Efeu - Die Kulturrundschau

Berührung wird möglich

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.11.2021. Die erschöpften Theaterkritiker von Standard, taz und Nachtkritik erholen sich in der Hamburger Signa-Performance "Ruhe" mit Birkenrohrling-Tee, Aal-Ritualen und afrikanische Riesenschnecken. In der FAS bekennt Jane Campion ihr Mitgefühl für Western-Scheusale. Der Freitag fragt, woher der große Wille zur Poesie rührt, wenn Männer über ihre Mütter schreiben. Die SZ wünscht sich von der Architektur den Einfallsreichtum eines Günther Ludwig Eckert, der die Biosphären retten wollte, indem er die Menschheit in eine weltumspannende Röhre pferchte.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.11.2021 finden Sie hier

Bühne

Berührung wird möglich: Signas "Die Ruhe". Foto: Erich Goldmann / Schauspielhaus

Einen intensiv-immersiven Abend verdankt taz-Kritikerin Katrin Ullmann der Performance "Die Ruhe" des dänisch-österreichischen Kollektivs Signa im Hamburger Paketpostamt Altona, natürlich auch viel zu persönliche Fragen, Grenzüberschreitungen und einen Gang in den Erlebnisraum Wald: "Dass dieser Wald kein so guter Ort ist, merkt man bald. Zu verstört wirkt Aurel, zu stockend ist seine Erzählung, zu tränenschwer sein Blick. Nach einer gemeinsamen Tasse modrigen Birkenrohrling-Tees sollen wir alles mitgebracht Unruhige ablegen und fortan in einer hellgrauen 'Kuschel-Tracht' von Raum zu Raum gehen. Dort breiten Spieler*innen ihre surrealen Träume über uns aus wie bleierne Gewitterwolken, animieren uns in Gummistiefeln zu kreiselnden Aal-Ritualen oder lassen eine afrikanische Riesenschnecke über unsere ineinander verwobenen Handflächen (meine Hand liegt ganz, ganz unten!) gleiten und immer wieder tief in den Bauch atmen."

Im Standard genießt Bernhard Doppler die Produktion als "sechsstündigen Kuraufenthalt gegen Erschöpfung, Verwirrung und Traumata." Michael Laages kann sich dem Signa-Sog eh nicht entziehen, wie er freimütig in der Nachtkritik zugibt, diesem Mix aus Ökologie, Psychologie und ein bisschen Esoterik: "Wieder überwältigt Signa mit Bildern, aber auch mit Gedanken, die nicht unbedingt und immer zu zu Ende gedacht werden wollen und müssen - die aber Räume öffnen. Vor allem aber (und das war immer die gewaltigste Kraft in jeder Performance der Gruppe) überwältigt sie mit Empathie - so nahe kommen wir nur extrem selten Menschen, die uns ja letztlich immer auch etwas vorspielen; Berührung wird möglich."

Weiteres: Der Standard meldet die Verleihung der Nestroy-Preise an Barbara Frey, Lina Beckmann und das Schauspielhaus Graz. Und es ist wieder Streaming-Saison: Die Nachtkritik zeigt ab morgen historische Aufführungen und die Gesprächsreihe "Gegenprobe".

Besprochen werden Ernest Guirauds und Camille Saint-Saëns' "Frédégonde" in Dortmund (in der NMZ-Kritiker eine ganz fantastische Entdeckung sieht), Nora Abdel-Maksouds Umverteilungskomödie "Jeeps" an den Münchner Kammerspielen (Nachtkritik), Johan Simons' Inszenierung von Ödön von Horváths "Geschichten aus dem Wiener Wald" am Wiener Burgtheater (die Benjamin Loy in der FAZ als wutbürgerliche Farce "radikal zeitgenössisch" findet, Wolfgang Kralicek in der SZ dagegen enttäuschend: "Die Inszenierung ist auf 'Wokeness' bedacht"), die Barockrevue "Was frag ich nach der Welt!" in Schwetzingen ("Rasende Liebe und Lebenslust, tiefer Pessimismus. Atemberaubende Einsamkeit", verspricht Judith von Sternburg in der FR) und Webers "Freischütz am Staatstheater Mainz (FR).
Archiv: Bühne

Architektur

Günther Ludwig Eckert: Die Röhre. Bild: Wikimedia

Für Gerhard Matzig (SZ) ist es an der Zeit, mal wieder ein bisschen größer zu denken. Der Band "Bauwerke, die nie errichtet wurden" versammelt etliche gescheiterte Visionen der Architektur, allen voran natürlich Buckminster Fullers Kuppel für New York. Sehr schön, meint Matzig, nur leider fehlt die Utopie von Günther Ludwig Eckert, Miterbauer des Olympischen Dorfes in München, der auch die Biosphäre retten wollte: "Die Erde solle am besten als Ganzes für lange Zeit nicht mehr von Menschen betreten werden. Zu diesem Zweck hat er Überirdisches geplant. 35.000 Kilometer lang sollte sich eine röhrenartige Konstruktion mit einem Durchmesser von 250 Metern, auf hohen Pylonen ruhend, zwischen dem 40. und 50. Breitengrad als Raumkontinuum einmal um die Erde herum legen. Vorbei an Le Havre, Saarbrücken, Regensburg, Krakau, Wolgograd, Sapporo, San Francisco, Boston - und schon ist man wieder in der Normandie."
Archiv: Architektur

Film

Es lohnt sich, ihn kennenzulernen: Benedict Cumberbatch als Scheusal Phil in "Power of the Dog" (Netflix)

Die FAS unterhält sich mit Jane Campion über ihren Western "The Power of the Dog", in dem Benedict Cumberbatch Phil Burbank, ein Scheusal hoch zu Ross, spielt (unser Resümee). Diese Figur aus Thomas Savages literarischer Vorlage zählt für sie zu den "ganz großen Figuren der amerikanischen Literatur: Er ist wahnsinnig kompliziert, aber gerade das macht ihn faszinierend. Er berührt einen, hinter seiner Grausamkeit erahnt man eine immense Verletzlichkeit. ... Erst hielt ich ihn auch für einen gemeinen Mistkerl, ein Hardcore-Arschloch, der seine neue Schwägerin quält. Aber nach dem Hass entdeckte ich meine Liebe für Phil, ich entwickelte ein tiefes Mitgefühl für ihn. Es fühlte sich gut an, ihn nicht zu verurteilen, sondern sich nur auf ihn einzulassen." Denn "'böse' ist ein großes Wort. Mit so einem Vorurteil im Kopf nimmt man sich jede Chance, jemanden wirklich kennenzulernen."

Außerdem: In der WamS spricht Matthias Schweighöfer über seine aktuellen Erfolge in Übersee. Die taz widmet sich in einer Notizensammlung dem ZDF-Traumschiff, das nun auch schon seit 40 Jahren in See sticht. In der SZ spricht Andrian Kreye mit Oliver Stone über dessen Ansichten zum Kennedy-Attentat.

Besprochen werden Sebastian Meises Gefängnisdrama "Große Freiheit" mit Franz Rogowski (online nachgereicht von der FAZ, Standard) und Rebecca Halls auf Netflix gezeigtes Rassismusdrama "Passing" (Freitag).
Archiv: Film

Design

Ein Entwurf von Schiaparelli 1952. Foto: Courtesy Philadelphia Museum of Art


Die Marke Schiaparelli feiert in den letzten Jahren einen bemerkenswertes Comeback, freut sich Jürg Zbinden und erzählt (von der NZZ online nachgereicht) die Geschichte von Gründerin Elsa Schiaparelli. "Unter dem Eindruck von Charles Lindberghs Atlantikflug entwirft sie Fliegerkostüme, dann Sportkostüme, Golfkostüme, Ski- und Tennisbekleidung und schließlich ihr erstes Abendkleid. Es verursacht eine Sensation - ein schlichtes bodenlanges, schwarzes Etuikleid aus Crêpe de Chine, darüber eine weiße Jacke, ebenfalls aus Crêpe de Chine, mit langen Schärpen, die sich hinten kreuzen und vorn geschlossen werden. Ein Abendkleid mit Jacke hat die Welt noch nie gesehen - es wird das erfolgreichste Kleid ihrer Karriere überhaupt und wird weltweit kopiert. Gewöhnliche Hausschürzen inspirieren sie zu Wickelkleidern, 'wrap dresses', die 1974 eine Diane von Fürstenberg fürs schmalere Budget perfektioniert. Das Wickelkleid ist längst ein Klassiker, so wie das kleine Schwarze von Chanel."
Archiv: Design
Stichwörter: Schiaparelli, Elsa

Literatur

Ob Edouard Louis oder Peter Handke: Sobald Schriftsteller sich in ihren Texten an ihren Vätern abarbeiten, schreiben sie maskulin schroff, doch widmen sie sich ihren Müttern, "werden Männer meist wundersam weich", fällt Christian Baron im Freitag auf. Resultat eines gewissen Unbehagens? "Möglicherweise ahnten sie ohne die Lektüre feministischer Klassiker etwas von der Verdopplung der Armutslast, die den Frauen in einer männlich dominierten Gesellschaft auferlegt ist. Lange bevor es Statistiken gab über den Zusammenhang von Armut und dem Status der alleinerziehenden Mutter, spürten die Schreibenden wohl die Nachteile der Frauen - und ertappten sich womöglich dabei, an dem patriarchalen Spiel teilzunehmen. ... Wie seltsam fremd und falsch muss es sich später anfühlen, als erwachsener Mann der lesenden Welt die eigene Mutter erklären zu wollen? Resultiert der Wille zur Poesie in Mütterbüchern der Männer also letztlich aus einem schlechten Gewissen? Es wäre zumindest keine üble Ursache."

Jan Feddersen ärgert sich in der taz darüber, dass Berlin den dänischen Schriftsteller Herman Bang, der in der Kaiserzeit in der Hauptstadt gelebt hat und dort als Homosexueller in eine Außenseiterposition gedrängt wurde, zwar in einem großen, allerdings auch von sanfter Floskelbildung begleiteten Festakt ehrt, während man die versprochene Würdigung in Form einer Ausstellung und einer öffentlich angebrachten Plakette danach aber mit detektivischem Gespür suchen muss: "Man findet - nichts. Irgendwo im Treppenhaus, an Säulen, soll sie gehängt worden sein, klandestiner geht es kaum. Als spielte man wieder das Spiel der hüstelnd-beschämten Diskretion: Bloß nicht über so ein Schmuddelkind reden! Wahr ist, dass die dänische Botschaft nun offiziell erklärt, es handele sich um eine Wanderausstellung, bald werde sie in der Universität der Künste und der Technischen Universität gezeigt, später gewiss in Bibliotheken Berlins."

Außerdem: Mia Eidlhuber freut sich im Standard darüber, dass der Ecco Verlag seit nunmehr bald zwei Jahren Literatur von Frauen verlegt. Erhard Schütz räumt für den Freitag Sachbücher von seinem Nachttisch. Oliver Jungen spricht in der FAZ mit dem Comiczeichner Jeff Kinney. In der FAZ gratuliert Tilman Spreckelsen der Schriftstellerin Margriet de Moor zum 80. Geburtstag. Joachim Huber schreibt im Tagesspiegel einen Nachruf auf den Avantgardisten Oswald Wiener (weitere Nachrufe hier).

Besprochen werden unter anderem Richard Powers' "Erstaunen" (ZeitOnline), Michael Köhlmeiers "Matou" (Zeit), Klaus Pohls "Sein oder Nichtsein" (NZZ), Matthias Lehmanns Comic "Parallel" (Tagesspiegel) und neue Kinder- und Jugendbücher, darunter Ute Krauses "Nora und der Große Bär" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Alexandru Bulucz über Werner Söllners "Leg den Stift weg":

"Leg den Stift weg, es ist alles
gesagt. Zu deinen Füßen der Hund, ein warmes
schlafendes Säckchen..."
Archiv: Literatur

Kunst

Nicole Eisenman: Nicght of the cheer with a spray of Bullets, 2005. Bild: Kunsthalle Bielefeld

Gar nicht sattsehen kann sich FAZ-Kritiker Georg Imdahl in der Ausstellung "Köpfe, Küsse, Kämpfe", die die Kunsthalle Bielefeld der amerikanischen Künstlerin Nicole Eisenman widmet: "Eisenman schmiert, spachtelt und schichtet die Farbe bisweilen fingerdick auf die Leinwand, flirtet mit Surrealismus und Comic, ist sich für nichts zu schade." Wie sehr sie damit an die Kunst der zwanziger Jahre anknüpft, springt Imdahl unmittelbar ins Auge: "Was immer die zeitgenössische Kunst an Gegenwartsdiagnose und kritischem Impuls zu bieten hat, ist in dieser Dekade in Fülle vorgezeichnet, findet seine Vorläufer in Dadaismus, Neuer Sachlichkeit und plakativer Politkunst. So bezeugt es eindrucksvoll das Werk der Amerikanerin Nicole Eisenman: Kaum jemand aus ihrer Generation lässt ein allgemeines Unbehagen so gegenwärtig erscheinen und versteht zugleich die Gegenwart so treffsicher aus der (Kunst-)Geschichte heraus wie die Künstlerin des Jahrgangs 1965."

Nach einem Gang über die Art Cologne stellt Annegret Erhard in der taz fest, dass es wohl nicht die Zeit für Experimente ist. Im Tagesspiegel berichtet Stefan Kobel.
Archiv: Kunst

Musik

Auf ZeitOnline erklärt uns Jens Balzer K-Pop, längst das zentrale Aushängeschild Südkoreas in der internationalen Außendarstellung. "Es handelt sich um eine Musik, die lokal verwurzelt und offensiv globalisiert ist und den unterschiedlichsten Publikumsgruppen auf der ganzen Welt individuelle Interpretations- und Variationsmöglichkeiten bietet. Die Fantasie der popkulturellen Welteroberung ist in der Ästhetik des K-Pop immer schon eingeschrieben. Darin schlägt sich auch politischer Ehrgeiz nieder. Seit sich Staatspräsident Kim Dae Jung 1998 zum 'Präsidenten der Kultur' ernannte, hat die Förderung der Kultur als soft power samt ihrem Export in alle Welt zu den zentralen Projekten sämtlicher südkoreanischer Regierungen gehört. Dabei geht es einerseits darum, den erst in den Neunzigerjahren vollständig demokratisierten Staat als gleichwertiges Mitglied in der internationalen Gemeinschaft zu etablieren; es verbinden sich aber auch ökonomische Interessen damit."

Robert Stadlober bringt mit Gitarre Texte von Stefan Heym auf die Bühne. Ihm geht es dabei um die "die ursprüngliche Geste des Rock'n'Roll", erzählt er im Freitag-Interview. "In diesen Texten steckt alles, was einen guten Song ausmacht: Flucht, Herzschmerz, die Beziehung zum Vater, der Glaube an eine gerechtere Welt. Die ganze Kraft der Jugend eben. Nur nicht so generisch und brav wie im aktuellen deutschen Pop oft." In den Texten "liegt eine Form von melancholischer Hoffnung, die hundertmal enttäuscht worden ist und von der er trotzdem nicht lassen will. Es wird die Hoffnung hochgehalten, dass es eine Solidarität zwischen Menschen geben kann, die über Marktgläubigkeit hinausgeht. Eine Sehnsucht, an die ich andocken kann." Wir hören rein:



Außerdem: Jakob Biazza hat sich für die SZ mit Robert Plant und Alison Krauss getroffen, die ein neues, gemeinsames Album veröffentlicht haben. Mit ihrem Album "30" legt Adele einen tollen Soundtrack für Werbespots für "Mobilfunk, Autos oder Krankenversicherungen, für Alkohol oder auch dagegen" vor, ächzt Jan Wiele in der FAZ (Pitchfork hingegen ist begeistert). Egbert Tholl schreibt in der SZ einen Nachruf auf die Mezzosopranistin Daphne Evangelatos. Wolfgang Schreiber gratuliert in der SZ Kent Nagano zum 70. Geburtstag. Nachrufe auf Ted Herold schreiben Harry Nutt (FR), Willi Winkler (SZ) und Edo Reents (FAZ).

Besprochen werden die Compilation "Die Notenbank. Tanzmusik für junge Leute" mit Beatmusik aus der DDR (taz), Ichiko Aobas "Windswept Adan" (Pitchfork), eine Box mit von Kent Nagano dirigierten Messiaen-Aufnahmen (FAZ), das Debütalbum von Le Ren (FR), das Jubiläumskonzert des DSO Berlin zum 75-jährigen Bestehen (FAZ) und die Neuausgabe von Leo Nocentellis "Another Side" von 1971 (Pitchfork).
Archiv: Musik