Efeu - Die Kulturrundschau

Ein leuchtender Stein im Mosaik

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14.02.2022. Im Wettbewerb der Berlinale liefen die beiden deutschen Beiträge. Nicolette Krebitz' Liebesfilm "A E I O U" mit Sophie Rois und Milan Herms versetzt die Kritik in einen wahren Kino- und Freiheitsrausch. Aber auch Meltam Kaptan begeistert in Andreas Dresens "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush". Außerdem feiern alle Alexander Kluge, den Tausendsassa des Geistes und Pionier des Jungen Deutschen Films, der heute neunzig Jahre alt wird. SZ und NZZ lehnen sich mit Michael Endes "Momo" in Zürich gegen die Effizienzpflicht im Theater auf.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.02.2022 finden Sie hier

Film

Erdvergessen schweben: "A E I O U" von Nicolette Krebitz

In ihrem Berlinale-Wettbewerbsfilm "A E I O U - Das schnelle Alphabet der Liebe" erzählt Nicolette Krebitz die Liebesgeschichte zwischen einer 60-jährigen Schauspielerin (Sophie Rois) und einem 17-jährigen Straßendieb (Milan Herms). Diese beiden Figuren "sind reines Kino", schwärmt Frederic Jaeger auf critic.de. "Hat man Rois überhaupt schon einmal so in sich gekehrt, so unterschwellig komisch, so voller kontrollierter Energie im Kino gesehen? Herms bietet in seiner ersten Kinorolle auch deswegen eine großartige Projektionsfläche, weil er wie ein frisch geschlüpftes Küken noch nach den richtigen Bewegungen und Blicken zu suchen scheint." Und dann entführt ihn Reinhold Vorschneiders Kamera "zu einem kurzen Freiheitsrausch an die Côte d'Azur." Die Fahrt an die Riviera "ist eine Flucht, aus dem prosaischen Berlin, ins Reich der Fiktion, in dem sie, wenn es noch kein Drehbuch gibt, sich ihre eigene Geschichte eben erfinden müssen", schreibt Claudius Seidl in der FAZ. Tagesspiegel-Kritikerin Gunda Bartels tänzelt aus diesem Film, dessen Regisseurin keinen Hehl daraus macht, sich an leichten, französischen Liebesfilmen der Sechziger orientiert zu haben: "Ein paar Sekunden erdvergessen schweben können, das fehlt so sehr im Kino und im Leben." Selbst Rüdiger Suchsland ist auf Artechock hin und weg und feiert Krebitz "als die wohl virtuoseste Filmemacherin des deutschen Gegenwartskinos".

Wuchtbrumme mit Minipli: Meltam Kaptan in Andreas Dresens "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" 

Außerdem zeigt die Berlinale Andreas Dresens "Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush" über den Fall Murnat Kurnaz aus der Perspektive von dessen Mutter, die ihren Sohn mit löwinnenhafter Hartnäckigkeit aus Guantanamo boxt. Gespielt wird sie von der Komikerin Meltam Kaptan, die die Filmkritikerinnen ebenfalls umwirft: Sie spielt "eine mütterliche Wuchtbrumme mit blondiertem Minipli, die das bilderreiche deutsch-türkische Idiom (Drehbuch: Laila Stieler) in perlender Koloratur verströmt", schwärmt Sonja Zekri in der SZ. Von einer Idealbesetzung spricht auch Anke Leweke auf ZeitOnline: "Die Kamera kann kaum Schritt halten mit der Power dieser Frau, die erst den örtlichen Imam zusammenschreit und dann unangemeldet im Büro des Menschenrechtsanwalts Bernhard Docke (Alexander Scheer) auftaucht. Sie wird erst gehen, als er sich des Falls ihres Sohnes annimmt." Alles schön und gut, meint Rüdiger Suchsland auf Artechock, doch "wäre der Film nur als Film ein bisschen interessanter! Dann hätte er Chancen auf den Goldenen Bären." Auch tazler Tim Caspar Boehme ist von Meltem Kaptans Wucht hingerissen. Allerdings fragt er sich auch, "ob diese halbe Wohlfühlform für die Geschichte, die Dresen erzählen will, die beste ist. Der eigentliche Skandal des Falls, die deutsche Beteiligung an dem sich scheinbar ohne erkennbaren Grund hinziehenden Verfahren, taucht im Film in wohldosierten Andeutungen am Rand auf, bestimmte Namen werden aber nicht genannt. Der von Frank-Walter Steinmeier etwa." Für die Welt hat sich Hanns-Georg Rodek mit der Hauptdarstellerin unterhalten.

Rücksichtslos zärtlich: Juliette Binoche und Vincent Lindon in "Both Sides of the Blade" von Claire Denis

Andreas Busche berichtet im Tagesspiegel von seiner Begegnung mit Claire Denis, die ihm auf seine Fragen "hart, aber herzlich" antwortet - ihr im Wettbewerb gezeigter Liebesfilm "Both Sides of the Blade" enttäuschte Tsp-Kritikerin Christiane Peitz allerdings. Daniel Kothenschulte von der FR hingegen ist von dem neuen Werk der französischen Autorenfilmerin "aufs Neue verblüfft. Aus den Basiszutaten des Kinos speist sich ihre Virtuosität, sei es das Licht, die Musik (hier wieder von den Tindersticks) oder diesmal hochemotionale Dialoge, die sie mit der Schriftstellerin Christine Angot geschrieben hat." Auch Andreas Kilb in der FAZ ist hin und weg von diesem Film über die Liebe spät im Leben, der unter anderen Bedingungen nur typisches französisches Kino gewesen wäre. Doch da "Juliette Binoche und Vincent Lindon die Hauptrollen spielen und Claire Denis ihnen mit rücksichtsloser Zärtlichkeit zusieht, ist 'Avec amour et acharnement' schon jetzt einer der bleibenden Eindrücke dieses Festivals. Ein leuchtender Stein im Mosaik."

Weitere Artikel: Matthias Dell porträtiert für ZeitOnline den siebzigjährigen Filmemacher Rafael Fuster Pardo, der mit zehn Jahren aus Barcelona nach Berlin kam und dessen "In der Wüste" aus dem Jahr 1987 - "eine Perle" - im Berlinale-Forum wiederentdeckt werden kann: Der Film "ist eine Wundertüte von Nummernrevue, ein Slackerfilm." Rüdiger Suchsland von Artechock fühlt sich von der Nanny Berlinale, die einem zwar stets freundlich, aber mit erheblicher Ausdauer sagt, wie man sich verhalten solle, infantilisiert. Lone Scherfig und Søren Balle sprechen in der taz über ihre beim Festival gezeigte Serie "The Shift". Marion Löhndorf empfiehlt in der NZZ die Retrospektive, die in diesem Jahr klassische Hollywoodfilme mit Mae West, Carole Lombard und Rosalind Russell zeigt. Joachim Huber berichtet im Tsp von einer Diskussion über umweltschonendes Filmemachen. Birgit Rieger führt im Tsp durch das Forum Expanded.

Besprochen werden weiterhin Bertrand Bonellos "Coma" (Tsp), Mikhaël Hers "Les passagers de la nuit" mit Charlotte Gainsbourg und Emmanuelle Béart (Tsp), Philip Scheffners "Europe" (taz), Ulrich Seidls "Rimini" (Tsp, mehr dazu bereits hier), James Bennings "The United States of America" (Tsp), Quentin Dupieuxs "Incroyable mais vrai" (Tsp), Rithy Panhs "Everything Will Be Okay" (Tsp), Tine Kuglers und Günther Kurths Langzeitdokumentation "Kalle Kosmonaut" über einen Jugendlichen in Berlin-Hellersdorf (Tsp), Li Ruijuns "Return to Dust" (taz), neues argentinisches Kino (taz), die Videoessay-Anthologie "Myanmar Diaries" (Tsp) und Kamila Andinis indonesisches Famliendrama "Nana" (Tsp). Außerdem geben Anke Leweke, Daniel Gerhardt und Carolin Ströbele auf ZeitOnline Festivaltipps.

Abseits der Berlinale besprochen werden Fernanda Valades "Was geschah mit Bus 670?" (Tsp), Andrea Arnolds Tierporträt "Cow" (Freitag), die Apple-Serie "Über mir der Himmel" (FAZ) und die Netflix-Serie "Inventing Anna" (Freitag).
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Literatur

Alexander Kluge 2020, Foto: Martin Kraft unter cc-Lizenz
Alexander Kluge wird neunzig, die Feuilletons feiern. Er ist der Tausendsassa des Geistes, kein Gebiet, das ihn nicht interessiert, keine Form, die er nicht beherrscht, kein Medium, in dem er nicht bewandert ist, schwärmt Arno Widmann in der FR. "Was er liest, sieht und hört, was er fühlt und denkt, was er redet, was man ihm sagt, alles geht ein in seine Bücher und Filme. Mal bis zur Unkenntlichkeit verdaut, mal wie Eiszeitfindlinge in den unendlichen Landschaften seiner Texte." Seine "Kunst - in all seinen Künsten - verdankt sich der Erfahrung des Gemetzels. Er hat die Zerbombung seines Heimatortes Halberstadt erlebt. Er weiß, dass alle Zusammenhänge zerstört werden können. Dass wir darauf angewiesen sind, uns unsere Heimaten aus den Trümmern, in die wir hineingeboren werden, selbst zu bauen." Kluge "verwaltet mit größter gedanklicher Gelenkigkeit ein Riesenreich des Wissens", schreibt dazu auch Paul Jandl in der NZZ. "Was Alexander Kluge stets interessiert hat, ist eine 'plebejische Öffentlichkeit'. Eine schwellenlose, nicht elitäre, gemeinsame Arbeit an der Erkenntnis. Bei dieser Arbeit ist das Alberne mitunter genauso wichtig wie die Philosophie."

"Kein anderer operiert wie er im Zwischenreich der absurden Rationalität", schreibt Willi Winkler in der SZ. In der FAZ berichtet Jürgen Kaube von dem Schwindel, der ihn befällt, wenn er auf Kluges ungebrochen hohes Output blickt, mit dem kaum Schritt zu halten ist. "Es teilt sich in ihnen die kontinuierliche Unruhe eines Autors mit, der an so gut wie allem Interesse findet und sich schon deshalb vom Verfassen langer Texte unnötig aufgehalten sähe." Andreas Busche und Gerrit Bartels würdigen Kluge im Tagesspiegel als "Wanderer zwischen Fiktion und Dokumentation. Er verbindet in seinen Büchern Sachlichkeit und Empathie und gebraucht dabei wissenschaftliches und historisches Material als Vorlage für seine fiktiven Räume."

Stefan Aust gesteht in der Welt, als einstiger Panorama-Report von einer Begegnung mit Kluge in den Siebzigern viel gezehrt zu haben. In der SZ würdigt Fritz Göttler Kluge als Pionier des Jungen Deutschen Films. Weitere Grüße zum Geburtstag entsenden Peter Laudenbach (taz) und Ronald Pohl (Standard). Lothar Müller bespricht in der SZ Kluges aktuellen Bücher. Jan Wiele berichtet in der FAZ von den Feierlichkeiten zu Ehren Kluges in München. Ein Blick in die ARD Audiothek bietet ein reichhaltiges Angebot - sehr hervorzuheben ist neben einigen von Kluges Hörspielen dieses große Radioporträt von Karl Bruckmaier aus dem Jahr 2012.

Besprochen werden Esther Kinskys "Rombo" (Freitag), Fatma Aydemirs "Dschinns" (Tsp), Tove Ditlevsens "Gesichter" (Standard), Gerda Blees Debüt "Wir sind das Licht" (Standard), Mathijs Deens "Der Holländer" (FR), Paul Beattys Krimi "Tuff" (online nachgereicht von der FAZ) und eine Neuausgabe von "Josefine Mutzenbacher" (Standard).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Kristina Maidt-Zinke über Dagmara Kraus' "los eines kolosses":

"auf der karkasse des atlaskollos
saß todbleich ein buckliger dornenapollo
..."
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Bühne

Schön die Zeit verschwenden mit Michael Endes "Momo": Foto: Eike Walkenhorst / Schauspielhaus Zürich

Am Zürcher Schauspielhaus hat Alexander Giesche Michael Endes Kinderbuchklassiker "Momo" inszeniert, in dem die grauen Herren von der Zeitsparkasse das alterslose Mädchen Moma davon abhalten, ihre Zeit an die Menschen zu vergeuden. SZ-Kritikerin hat Christiane Lutz musste sich erst ins leichte Spiel einfinden, dann genoss sie es als wahre Verschnaufpause: "Man sucht nach Sinn beim Zuschauen und muss irgendwann feststellen, dass die Sache der Sinn ist. Damit lehnt sich Giesche auch gegen die Erwartung an einen Theaterabend auf. Denn das Theater ist in puncto Effizienzpflicht natürlich nicht besser als der Rest der Gesellschaft. Premiere jagt Premiere, Probenzeiten werden immer kürzer, ein Schauspieler krank? Darf nicht sein. Giesche nennt seine inzwischen unverkennbaren Arbeiten 'Visual Poem', und die sind umgesetzt viel weniger prätentiös, als es klingt. Denn er macht genau das: Er schafft poetische Bilder für Texte, die sich betrachten lassen wie Kunstwerke."

"Die Theaterzukunft gehört Alexander Giesche", jubelt in der NZZ auch Daniele Muscionico, die mit "Momo" das Theater an den "dramatischen Nullpunkt" geführt sah: "Die Inszenierung ist eine Performance von selbsttätigen Hightech-Tools und von dem, was das Ritual Theater seit Anbeginn sakral macht: die Ansprache unserer Sinne. Schmecken, tasten, riechen."

Besprochen werden  Georg Friedrich Haas' Oper "Morgen und Abend" in Graz (Immo Karamans "stimmungsstarke" Inszenierung Stefan Ender findet im Standard preiswürdig, FAZ), Ersan Mondtags "Freischütz"-Inszenierung am Staatstheater Kassel (die Judith von Sternburg in der FR "fabelhaft oberflächlich", aber nicht unsubtil findet, Nachtkritik), Detlev Glanerts Oper "Caligula" am Nationaltheater Weimar ("ein Wurf", meint Joachim Lange in der NMZ), die Wiederaufnahme von Donizettis "Anna Bolena" mit Diana Damrau in der Titelpartie an der Wiener Staatsoper ("nobel im Klang", lobt Standard-Kritiker Ljubisa Tosic) und Sapir Hellers Adaption von George Orwells Fabel "Farm der Tiere" am Münchner Volkstheater (Nachtkritik).
Archiv: Bühne

Kunst

Der Guardian entdeckt die Plakatkunst Klaus Staecks. Katrin Bettina Müller besucht in der taz die Ausstellung zu Gerhard Richters Künstlerbüchern in der Neuen Nationalgalerie in Berlin (taz). Für die FAZ wirft Marco Stahlhut einen Blick in das Tumurun-Museum auf Java, ein Kunstmuseum des indonesischen Textilproduzenten Lukimento.
Archiv: Kunst

Musik

Bei einem von Philippe Herreweghe dirigierten Münchner Abend mit Mozarts Requiem zeigte sich dieser dem SZ-Kritiker Helmut Mauró als "ein Künstler der liebevollen Genauigkeit, der ebenso beharrlichen wie unaufdringlichen Präzision, die am Ende so etwas wie eine innere Glut entfacht mit wenig Feuerschein, aber umso tiefergehender Wirkung." Jede Silbe des lateinischen Textes zählt für ihn: "Manchmal geht das nur auf Kosten eines zügigeren Tempos, das dramatischer wirkt und für einen straffen Gesamtzusammenhalt sorgen kann. Herreweghe geht den beschwerlicheren Weg, lässt der Sprache auch im musikalischen Umfeld ihren Raum, stellt die Gesamtspannung allein durch die rhythmische Grundierung her." Viele Stardirigenten absolvieren Mozarts Requiem oft "lieblos als Pflichtübung", rezensiert Bernhard Neuhoff auf BR Klassik. Doch "Herreweghes Mozart ist - anders als die zappelig manieristische Harnoncourt-Nachfolge eines Currentzis - wunderbar natürlich. Die Details funkeln, das Tempo atmet, aber den Ausschlag gibt immer die Großform, nicht das Klein-Klein der Einzelheiten. Den Philharmonikern macht das hör- und sichtbar großes Vergnügen."

Für die FAS porträtiert Elena Witzeck die Offenbacher Rapperin Liz, die dem hysterischen Männlichkeitskult im Deutschrap mit viel Selbstbewusstsein entgegen tritt. Doch "in der Frankfurter Raptradition steht ihre Musik schon. Beim ersten Hinhören kantig, schroff und aggressiv, dann, wenn man sich einlässt, nuancierter, vor allem in ihren neuen Songs. Manchmal klingt ihre Stimme so blechern wie Rufe der Betonplatzjungen, dass man es kaum glaubt, eine Frauenstimme soll das sein? Sie erzählt von einer Stadt, die von den Drogen lebt, und einem Leben, das nur Härten kennt, von einer Straße, die man allein aus eigener Kraft hinter sich lässt. Vom Aufstieg einer Frau, die sich mit den Gangstern misst."



Außerdem: Schuberts "Winterreise" hält Einzug in die Popmusik, beobachtet Christian Schachinger vom Standard. Ueli Bernays spricht für die NZZ mit dem Schweizer Popsänger Seven.
Archiv: Musik