Efeu - Die Kulturrundschau

Täglich frische Biskuits

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28.12.2021. Die NZZ bewundert in der National Gallery, wie offen und einfühlsam sich Albrecht Dürer neuen Welten öffnete. Die FAZ lernt in Versailles die Tiere des Königs zu fürchten. Der Tagesspiegel spürt den Atem der Schauspieler in den Fotografien von Ruth Walz. Die SZ feiert den Aufstieg der Deutschrapperinnen, die jetzt genauso brutal nach unten treten wie ihre männlichen Kollegen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.12.2021 finden Sie hier

Kunst

Albrecht Dürer: Porträt von Katharina, 1521, Galleria degli Uffizi

Dürers Reisen nach Italien sind gut dokumentiert, aber die Ausstellung "Dürer's Journeys" in der National Gallery in London erschließt auch sehr gut die Reisen des Renaissance-Künstlers in die Niederlande, freut sich in der NZZ Franz Zelger: "Als Dürer Richtung Norden aufbrach, stand er im Zenit seines Schaffens. Er war offen für alles, sammelte neue Eindrücke, auch von fremden Kulturen und exotischen Tieren wie Löwen, Mantelpavianen, einem Walross, und nicht zuletzt zeichnete er eine 20-jährige Afrikanerin, deren Konterfei als eines der ersten Porträts einer schwarzen Frau in die europäische Kunstgeschichte eingegangen ist. Im Lauf der Reise kehrte er immer wieder in die Handels- und Finanzmetropole Antwerpen zurück, dieses Tor zur Welt, wo er permanent neue Impulse erhielt, die sich in zahlreichen Studien und Skizzen niederschlugen. Damals steigerte er noch seine Produktion von Zeichnungen mit Silberstift, Bleistift, Kohle, Feder und Pinsel - Blätter, die von seinem virtuosen Umgang mit diesen Techniken zeugen. Innovativ sind seine über achtzig gezeichneten, zum Teil auf Holztafeln aufgezogenen Bildnisse, die als autonome, vergleichsweise preisgünstige Porträts gemalte Konterfeis ersetzten und ihm dank großer Nachfrage ein beachtliches Einkommen sicherten."

Sehr empfehlen kann Hubert Spiegel in der FAZ auch die aufwändig gestaltete Ausstellung "Les Animaux du Roi" im Schloss von Versailles, die eingehend die Tierwelt am Hof Ludwig XIV. untersucht: "Tiere waren hier allgegenwärtig - als mythologische Wesen, Verkörperungen menschlicher Eigenschaften, als Symbolfiguren politischer Macht, aber eben auch als lebendige Geschöpfe, die den Palast und den Park buchstäblich zu Tausenden bevölkerten. Allein in den königlichen Ställen waren mehr als zweitausend Pferde untergebracht, und die Anzahl der königlichen Jagdhunde belief sich auf etwa dreihundert. Ludwig XIV. ließ die Billardtische aus einem der Vorräume zu seinen privaten Gemächern entfernen, um ein eigenes Zimmer für seine Lieblingshunde zu schaffen, für die sein Leibpatissier täglich frische Biskuits herzustellen hatte."

Weiteres: Im Tagesspiegel beschreibt Ulrike Scheffer, wie die Initiative Cameroun Patrimoine für die Rückgabe kamerunischer Kulturgüter streitet. Besprochen werden Heidi Buchers Latexarbeiten in der Ausstellung "Metamorphosen" im Münchner Haus der Kunst (Standard).
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Bühne

Ruth Walz: Die Orestie des Aischylos, Schaubühne Berlin, Gastspiel in Rom Ostia Antica, 1984 Bild: Museum der Fotografie

Als "Deutschlands größte Theaterfotografin" feiert Peter von Becker im Tagesspiegel die achtzigjährige Ruth Walz, die unter Peter Stein zum Auge der Schaubühne wurde und der nun das Berliner Museum für Fotografie eine Hommage widmet: "Man sieht bei diesen Bildern nicht nur den rauchenden Atem der Akteure in der eisigen Berliner Winternacht, man spürt auch das Mitatmen der Fotografin."

Weiteres: Im Standard stellt Ljubisa Tosic die neue Intendantin der Wiener Volksoper Lotte de Beer vor. Besprochen werden die Wiederbelebung von Pietro Mascagnis Oper "L'amico Fritz"  bei den Festspielen Erl (NMZ) und Bastian Krafts Adaption von Marianne Fritz' Roman "Die Schwerkraft der Verhältnisse" am Wiener Burhtheater (Welt).
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Film

Der kanadische Regisseur Jean-Marc Vallée ist überraschend im Alter von 58 Jahren einem Herzinfarkt erlegen. Seine bekanntesten Filme sind das Selbstfindungsdrama "Wild" mit Reese Witherspoon und sein mit Oscars überhäuftes Aidsdrama "Dallas Buyers Club". Er war vor allem unter Schauspielern sehr beliebt, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel: "Eitelkeiten waren ihm fremd. Er sagte über sich selbst, dass er seinen Filmen keinen Stil aufdrücken wollte, dass er sich immer mehr als Erzähler denn als Filmemacher verstehe. Seine Darstellerinnen und Darsteller sollten im Mittelpunkt seiner Geschichten stehen. Die dankten es ihm mit herausragenden Performances." Auf Deadline sammelt Mike Fleming jr Stimmen zu Vallées Tod.

Weitere Artikel: Im Standard porträtiert Bert Rebhandl Meryl Streep, die aktuell in Adam McKays Netflix-Komödie "Don't Look Up" (mehr dazu hier) zu sehen ist. David Steinitz staunt in der SZ über den Erfolg des neuen Spider-Man-Films, der fast schon prä-pandemische Umsätze erzielt. Schauspieler - aktueller Fall: John Malkovich - sind schlecht beraten, wenn sie Dirigenten spielen, findet Elmar Krekeler in der Welt.

Besprochen werden Julia von Heinz' Weihnachtsserie "Eldorado KaDeWe" (ZeitOnline, FR, FAZ), Francis Lees mit Kate Winslet und Saoirse Ronan besetzte Biopic "Ammonite" über die Archäologin Mary Anning (Intellectures), die auf Sky Atlantic gezeigte Serie "Yellowjackets" (taz) und Francis Ford Coppolas Überarbeitung seines Klassikers "Die Outsider" (FAZ).
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Literatur

In der FAZ gratuliert Jan Wiele dem Schriftsteller Ian Buruma zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem die Neuausgabe von Stefan Heyms "Flammender Frieden" (taz), Tatiana Tibuleacs "Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte" (NZZ), Can Xues "Liebe im neuen Jahrtausend" (SZ), PeterLichts Büroroman "Ja, okay, aber" (online nachgereicht von der FAZ), die deutsche Erstveröffentlichung des Mangaklassikers "Mila Superstar" (Tsp), Familienromane von Constanze Neumann und Jo Lendle (FR), Barbara Cassins "Nostalgie" (Zeit) und Ulrich van Loyens Essay "Der Pate und sein Schatten" über die Literatur der Mafia (FAZ).
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Stichwörter: Peterlicht, Mafia, Buruma, Ian

Musik

"Die Frauen haben in diesem modrigen Gebilde namens Deutschrap in diesem Jahr die Herrschaft übernommen" und wenn schon nicht finanziell, so doch künstlerisch, schreibt Jakob Biazza in der SZ. Die meisten Männer beließen es hingegen vor allem damit, in ihren Texten weiterhin Frauen zu erniedrigen. Wie ist Rapperinnen wie Shirin David, Badmómzjay und SXTN dieser Erfolg geglückt? Durch "detailgenaue rhetorische Imitation der Männer. Im Zweifelsfall härter sein. Und im Notfall eisern und brutal." Für Biazza "ist das weibliche Selbstermächtigung, Feminismus" und "vielleicht sogar eine Revolution. Allerdings eine (das ist zunächst völlig wertfrei gemeint) in ihrem Ansatz tiefenchauvinistische" mit "Siegerrhetorik, Erhebung über den anderen, Treten nach unten. Gut möglich, dass es das für den Moment braucht. Mag sein, dass man den einstigen Herrschern etwas Demut einprügeln muss, ehe man sich in der Mitte treffen kann. Interessanter ist hier für den Moment aber der Geist, den all das atmet: idealtypischster Kapitalismus."

In der Jungle World resümieren Gabriele Summen und Maurice Summen das Kulturjahr 2021 und liefern dabei unter anderem auch jede Menge Tipps, wie man sich die letzten Tage des Jahres mit "Neuentdeckungen aus Indiehausen" musikalisch vertreiben kann: "Sophia Kennedy begeisterte mit ihrem zweiten Album 'Monsters', ebenso das Dream-Pop-Kollektiv 'Die neue Leichtigkeit' mit diversen Singles und EPs. Albertine Sarges legte ein kunstvolles Debütalbum vor. Im angelsächsischen Raum gab es ein Postpunk-Update von Dry Cleaning, The Weather Station brachten ihr Album 'Ignorance' heraus. Und das Popduo Dumbo Gets Mad hatte mit 'Things Are Random and Time Is Speeding Up' nicht nur den genialsten Albumtitel des Jahres parat. Auch nicht schlecht gewählt war der Titel 'Sprechfunk mit Toten' für die Cosmic-Disco-Kraut-EP von Hildegard Von Binge Drinking." Am aufregendsten fanden die beiden jedoch Sarah Brand: "Ihr Song 'Red Dress' ist dermaßen kunstvoll daneben gesungen, dass sie das Lebensgefühl 2021 wunderbar auf den Punkt gebracht hat."



In der SZ legt Andrian Kreye seine 20 Jazzalben des Jahres vor, nicht ohne sich auch den von Pitchfork ausgerufenen Trend zum Ambient Jazz (unser Resümee) zu äußern, der auch eine Renaissance der Harfe markiert: Begeistert haben ihn die Harfen-Alben "von Brandee Younger (tief im R'n'B verwurzelt), Amanda Whiting (als Zentrum eines traditionellen Post-Bop-Trios) und Nala Sinephro (noch am ehesten im Ambient-Raum). Das erstaunlichste Harfen-Album aber war 'Nanodiamond' von der Elektroproduzentin und Harfenistin Sissi Rada. Die bewegt sich sehr souverän zwischen den jüngsten minimalistischen Strömungen des zeitgenössischen Pop, freiem Jazz und dem, was Brian Eno als Ambient etablierte."



Besprochen werden Charly Hübners Buch über Motörhead (Freitag) und ein neues Album von Ben LaMar Gay (FR). Wir hören rein:

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