Efeu - Die Kulturrundschau

Zwangsoptimismus

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23.02.2022. Der Guardian lernt in einer glänzenden Ausstellung in Cotonou, wie vorbildlich sich Benin um restituierte Werke kümmert. Die FR staunt in Frankfurt, wie der Fotograf Torben Eskerod Tote zum Leben erweckt. Die taz probiert in der Berlinischen Galerie das Eigenkleid an und tritt Katastrophen mit blauen Lackgummistiefeln los. Zwei Impro-Musiker sind für den Klassik-Grammy nominiert, die SZ berichtet von den Protesten aus der Hochkultur. Und der Tagesspiegel lässt sich in den Berliner Kunst-Werken von Peter Friedl zum imaginären Dialog mit Toussaint Louverture einladen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.02.2022 finden Sie hier

Kunst

Das Vorurteil, dass sich afrikanische Länder nicht um restituierte Werke kümmern können, sieht Joshua Surtees im Guardian in der Ausstellung "Art of Yesterday and Today, from Restitution to Revelation" im Palais de la Marina in Cotonou, Benin umfassend widerlegt. Die Ausstellung setzt an Benin zurückgegebene Beutekunst mit Werken von 34 zeitgenössischen Künstlern des Landes in Beziehung. Zu sehen sind Artefakte aus jener Epoche, als König Ghezo das damalige Dahomey-Königreich regierte: "Diese lebensgroßen Statuen, die einst in Paris aufbewahrt wurden, zeigen Ghezo und seine Erben Glele und Béhanzin. Eines zeigt einen Mann mit dem Gefieder eines Vogels, das nächste einen Löwenkopf auf menschlichen Beinen und das dritte einen Mann mit dem Körper eines Hais. Diese spiegeln die Vorstellung wider, dass diesen Männern übernatürliche Kräfte zugeschrieben wurden. Unter der Herrschaft von Dahomey-Kämpfern, die gegen die Franzosen kämpften, befanden sich auch weibliche Krieger, Amazonen genannt. Ishola Akpo, eine aufstrebende Benin-Künstlerin, beschloss, Bilder dieser Soldaten und der Königinnen, die über sie herrschten, nachzubilden, indem sie Frauen aus Nordbenin verwendete, die in majestätische Kleidung gekleidet und Waffen hielten. 'Das Projekt untersucht die Erinnerungen vergessener, vernachlässigter und ausgelöschter vorkolonialer afrikanischer Königinnen', sagt Akpo."

Bild: M21A, aus der Serie "Life and Death Masks" © Torben Eskerod, 2001

In der FR lernt Sylvia Staude ganz genau hinzuschauen mit den Fotografien des Dänen Torben Eskerod, dessen Arbeiten derzeit im Frankfurter Fotografie Forum in der Ausstellung "Findings" gezeigt werden. Vor allem Gesichter fotografiert Eskerod immer wieder: "Als 'Life and Death Masks', Gipsabdrücke von Lebenden und auch Toten, die er zum Teil so fotografiert, wie sie im Museum gelagert werden: in durchsichtigen Plastikhüllen. Sie wirken trotzdem lebendig, man hat den Impuls, ihnen Luft zum Atmen geben zu wollen. Die Gesichter-Serie 'Campo Verano' ist auf dem römischen Friedhof entstanden. In Italien ist es üblich, kleine Porträtbilder der Verstorbenen auf den Grabstein setzen zu lassen, mit den Jahren und Jahrzehnten verblassen sie, fransen aus, lösen sich auf. So dass Eskerud das langsame Verschwinden der Gesichter dokumentiert. Und auf diese Weise auch das Verstreichen der Zeit."

Bild: Charles Ray: "Boy". 1992. Whitney Museum of American Art

Hinter der Schönheit und dem Zauber der Skulpturen des amerikanischen Bildhauers Charles Ray, dessen Arbeiten in Ausstellung "Figure Ground" nun endlich im Whitney Museum gezeigt werden, lauert immer auch das Verstörende, erkennt Hannes Stein in der Welt: "Nehmen wir etwa die Statue eines Jungen mit rötlichem Haar und zartrosa Haut. Er trägt kurze blaue Hosen mit Hosenträgern, ein weißes Hemd, weiße Kniestrümpfe, schwarze Schuhe; er sieht also aus, als sei er geradewegs aus den Fünfzigerjahren in unsere Gegenwart gestolpert. Mit der rechten Hand scheint er nach oben zu zielen - Daumen und Zeigefinger bilden eine Pistole -, die Linke hängt schlaff herunter. Und etwas mit dieser Figur stimmt nicht. Erstens ist sie zu groß, vielleicht 170 Zentimeter vom Scheitel bis zur Sohle. Zweitens ist da der Gesichtsausdruck: ein gespenstisches leeres, ein ganz und gar unmenschliches Lächeln. Dieser Junge stammt nicht nur aus den Fünfzigerjahren, sondern auch aus einem Horrorfilm, den man sich lieber nicht in allzu drastischen Bildern ausmalt."

Außerdem: Im Tagesspiegel schreibt Nicola Kuhn zum Tod des Konzeptkünstlers Nikolaus Lang. Besprochen werden die Ausstellung "Viva Venezia! Die Erfindung Venedigs im 19. Jahrhundert" im Wiener Belvedere (Standard) und die Ausstellung "Walid Raad - We Lived So Well Together" in der Kunsthalle Mainz (FAZ).
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Literatur

Sieglinde Geisel unterzieht Angelika Meiers "Die Auflösung des Hauses Decker" dem Page-99-Test von Tell. Das BR-Nachstudio bringt eine Poetikvorlesung der Schriftstellerin Kathrin Röggla.

Besprochen werden die Wiederveröffentlichung von Fritz Meyers Roman "Ich unter anderem" aus den Fünfzigern, die uns Roman Bucheli in der NZZ als Wiederentdeckung wärmstens ans Herz legt, Nora Bossongs Essay "Die Geschmeidigen" (Tsp), Radka Denemarkovás "Stunden aus Blei" (Jungle World), Neal Stephensons "Corvus" (Tsp), Manfred Krugs Tagebücher aus den Neunzigern (Freitag), die kritische Ausgabe von Thomas Manns "Der Erwählte" (SZ), Robert Schneiders "Buch ohne Bedeutung" (FR), der von Harald Schmidt herausgegebene Band "In der Frittensuppe feiert die Provinz ihre Triumphe" über Thomas Bernhard (NZZ), Gianfranco Calligarichs "Der letzte Sommer in der Stadt" (SZ) und Orhan Pamuks "Die Nächte der Pest" (FAZ).
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Design

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Dem Verhältnis zwischen Mode und Kunst geht die Ausstellung "Modebilder - Kunstkleider" in der Berlinischen Galerie nach. Die Reise geht aus dem frühen 20. Jahrhundert, als Anna Muthesius mit dem "Eigenkleid" die Frau aus dem Korsett befreien sollte, bis zum Berlin der Achtziger und darüber hinaus, schreibt Jenni Zylka in der taz. "Bilder von Sibylle Bergemann undbeeindruckende vestimentäre Kostümoriginale aus dem Netzwerk 'Allerleirauh' dokumentieren dazu die Szene Ost-Berlins. Und Künstler:innen wie Wiebke Sim, deren Hüte skulpturale, bunte Objekte sind, holen die Kunst nah an den menschlichen Körper der Gegenwart. ... Käthe Kruse hatte 2013 ein 'neues Kostüm' für das 'Naturkatastrophenballett' gebastelt, das die Gruppe Die Tödliche Doris in den 80er-Jahren auf dem unbebauten, mit Pfützen übersäten Potsdamer Platz aufführte. Jetzt werden die Katastrophen anscheinend mit blauen Lackgummistiefeln losgetreten. Das sieht, man darf es ruhig sagen, eh fast noch besser aus."
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Film

Besprochen werden der von Betty Schiel und Maxa Zoller herausgegebene Band "Was wir filmten" über Filme von ostdeutschen Regisseurinnen nach 1990 (taz), Reinaldo Marcus Greens Sportdrama "King Richard" mit Will Smith (SZ), Dario Argentos neuer, auf der Berlinale gezeigter Film "Dark Glasses" ("die dunkle Einöde wird zum Spiegel tiefer Verlorenheit", muss Michael Kienzl im Filmdienst feststellen), Torsten Körners Arte-Dokumentarfilm "Angela Merkel - Im Lauf der Zeit" (ZeitOnline, mehr dazu bereits hier), Harry MacQueens "Supernova" (Intellectures)
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Bühne

Im Tagesspiegel blickt Nicola Kuhn hinter kulturelle Codes und politische Determinationen, wenn sie in den Berliner Kunst-Werken von den Marionetten des Konzeptkünstlers Peter Friedl "in Unruhe versetzt" wird: "Der 61-Jährige entwickelt mit Vorliebe theatrale Situationen, um das Vorstellungsvermögen des Betrachters zu aktivieren. Vier meisterlich gefertigte Marionetten hängen an langen Fäden inmitten eines Lichtkegels in der großen Kunst Werke-Halle: en miniature Toussaint Louverture, ein Anführer der Haitianischen Revolution, der Automobilmagnat Henry Ford, Giulia Schucht, die Ehefrau des Philosophen Antonio Gramsci, und John Chavafambira, ein afrikanischer Heiler, der 1937 bei Wulf Sachs als 'Black Hamlet' zur Romanfigur wurde. Was könnten die Vier sich zu sagen haben, würden sie auf einer Bühne zum Leben erweckt? Ein imaginärer Dialog beginnt sich im Kopf zu entspinnen."

Besprochen werden das Finale der von Katja Lehmanns "Vernon-Subutex"-Trilogie am Frankfurter Stalburg Theater (FR), Simone Dede Ayivis Stück "The Kids Are Alright" im Theater im Pavillon in Hannover (taz), Martin Kusejs Inszenierung von Sartres "Geschlossene Gesellschaft" am Wiener Burgtheater ("Höllentheater", jubelt Martin Lhotzky in der FAZ), der Ballettabend "Verklärte Nacht" von Antoine Jully am Staatstheater Oldenburg (FAZ) und Hendrik Müllers Inszenierung der Oper "Santa Chiara" von Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha am Staatstheater Meiningen (FAZ).
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Musik

Andrian Kreye berichtet in der SZ, dass es erhebliche Proteste gibt gegen die Entscheidung, mit Jon Batiste (für dessen Stück "Movement 11") und Curtis Stewart (für das Album "Of Power") zwei Musiker in Klassik-Kategorien für einen Grammy zu nominieren, von denen der erste aus dem Jazz kommt, der zweite über Stevie Wonder und Charles Mingus improvisiert und die beide schwarz sind. Der Rassismus einer Musikbranche, die früher nach "Race Music" sortiert habe, schwinge zumindest unterschwellig mit, auch wenn Kritiker "eher mit protestantischen Leistungskriterien argumentieren. Wie könne man ein zwei Minuten langes Stück, das rasch dahinkomponiert wurde, mit dem Orchesterwerk von Leuten vergleichen, die Jahrzehnte darauf hingearbeitet haben?" Doch "die Frage, ob improvisierte Musik keinen Platz in der Hochkultur hat, ist durchaus eine Debatte wert. Die Antworten findet man in der Musik selbst. Jon Batiste gab vergangenen Samstag in der Carnegie Hall ein Solokonzert, bei dem niemand fragte, was das für Musik sei, die er da spielte."



Sven Väth
beschwört auf seinem neuen Techno-Album "Catharsis" nostalgisch die "Feierei", die er in besseren Zeiten vom DJ-Pult gerne mal ausgerufen hat, berichtet Christian Schachinger im Standard. Zu hören gibt es "Zwangsoptimismus. Alles wird bald wieder wie früher sein." Zu hören gibt es passend zu dieser Beschwörung des Status Ante 2020 "flächige elektronische, nicht unbedingt frische, aber durchaus eingängige 'Tech-House'-Sounds und nicht allzu zwingende Mehrzeckhallen-Beats. In ihrer James-Lastigkeit verweisen sie eher auf DJ Westbam oder Kraftwerk aus dem Diskonter als auf forciertere Altvordere wie Jeff Mills."



Weitere Artikel: Die FAZ hat Lotte Thalers Gespräch mit dem Hochschulprofessor Oliver Wille über die wirtschaftliche Lage von Streichquartetten online nachgereicht. Willi Winkler schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Procol-Harum-Sänger Gary Brooker.

Besprochen werden neuer Black Metal von Wiegedood ("ein physisch fordernder, überhitzter musikalischer Raum aus Noise, Geschwindigkeit und Dreck", schwärmt Benjamin Moldenhauer im ND), ein Abend mit der HR-Bigband (FR), ein Konzert des Jazzpianisten Claus Raible (FR), das neue Spoon-Album "Lucifer on the Sofa" ("ein schönes Album", freut sich Standard-Kritiker Karl Fluch) und und King Hannahs Debütalbum "I'm Not Sorry, I Was Just Being Me", das uns SZ-Popkolumnist Jens-Christian Rabe ans Herz legt: Es klingt "wie der Soundtrack zu einem David-Lynch-Neo-Noir-Film, in dem der Horror des Unterdrückten und Irrationalen unserer Existenz mal nicht zur Verzweiflung getrieben, sondern zum Tanz gebeten wird."

Archiv: Musik