet. Im Zentrum, so Holm, stehen Wrubels Dämon-Bilder, die er zwischen 1890 und 1902 malte, so auch der "Fliegende Dämon" von 1899, "ein extremes Querformat, auf dem die Figur in anatomisch unmöglicher Verdrehung mächtige finstere Flügel ausbreitet und vom Raum zugleich wie in einer Höhle eingequetscht wirkt. Das lange als unvollendet abgetane Bild landete zu Sowjetzeiten im Russischen Museum. Der 'Gestürzte Dämon', der in nahezu der gleichen Verrenkung im Pfauenfederkranz in einer Senke hingestreckt liegt, schließt 1902 das Thema ab. Das Bild wurde von den Zeitgenossen sogleich als tragische Prophezeiung wahrgenommen, und Wrubel, der fieberhaft daran arbeitete, es veränderte und variierte, wurde danach zum Psychiatriepatienten."

Astrid Kaminski (taz) entdeckt am Bauhaus Dessau die Theaterkonzepte des sowjetischen Künstlers Solomon Nikritin. In der SZ berichtet Kai Strittmatter von der Eröffnung des Kunstmuseums M+ in Hongkong, in der taz schreibt Fabian Kretschmer. Peter Kropsmann schreibt in der NZZ zum 100. Geburtstag des Malers Maler Fernand Khnopff.

Besprochen werden die Ausstellung "Liebe, Kriege, Festlichkeiten - Facetten der narrativen Kunst aus Japan" im Zürcher Museum Rietberg (Tsp)
Archiv: Kunst

Bühne

Dieses Dercon-Gefühl! Szene aus "Herr Puntila und das Riesending in Mitte". Bild: © Luna Zscharnt


Mit hängenden Köpfen kommen in den letzten Tagen die Kritiker aus der Pollesch-Premiere von "Herr Puntila und das Riesending in Mitte" an der Berliner Volksbühne. Bisschen links sein reicht irgendwie auch nicht für gutes Theater: "Wer hätte gedacht, dass sich so schnell ein Dercon-Gefühl einstellen würde - dass es so nicht geht, dass etwas grundsätzlich nicht stimmt und nicht stimmen kann", fragt ein bedröpster Rüdiger Schaper im Tagesspiegel. "Pollesch-Abende verströmen Antimaterie. Man fühlt sich wie in einem Loch, das Energie absaugt." In der SZ kann Peter Laudenbach kaum glauben, wie lustlos die Volksbühne wirkt: "Der Spielplan ist erstaunlich dünn. Neben drei Übernahmen und einem Dilettanten-Abend der Jugendabteilung des Hauses ... ist die gelangweilte neue Pollesch-Show auf der großen Bühne exakt die zweite Premiere in dieser Spielzeit. Das ist ein Armutszeugnis."

Weiteres: Michael Bartsch schreibt in der nachtkritik zum Auftakt des "Fast Forward"-Regiefestivals 2021 am Staatsschauspiel Dresden mit Wiktor Bagińskis "Serce (Herz)" vom TR Warschau. Besprochen wird Jérôme Junods "Artus, letzte Schlacht" im Schauspielhaus Salzburg (nachtkritik).
Archiv: Bühne

Musik

Christian Schachinger gibt im Standard nach seinen Tipps zum Hören des Debütalbums von Gewalt (unser Resümee) anlässlich des neuen, beim Blick auf isländische Landschaften entstandenen Soloalbums des früheren Blur-Musikers Damon Albarn auch weiterhin gute Ratschläge zum Hören eher düsterer Musik: "Wenn man die isländischen Berge durch ein Wiener Einkaufszentrum ersetzt, die Karglandschaft am tosenden Meeresstrand durch eine laute Einfallsstraße, die Nebelsuppe einfach Nebelsuppe sein lässt und statt Islandponys beim Grasen den BMWs beim Rasen zuschaut, kommt man auch recht schnell in die ideale Stimmung für die neuen Lieder des fleißigen britischen Musikers." Sicher gibt es auch geglückte Momente auf dem Album, meint Daniel Gerhardt auf ZeitOnline, aber darauf findet sich im wesentlichen doch "die Musik von 15 Menschen, die nach Island eingeflogen wurden, um aus einem Fenster zu gucken, hinter dem man nur Nebel sieht. Schnell drohen die Schöngeistigkeit und Feingliedrigkeit des Albums ins Saturierte zu kippen." Wir wagen ein melancholisches Ohr:



Anlässlich einer neuen Single von Kenny G, für die der Jazzsaxofonist eine KI mit den Tönen des 1991 verstorbenen Cool-Jazz-Pioniers Stan Getz gefüttert hat, referiert Andrian Kreye in der SZ die lange Geschichte des überwältigendes Hasses, der den für seine süßlichen Anschmiegsamkeiten berüchtigten Kenny G seit Jahrzehnten aus Jazzkreisen trifft und in den auch Andrian Kreye einsteigt: Die vorliegende Single "beginnt mit einem dieser Schalmeienschreie, worauf Stan Getz' KI-Töne von einem perlenden Klavier und einem dieser kastrierten Streichersätze ohne Celli und Bässe in eine Schlafliedmelodie gebettet werden, bevor sich Kenny G dann wieder mit seinem Dentalbohrton aufdrängt." In leichter Wehmut schwelgen wie sonst nur beim Zahnarzt auf dem Stuhl, so klingt's:



Besprochen werden außerdem Conrad Steinmanns in vielen Jahren entstandene Studie "Nachklänge - Instrumente der griechischen Klassik und ihre Musik" (NZZ), das Comeback-Album von Diana Ross (NZZ, FR), ein Konzert der Jazztrompeterin Jaimie Branch (Tagesspiegel) und Snail Mails Album "Valentine" (SZ)
Archiv: Musik

Architektur

Blick in eins der privaten Zimmer im VinziRast Mittendrin, einem dauerhaften Wohnprojekt für ehemals Obdachlose und Studenten. Architekturbüro gaupenraub. Foto: Simon Jappel


Sichtlich inspiriert, das Thema Wohnungslosigkeit anzugehen, berichtet Brita Sachs in der FAZ von der Ausstellung "Who's next?" im Architekturmuseum der Münchner Pinakothek: "Um unterschiedliche Zielgruppen zu versorgen - ein Mensch mit Behinderung braucht andere Einrichtungen als die alleinerziehende Mutter mit drei Kindern -, arbeiten viele Architekten mit vorgefertigten Bauteilen, was flexible Gestaltung erlaubt und außerdem Bauzeit und Kosten spart. Die 'Star Apartments' in Los Angeles sitzen wie ein weißes Dorf aus ein- bis vierstöckigen Modulen auf einem ehemaligen Geschäftsgebäude. Selbstbewusst und originell will die offene Form zur umgebenden Stadt vermitteln und das Thema Obdachlosigkeit aus der Verdrängung holen."

Viel Positives wurde in der deutschen Presse über das neue Depot des Boijmans Van Beuningen Museums geschrieben. Im Guardian ist Oliver Wainwright deutlich kritischer: Was man im Lager für einen Eintrittspreis von 20 Euro sehen kann, sind vor allem die Sammlungen großer Firmen.  So ist das Depot "vor allem ein Schaufenster für große Marken. Außerdem stellt sich die grundsätzliche Frage, wie gut eine runde Schale für die Aufbewahrung von Kunst geeignet ist. ... 'Es ist nicht dysfunktional', sagt die Ko-Direktorin von Boijmans, Ina Klaassen, 'aber es war eine Herausforderung. Natürlich wäre ein rechteckiges Gebäude einfacher gewesen, aber das hier macht so viel mehr Spaß. Wir wollten etwas Ikonisches.' Das ist die Achillesferse des Museums. Derzeit wird das schöne Gebäude aus den 1930er Jahren für 260 Mio. Euro renoviert, unter der Leitung der Ikonen-Macher Mecanoo, deren verworrener Plan den Abriss eines ganzen (preisgekrönten) Flügels vorsieht, der erst 2003 für 17 Millionen Euro gebaut worden war. Die Architekten Robbrecht und Daem verklagen das Museum, um den Abriss zu verhindern. Es fällt schwer, das Vorhaben nicht als einen Akt von verschwenderischem Vandalismus zu betrachten, vor allem angesichts der Klimakrise."
Archiv: Architektur