Efeu - Die Kulturrundschau

Einsturz des Ichs

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15.02.2022. Ein russischer Film über zwei Jetpiloten gibt der Welt eher Anlass zur Beruhigung als zur Aufregung. Atemberaubende Perfektion bekommen FR und SZ von der Sopranistin Marlies Petersen in Leos Janaceks "Die Sache Makropulos" an der Berliner Staatsoper geboten. Im Standard beklagt die Burgschauspielerin Regina Fritsch das Typensterben am Theater. Die FAZ richtet auch an Klaus Lederer die Frage, warum Walter Smerlings private Kunsthalle vom Berliner Senat Millionenzuschüsse bekommt. Die SZ gibt daran eher sozialdemokratischer Großmannssucht die Schuld.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.02.2022 finden Sie hier

Film

Der Irrsinn eines männlichen Konflikts: "Klondike" von Maryna Er Gorbach

Russland und die Ukraine stehen sich auch auf der Berlinale gegenüber: Alexander Zolotukhins in Kasachstan gedrehter Film "Brothers in every inch" erzählt von zwei russischen Zwillingsbrüdern, die unbedingt Kampfjets fliegen wollen: Anders als vorab von vielen gemutmaßt, ist der Film allerdings keine "Top Gun"-Variante aus dem Osten, schreibt Elmar Krekeler in der Welt, der sich beim Fliegen über Steppenäcker eher gelangweilt hat: "Als Rekrutierungshilfe eignet sich 'Brat vo vsyom' noch weniger als die letzte Plakataktion der Bundeswehr. Was in der gegenwärtigen Situation fast schon ein bisschen beruhigt. Das Tempo ist harmlos, selbst in der Luft ist es das." Maryna Er Gorbachs ukrainischer Film "Klondike" hingegen ist eine Art Western in der Ost-Ukraine, wo die aktuellen geopolitischen Konflikte sich in einer Familie spiegeln. "Die Kriegsgefahr ist jederzeit spürbar. Immer wieder kracht es in die Stille hinein, aber nicht immer sind es Granaten", schreibt Simon Rayß im Tagesspiegel. Dabei zeigt die Filmemacherin "den Irrsinn des von Männern ausgetragenen Konflikts aus weiblicher Perspektive. ... Auch wenn ihr Film am Ende ins Symbolhafte kippt und in einer Szene kulminiert, die wie ein Drehbuchkniff anmutet, wirkt die nüchterne Schilderung des Donbass zuvor wie ein Schock. Krieg ist, wenn die falsche Kleidung, die falsche Musik oder Sprache über Leben und Tod entscheiden können."

Fragmente einer Sprache fürs Sterben: Jessica Krummachers "Zum Tod meiner Mutter"

Sehr berührt bespricht Elmar Krekeler in der Welt Jessica Krummachers "Zum Tod meiner Mutter", in dem die Filmemacherin ihre eigene Erfahrung als Sterbebegleiterin ihrer Mutter fiktional verarbeitet: "Immer wieder kippt etwas in diesem Film. Gespräche verstummen, ändern abrupt ihre Richtung, aus Gelächter wird tiefe Trauer. Bis in die Mikrostruktur der Szenen, der Dialoge, geht dieses Umkippen. Weil alle das noch lernen müssen: Wie man redet, was man redet, denkt, wie man sich verhält, während einer geht. "Zum Tod meiner Mutter" ist auch eine Ansammlung von Fragmenten einer Sprache fürs Sterben."

Mit dem Wettbewerbsfilm "Un año, una noche" des katalanischen Regisseurs Isaki Lacuesta ist der islamistische Anschlag aufs Pariser Bataclan 2015 im Kino angekommen. Es geht um Arbeit am Trauma zweier Überlebender, doch der Film finde für "diesen zeitverzögerten Einsturz des Ichs keine visuelle Entsprechung", findet Andreas Kilb in der FAZ. "Zwar kehrt er viele Male in unscharf nachinszenierten Einstellungen an den Ort des Gemetzels zurück, aber dessen Bilder verbinden sich nicht mit dem Alltag. ... Die Kamera bleibt immer an der Oberfläche des Geschehens" und so bleibe der Film "in einer Eindimensionalität stecken, die gerade diesem Thema am wenigsten gerecht wird." Anders sieht es Nadine Lange im Tagesspiegel: "Lacuesta will verdeutlichen, was es bedeutet, mit einer posttraumatischen Belastungsstörung zu leben. Und das gelingt ihm fulminant. Wobei er das Glück hat, mit Nahuel Pérez Biscayart und Noémie Merlant zwei der derzeit herausragendsten jungen Darsteller*innen Frankreichs in den Hauptrollen zu haben. Die Intensität, mit der sie die inneren Dramen ihrer Figuren zum Ausdruck bringen, ist atemberaubend."

Mehr vom Festival: In der taz spricht die Filmemacherin Nina Menkes über ihren Film "Brainwashed: Sex-Camera-Power" und über den Sexismus der Filmbranche. Im Tagesspiegel spricht Sofia Helin über ihre Serie "Lust". Besprochen werden Denis Côtés "Un été comme ça" (taz), Bertrand Bonellos "Coma" (Standard), Nicolette Krebitz' "A E I O U" (ZeitOnline, mehr dazu hier), Cyrils Schäublins "Unrueh" über die Geschichte der Schweizer Linken (taz), Annika Pinskes Spielfilmdebüt "Alle reden übers Wetter" (taz, Tsp), Ali Asgaris "Ta farda" (taz) und Michael Wolfs "Marija" (Tsp).

Weitere Festivalkritiken auf critic.de. Außerdem liefert das Artechock-Team Kurzkritiken. Ekkehard Knörer schreibt für Cargo Kurztexte vom Festival. Bei critic.de gibt es wie jedes Jahr außerdem einen Kritikerspiegel.

Abseits der Berlinale: Nachrufe auf den mit vor allem mit "Ghostbusters" bekannt gewordenen Regisseur Ivan Reitman schreiben Dirk Peitz (ZeitOnline), Maria Wiesner (FAZ) und David Steinitz (SZ). Die chinesische Filmzensur hat eine lesbische Figur aus der Sitcom "Friends" geschnitten, meldet unter anderem die FAZ. Besprochen werden die auf Sky gezeigte Serie "Landscapers" (taz) und die Neuflage der Serie "Der Prinz von Bel Air" (ZeitOnline).
Archiv: Film

Bühne

337 Jahre Leben: Marlis Petersen in Leos Janaceks "Die Sache Makropulos". Foto: Monika Rittershaus / Staatsoper Berlin

In Leos Janaceks Oper "Die Sache Makropulos" geht es um die Opernsängerin Emilia Marty, die seit 337 Jahren verschiedene Leben leben muss - seit ihr der alchemistische Vater eine lebensverlängernde Droge verabreichte. Damals hieß sie noch Elina Makropulos. Klug findet Julia Spinola, wie Claus Guth die Oper in Berlin Unter den Linden inszeneirt hat, und die Musik atemberaubend, auch wenn Simon Rattle mit etwas zu viel Oberflächenglanz dirigiere: "Marlis Petersen spielt diese zwischen Lebenshunger, Rastlosigkeit und Erschöpfung zerrissene Diva mit atemberaubender Perfektion und sie lässt ihren makellosen Sopran in den unterschiedlichen Facetten dieser kleinteiligen Vokalpartie kaleidoskopisch schillern und funkeln. Töne der Leidenschaft, Wärme oder Sinnlichkeit blitzen als brillant kalkulierte Fassade einer innerlich bereits gestorbenen Seele auf."

In die komplizierte Handlung fügt man sich schnell ein und führe direkt zu der Frage nach dem Wert der Endlichkeit, versichert Judith von Sternburg in der FR: "Das brodelnde und durchaus groteske Leben fordert zu Recht seinen Platz, Elina Makropulos' Drama kann man ohne seinen konkreten Irrsinn - auch eine tragische Liebesgeschichte, einen verrückten Alten, Eifersüchteleien, Ambitionen - nicht ermessen." In der FAZ kann Gerald Felber die Einwände an Rattle nicht nachvollziehen, er bilde doch ganz wunderbar die "rauen wie feinfühligen, fremd-eindringlichen Klangwelten des mährischen Meisters" nach. Überragend findet die Inszenierung auch Ulrich Amling im Tagesspiegel.

Das Theater mag diverser werden, aber es verliert die "eigenwillige, interessanten und widerständigen Menschen", beklagt die Schauspielerin Regina Fritsch, die seit 37 Jahren Ensemble-Mitglied des Wiener Burgtheaters ist, im Standard-Interview mit Stephan Hilpold: "Wir entwickeln uns zu Ikea-Menschen, durch die Globalisierung werden wir alle gleicher. So wie es in der Natur ein Artensterben gibt, gibt es am Theater ein Typensterben. Als ich am Burgtheater angefangen habe, gab es 170 Ensemblemitglieder, heute gibt es nur mehr siebzig. Schauspieler müssen sehr viele Rollentypen abdecken."

Besprochen werden die Uraufführung von Eugen Engels Oper "Grete Minde" in Magdeburg (die auch ohne die bewegende Geschichte um den 1943 in Sobibor ermordeten Komponisten Bestand hätte, wie Manue Brug in der Welt versichert, mehr hier), Jetske Mijnssens Inszenierung von Francis Poulencs Oper "Dialogues des Carmélites" (die Thomas Schacher in der NZZ zwar konsequent, aber auch ein wenig zu reduziert findet) und Joana Tischkaus Musical "Karneval" am Theater Oberhausen (SZ), Massenets "Don Quichotte" am Staatstheater Darmstadt (FR).
Archiv: Bühne

Design

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Paris feiert Yves Saint Laurent - gleich fünf Museen widmen sich an sechs Standorten dem 2008 verstorbenen Modedesigner. Eine "postmodern eklektische Suite" in sechs Sätzen, deren Stationen FAZ-Kritiker Marc Zitzmann im einzelnen zwar gern abgeschritten hat, wenngleich er das über die Stadt verstreute Konzept - zehn Kilometer Fußmarsch, über 70 Euro an Eintrittspreisen - für verfehlt hält. Visuelle Eindrücke liefert der zur Ausstellung passende Instagram-Hashtag.

Weiteres: Sabine von Fischer hat den Schweizer Designer Alfredo Häberli für die NZZ in dessen Atelier besucht. Die Mode wird wieder flauschig, stellt Tillmann Prüfer in seiner Kolumne im ZeitMagazin fest. Besprochen wird eine Ausstellung über den Bauhäusler Erich Dieckmann in der Kunststiftung Sachsen-Anhalt in Halle (FAZ).
Archiv: Design

Kunst

In der Affäre um den Kulturmanager Walter Smerling, der vom Berliner Senat sogar noch Zuschüsse in Millionenhöhe für seine private "Kunsthalle Berlin" in den Hangars des Flughafens Tempelhof erhielt, gerät jetzt auch Kultursenator Klaus Lederer von der Linkspartei in die Kritik. Offenbar hat er dem In der FAZ wirft Niklas Maak ihm vor, sich aus der Verantwortung zu reden, wenn er meint, das Geld sei nicht aus seinem Haus gekommen und er leite ja keine "Kulturverhinderungsbehörde": "Hätte man von einem Kultursenator, der seine Arbeit ernst nimmt, nicht erwarten können, dass er dafür kämpft, eine derart üppige Summe an Steuergeldern nicht einfach an eine private Stiftung durchlaufen zu lassen, sondern sie anteilig den hoch kompetenten Kunstinstitutionen Berlins zur Verfügung zu stellen, die jeden 5.000-Euro-Zuschuss mit Unmengen an Antragsformularen erkämpfen müssen?... Das Grundproblem, das sich hier abzeichnet, liegt darin, dass Berlins Politik die Expertise ihrer Museumsleute und Kuratoren ignoriert und die Entscheidung darüber, was mit öffentlichen Mitteln gefördert und gezeigt wird, an Private delegiert."

In der SZ sieht Peter Richter hier eher das Problem einer anderen Partei: "Es fällt auf, dass es meist sozialdemokratische Politiker sind und meistens Kunst, bei der man innerlich Gerhard Schröder leise 'doll' sagen hört: wuchtig und staatstragend daherkommende Großformate von etablierten Männern wie Kiefer, Baselitz, Lüpertz oder jetzt halt deren französischem Äquivalent Venet. Man könnte davon ausgehend nun Überlegungen über kulturelle Minderwertigkeitskomplexe mancher an die Macht gekommener Sozialdemokraten anstellen. Und über das Wort Großmannsucht. Jedenfalls geht es fast immer um Größe - und fast nur um Männer."

In der FAZ schreibt Verena Lueken einen Nachruf auf die Malerin Carmen Herrera, die im Alter von 106 Jahren in New York gestorben und den Großteil ihres Lebens, nun ja, nicht durch Ruhm abgelenkt wurde: "So konnte sie fast siebzig Jahre lang ungestört arbeiten, während rechts und links neben ihr Künstler wie Barnett Newman und Mark Rothko etwa oder Ellsworth Kelly ausgestellt und berühmt wurden und ihre Sammler fanden. Carmen Herrera nicht. Als die New York Times eine Lobrede auf sie mit der Schlagzeile 'The New Hot Thing in Painting' druckte, war Carmen Herrera bereits 94."
Archiv: Kunst

Literatur

Im Perlentaucher wirft Angela Schader einen Blick auf den Schriftsteller Stephen Crane, dem auch Paul Auster gerade eine Biografie gewidmet hat. "Vielen gilt Crane als eine Gründerfigur der modernen amerikanischen Literatur. Seine Sonderstellung bezeugt nicht zuletzt die Tatsache, dass herausragende Schriftsteller von völlig gegensätzlichem Temperament ihm hohe Wertschätzung entgegenbrachten. ... Woraus er seine literarischen Ideen schöpfe, wurde Stephen Crane einmal gefragt. Drei Komponenten nannte er: ein unbestimmtes Verlangen, Kummer - und heart-hunger. Hunger des Herzens. Wohin trieb er den Autor? Nicht in die Gefühligkeit, eher im Gegenteil. Distanz markiert Cranes Schreiben, ob er nun fiktionale Räume schafft oder eigene Erfahrungen in erzählerische Form gießt. Eine Distanz, die nicht aus Indifferenz oder Überlegenheitsgefühl erwächst, sondern aus der Verpflichtung auf Genauigkeit des Blicks; oft werden Begriffe wie 'Kameraauge' und Verweise auf filmische Techniken beigezogen, um seine Darstellungsweise zu schildern. "

Besprochen werden Antje Rávik Strubels Neuübersetzung von Virginia Woolfs Erzählband "Montag oder Dienstag" (Tsp), Natasha Browns "Zusammenkunft" (SZ, Tsp), Doron Rabinovicis "Die Einstellung" (Standard), Fatma Aydemirs "Dschinns" (online nachgereicht von der FAS), Radka Denemarkovás "Stunden aus Blei" (NZZ), Irmgard Keuns "Man lebt von einem Tag zum anderen" mit Briefen von 1935 bis 1948 (NZZ), der Band "Ich habe meine Skepsis, meine Kenntnisse und mein Gewissen" mit Briefen von Walter Boehlich (Freitag), die Comicserie "Der Hafen der Geheimnisse" (Tsp) und Phil Klays "Den Sturm ernten" (FAZ).
Archiv: Literatur

Musik

Wenn Country auf Indie trifft: Auf ihrem fünften Album "Dragon New Warm Mountain I Believe in You" laden Big Thief zur Gelassenheit ein, schreibt Juliane Liebert in der SZ. "Sie spielen, als seien sie ganz sicher, dass sie etwas Sinnvolles tun." Der Song "Change" etwa "ist einer jener Songs, die scheinbar schon immer existieren und nur auf jemanden gewartet haben, der sie aus dem Musikurgestein herauskratzt. ... Obwohl - oder gerade weil - Big Thief auf technologischen Firlefanz verzichten, auf traditionelle Instrumente vertrauen und tief in der amerikanischen Formensprache verwurzelt sind, ist ihre musikalische Bandbreite groß. Manchmal öffnen sie mit federhallenden E-Gitarren die Bühne, dann kommt wieder eine ganz intime, etwas verrauschte Akustikgitarrenskizze." Christian Schachinger vom Standard hat sich bei dem einen oder anderen Stück allerdings schon etwas gelangweilt. Doch "die ganze Unternehmung, die im Bedarfsfall gut als nicht allzu störende Hintergrundmusik taugt, steht und fällt mit Adrianne Lenkers einzigartiger Stimme. Fragil und zitternd, flehend und hypnotisch - und immer wieder auch wie ein Messer durch die Butter schneidend, entsteht so eine Intensität, die so manches überflüssige Lied mehr als entschuldigt."



Besprochen werden die Halbzeitshow beim Super-Bowl, die in diesem Jahr ganz im Zeichen von Hip-Hop stand (Tsp, ZeitOnline), neue Klassikveröffentlichungen, darunter eine experimentelle Bach-Aufnahme von Julien Libeer (SZ), und das neue Album von Mitski, der es egal ist, was man über sie auf Social Media schreibt, selbst wenn sie dort einen Shitstorm erlebt, weil sie verdächtigt wird, Zionistin zu sein (Jungle World).

Archiv: Musik