Efeu - Die Kulturrundschau

So ein geschliffenes Schwarz-Weiß

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.12.2021. 179 Minuten dauert Ryūsuke Hamaguchis Verfilmung von Haruki Murakamis Kurzgeschichte "Drive My Car", aber die vergehen wie im Flug, versichert die FR. Viel Lob auch für die "Macbeth"-Verfilmung von Joel Coen: Die SZ fühlt sich wie in einem Albtraum Edward Hoppers. Die Bilder machen glatt Shakespeares Dialogen Konkurrenz, staunt der Standard. Die Welt besucht in Paris eine Ausstellung von Frankreichs heimlichem Staatskünstler Anselm Kiefer. In der NZZ kritisiert die Philologin Melanie Möller Bemühungen, die brutale Fremdheit der "Ilias" heutigen Befindlichkeiten anzupassen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.12.2021 finden Sie hier

Film

Hält vorbildlich Abstand, auch im Freien: "Drive my Car" (Rapid Eye Movies)

Drei Stunden dauert Ryūsuke Hamaguchis in Cannes mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnete Verfilmung von Haruki Murakamis Kurzgeschichte "Drive My Car" - es geht um einen Theatermacher, Ehebruch, den Tod der Ehefrau, eine Tschechow-Inszenierung mit vielsprachigem, asiatischem Cast und eine nahezu schweigsame Chauffeurin. Die Filmkritiker wohnten diesem leisen Film so ehrfürchtig wie bestrickt bei: "Die große Faszination dieses Films liegt darin, wie Hamaguchi" seiner Geschichte stets weitere "Schichten von Bedeutung und Suggestion hinzufügt", schreibt Barbara Schweizerhof in der taz und gibt allen Entwarnung, die 179 Minuten Laufzeit fürchten: Dies ist "everybody's Lieblingsfilm mit großen Oscar-Chancen. Tatsächlich fühlt man sich als Zuschauer nach Ablauf der 179 Minuten fast frischer als am Anfang, so fesselnd und entspannt zugleich war der Trip."

Auch Daniel Kothenschulte staunt in der FR: "Hamagushi hat die Elemente seines schwerelos erzählten Films wie lose Papierbögen übereinander geschichtet. Dazu gehört auch die problematische Liebesgeschichte, die den Film wie eine falsche Fährte eröffnet und schließlich als Erzählung zurückkehrt. ... Schwer zu sagen, wie es dem Filmemacher in seinem sachten, fast hypnotischen Regiestil gelingt, die Filmzeit buchstäblich aufzulösen. Aber am Ende scheint es, als habe er wenigstens eine der drei Stunden durch irgendeinen Bühnentrick zum Verschwinden gebracht." Das ist "ein Film, der mit seinem Drehbuch macht, was andere mit hundert Millionen Dollar machen", hält auch Andreas Kilb in der FAZ fest. "Er bringt eine Geschichte in Gang. Er gibt ihr ein Motiv. Und er zieht alle Fäden, die er spinnt, in diesem Motiv zusammen, sodass sich der innere Weg der Hauptfigur im äußeren Geschehen spiegelt und umgekehrt." Und auch Perlentaucher Thomas Groh war hin und weg: "Hamaguchis filmisches Vokabular besteht nicht aus großen Gesten. Es ist pragmatisch, ohne hemdsärmelig oder gar konventionell zu sein. Vielleicht ist demütig das richtige Wort in diesem Zusammenhang - demütig gegenüber dem Sujet und den Figuren, von denen es erzählt. Demütig gegenüber der Kunst des unaufgeregten Erzählens, demütig auch vor dem Publikum, vor dem Hamaguchi selbst dann nicht auftrumpft, wenn er erschütternde Details aus dem Leben seiner Figuren erst weit sehr spät preisgibt."

Altmodisch und modern zugleich: Macbeth von Joel Coen (Alison Cohen Rosa/A24)

Die kurzzeitig auch im Kino ausgewertete AppleTV-Produktion "The Tragedy of Macbeth" zeigt die Oscargewinner Frances McDormand und Denzel Washington in traumhaften Schwarzweißbildern. Inszeniert hat die Shakespeare-Verfilmung McDormands Ehemann Joel Coen, seine erste Solo-Arbeit als Regisseur ohne seinen Bruder Ethan. Der in klassischer Kulisse gedrehte Film ist zwar "schlichtweg abgefilmtes Theater", schreibt Valerie Dirk im Standard, doch "gekonnt abgefilmt mit Sinn für Tiefenschärfe, Einstellungen und Formen. Kameraarbeit und Bühnenbild machen den Dialogen Konkurrenz. So ein geschliffenes Schwarz-Weiß, so glatte Oberflächen und dunkle Schatten gab es im Kino lange nicht mehr."

SZ-Kritiker Nicolas Freund fühlt sich bei diesem Film zunächst zu den Salzburger Festspielen 1968, "wenn nicht noch früher", zurückversetzt, doch folgt sogleich Entwarnung: "Die Bilder wie von Ingmar Bergman oder Carl Theodor Dreyer und die Bühnengesten der Vorkriegszeit sollen verfremden und verunsichern, einen neuen Blick provozieren auf den Königsmörder und Geisterseher Macbeth - und Shakespeare doch vollständig beim Wort nehmen. ... Dieser zugleich altmodische und moderne Stil sieht einfach fantastisch aus: Forres, das Schloss der Macbeths, wirkt aus kantigem Beton und mit scharfen Lichteinfällen wie ein Albtraum Edward Hoppers oder eine größenwahnsinnige Bauhaus-Fantasie. Die Kontraste sind so groß, dass aus den Gesichtern der Figuren jedes Haar, jede Falte und jeder schiefe Zahn wie ein Dolch hervorsticht, wenn sie den Text aufsagen." Für die taz hat Thomas Abeltshauser den Film gesehen.

Besprochen werden Lana Wachowskis neuer "Matrix"-Film (FR, taz, Tsp, SZ, NZZ, Standard, mehr dazu hier), Valérie Lemerciers Biopic "Aline - The Voice of Love" über Céline Dion (ZeitOnline, Tsp), Stefan Jägers "Monte Verità" (Standard) und eine Ausstellung in Essen mit den Zeichnungen Federico Fellinis (online nachgereicht von der FAZ). Außerdem erklären uns die SZ-Kritikerinnen und -Kritiker, welche Filme sich diese Woche wirklich lohnen.
Archiv: Film

Bühne

Im Interview mit der SZ ärgert sich der Intendant des Münchner Residenztheaters Andreas Beck darüber, dass auch im Jahr drei der Pandemie die Kultur immer noch mit Sport und Unterhaltung über einen Kamm geschert wird: "Wir müssen dringend anfangen, viel genauer zu differenzieren, was können wir uns erlauben und was nicht? Denn einen Tag X, juhu, nun ist alles vorbei, den wird es nicht geben. Das ist wie 'Warten auf Godot'. Wir müssen raus aus diesem Schrecken der ersten Sekunde, erst mal alles zu verbieten. Und das sage ich mit der Angst vor Omikron, mit der Angst vor der Mutante, mit dem Unverständnis für eine Impfunwilligkeit. Wir müssen aber mit diesen Unwägbarkeiten lernen umzugehen. Ich würde mich auch freuen, wenn sich das ganze in der Krise erworbene Hirnschmalz in den Entscheidungsprozessen niederschlagen würde und da zukünftig nicht nur ein General, sondern auch der Kenntnisreichtum der Kulturbetriebe wahrgenommen würde. Wir haben ja Konzepte entwickelt und geprüft. Diese Expertise wäre abrufbar."

Besprochen werden Volker Löschs "AufRuhr" am Grillo-Theater in Essen (SZ) und Kleists "Der Zerbrochne Krug" am Deutschen Theater Berlin (Zeit).
Archiv: Bühne

Kunst

Anselm Kiefer im Grand Palais Ephémère


In Paris hat Anselm Kiefers Ausstellung "Für Paul Celan" eröffnet - für Emmanuel Macron der "kulturelle Auftakt der französischen EU-Ratspräsidentschaft", erklärt Martina Meister in der Welt. Überhaupt sei Macron fasziniert von Kiefer, den er so häufig in seinem Atelier besucht habe, "dass böse Zungen behaupten, der Deutsche sei Frankreichs heimlicher Staatskünstler. 'Frankreich hat Anselm Kiefer annektiert, fast nationalisiert, so wie es sich Elsass und Lothringen zurückgeholt hat', zitiert Le Monde den Philosophen Pascal Bruckner. Oder hält Kiefer den Franzosen womöglich nur einen Zerrspiegel vor, in dem sie sehen, was sie sehen wollen? Der deutsch-französische Autor Georges-Arthur Goldschmidt, spricht von einem 'umgestürzten Bild ihrer selbst', welches einer Art Freispruch gleichkomme und den Franzosen das Gefühl gebe, die Schuld der Shoah nicht mittragen zu müssen."

Auch Suzanne Cords (Deutsche Welle) hat die Ausstellung besucht, die Kiefer Anlass zu dramatischer Selbstbefragung gab, wie sie dem Katalog entnimmt: "'Deine großen Gemälde, in denen du Celan zitierst: Ist das nicht so, als würdest du Celan auf einer Litfaßsäule plakatieren? Solltest du die Bilder nicht lieber anzünden und in aller Öffentlichkeit die Asche verbrennen?' Kiefer hat sie nicht verbrannt, sondern das Grand Palais Éphémère in den Schauplatz einer Kunst-Apokalypse verwandelt. Man muss den Blick wandern lassen, um die gigantischen Leinwände in ihrer vollen Pracht zu erfassen. Sonnenblumen, Farne und viel Blei sind beherrschende Elemente, Krieg, Holocaust und die deutsche Schuld die immer wiederkehrende Motive in Kiefers Kunst. Mit Kreide hat der Künstler Zeilen aus Paul Celans Versen auf die Gemälde aufgetragen. Sie tragen Titel wie 'Aus Herzen und Hirnen sprießen die Halme der Nacht' 'Denk dir - die Moorsoldaten' oder 'Auf der Klippe - für Paul Celan'. Der Ausstellungskatalog zitiert angesichts dieser imposanten Bilderwelt den Filmemacher Alexander Kluge. Kiefers Gemälde hauchten den Versen Celans Leben ein, sagt er: 'Sie kommentieren sie, und im Gegenzug erfüllen die Texte des Poeten die Gemälde mit Kraft.'"

Besprochen werden außerdem eine Ausstellung von Ellen Harvey im MdM Salzburg (Standard), die Ausstellung "Diversity United" in der Neuen Tretjakow-Galerie (FR), die Mitgliederausstellung "a kind of magic" im Museum für Photographie Braunschweig (taz) und die Gerhard-Richter-Ausstellung "Birkenau-Zyklus, Zeichnungen, Übermalte Fotos" in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf (FAZ)
Archiv: Kunst

Literatur

Schwer anfreunden kann sich die Philologin Melanie Möller in der NZZ damit, dass moderne Interpretationen der "Ilias" - etwa im Kino oder auf Netflix - den archaischen Stoff mit seinen heute kaum verdaulichen Vorstellungen gesellschaftlicher Rollenbilder einem heutigen Publikum mit Anpassungen an den Zeitgeist schmackhaft machen wollen. "Die Wurzel allen Übels liegt darin, dass die Leserinnen, Leser, Zuschauerinnen und Zuschauer unterschätzt werden. Weil einige ihrer persönlichen Befindlichkeiten an die Texte herantragen, heißt das noch lange nicht, dass die Mehrheit identifikatorisch liest und nach - vermeintlicher - Modernisierung schreit. Wer nur einen Hauch ästhetischen Empfindens oder nur einen Funken historischen Verständnisses besitzt, kann sich leicht auch mit den befremdlichen Elementen des Originals arrangieren."

In der Zeit versucht Jan Roß dem anhaltenden Erfolg von Charles Dickens' "A Christmas Carol" auf die Schliche zu kommen: Geschaffen habe der Autor nämlich "eine Weihnachtsphilosophie, eine moderne Interpretation und emotionale Aufladung des Festes jenseits seines theologischen Gehalts. Weihnachten wird bei Dickens nicht mehr traditionell und selbstverständlich genommen, als christliches Ritual, es wird zum ersten Mal, wie heute, mit der Frage konfrontiert: Was soll das eigentlich? Was ist der Sinn davon? Das Fest braucht und bekommt eine gegenwartstaugliche, säkularisierte Bedeutung, mit einer Botschaft des sozialen Gewissens, der humanen Solidarität und der Konzentration aufs menschlich Wesentliche."

Besprochen werden unter anderem Essaysammlungen von Kate Briggs und Uljana Wolf (SZ), Aboud Saeeds "Die ganze Geschichte" (Dlf Kultur), Golo Maurers "Heimreise" über Goethes Italienreise (Dlf Kultur), Marieke Lucas Rijnevelds "Mein kleines Prachttier" (Freitag), Andrej Platonows "Der makedonische Offizier" (Zeit), eine Rekonstruktion von Edgar Allan Poes Fragment gebliebenem Geschichtenband "Die Erzählungen des Folio Club" (NZZ), neue Krimis (SZ), die Wiederveröffentlichung von William Melvin Kelleys "Ein Tropfen Geduld" aus dem Jahr 1962 (SZ) und David Chariandys "Francis" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Hartmut Welscher spricht für das VAN-Magazin mit dem Schauspieler Sabin Tambrea, der zunächst Geiger werden wollte. Für die Presse spricht Teresa Schaur-Wünsch mit Bernhard Mikuskovics und Georg Baum über deren Weihnachtsalbum "Lux natus est". Klaus Kalchschmid von der SZ freut sich schon jetzt auf das Klassikjahr 2022. Der Kanton Luzern hat Rachmaninows Villa gekauft, berichtet Thomas Schacher in der NZZ. 15 Jahre nach seinem Tod konnten die Streitigkeiten um James Browns Erbe nun beigelegt werden, meldet Karl Fluch im Standard. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen schreibt Arno Lücker diesmal über Thea Musgrave.

Besprochen werden Benjamin Bertons Buch über Dan Treacy und seine Band Television Personalities (taz), ein von Michi Gaigg dirigierter Bach-Abend in Salzburg (SZ), Hannu Karjalainens Ambient-Album "Luxe" (taz) und das neue Album "Rosso come la Notte", das neue Album von Mondo Sangue, das auf den Pfaden des italienischen Giallofilms der Sechziger und Siebziger lustwandelt (Ray). Gemeinsam mit dem Popmusiker Eric Pfeil ist dem Stuttgarter Duo ein unter die Haut gehendes Duett gelungen:

Archiv: Musik