Efeu - Die Kulturrundschau

Öfter "Buh!" rufen

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13.05.2022. In Geschichte der Gegenwart fragt der Historiker Philipp Sarasin, warum Bilder aus dem Krieg eigentlich nicht emotionalisieren dürfen. Die taz erzählt am Beispiel der Theaterregisseurin Maja Kleczewska, wie die polnische Regierung auch ohne Verbote missliebige Stimmen mundtot macht. Die SZ freut sich, dass man das Werk des mexikanischen Architekten Luis Barragán künftig im Vitra Design Museum betrachten kann. Die NZZ vertieft sich in eine nachgelassene Skizze zu Imre Kerteszs "Roman eines Schicksallosen".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 13.05.2022 finden Sie hier

Architektur

Das Haus von Luis Barragán in Mexiko Stadt. Foto: Ymblanter unter cc-Lizenz, 2014


Jahrzehntelang saß die Barragán Foundation im schweizerischen Birsfelden auf dem Nachlass des großen mexikanischen Architekten Luis Barragán. Gewiss, sie erforscht sein Werk gewissenhaft, publiziert aber so wenig, dass das Erbe Barragáns der Öffentlichkeit kaum mehr zugänglich war, berichtet Laura Weißmüller in der SZ. "Und deswegen ist es eine wichtige Nachricht, dass das Barragán-Archiv - was 13 500 Zeichnungen, Pläne und Dokumente umfasst sowie eine etwa gleich große Fotosammlung und eine Reihe von Modellen, Möbeln und Objekten - in das Vitra Design Museum überführt wurde und damit zum ersten Mal dem Publikum zugänglich gemacht wird. 'Wir möchten das Zentrum des Barragánismus sein,' sagt der Archivar Matthias Pühl, der sich nun mit dem Nachlass, mit Archiv-Anfragen und der Digitalisierung beschäftigen wird." Also auf nach Weil am Rhein, wo die Reproduktionen der fantastisch farbigen Bauwerke Barragáns vorerst allerdings noch "überwiegend in Schwarzweiß" in einem Schauraum betrachtet werden können.
Archiv: Architektur

Kunst

In Geschichte der Gegenwart denkt der Historiker Philipp Sarasin über die Wirkung von Bildern aus dem Krieg nach. Seit Susan Sontags Essays zu dem Thema hat sich einiges geändert: Vor allem durch die sozialen Medien. Dass sie emotionalisieren, ist nicht neu, so Sarasin. "Die Frage lautet heute nur, ob diese Emotionalisierung - dieses Schockieren, Aufrütteln, etc. - als irgendwie begründet und berechtigt empfunden wird, oder eben nicht. Wenn Habermas die Emotionalisierung zurückweist, dann entweder, weil sie ihm politisch als unbegründet erscheint - oder weil sie eine bisher eher verschwiegene Regel seiner Diskursethik verletzt: Schreie niemals um Hilfe, wenn mündige Bürger:innen gerade dabei sind, das beste Argument zu ermitteln. (Und natürlich: Verwende dazu niemals Bilder!)"

Besprochen werden die Ausstellung "Bitte lachen / Please cry" von Barbara Kruger in der Neuen Nationalgalerie Berlin (Tsp), eine Ausstellung des Fotografen Andreas Rost mit Bildern aus Afghanistan im Berliner Haus am Kleistpark (Tsp), die Ausstellung "Schliemanns Welten" in der James-Simon-Galerie und im Neuen Museum Berlin (FAZ) sowie die Ausstellung zum 100. Geburtstag des Grafikers Otl Aicher im HfG-Archiv im Museum Ulm (SZ).
Archiv: Kunst

Bühne

Als der Intendant des Juliusz-Słowacki-Theaters in Krakau die Theaterregisseurin Maja Kleczewska fragte, ob sie zum 120-jährigen Aufführungs-Jubiläum die "Ahnenfeier" von Adam Mickiewicz inszenieren wollte, war ihr "sofort klar, dass der Held Konrad von einer Frau gespielt werden musste", erzählt Kleczewska der Polen-Korrespondentin der taz Gabriele Lesser. Das kam bei den Nationalisten nicht gut an, mit schlimmen Folgen: "Monate nach der gefeierten Premiere und vielen ausverkauften Vorstellungen - stehen das Krakauer Theater, sein Direktor und die Regisseurin vor einem Scherbenhaufen. Denn die regierenden Nationalpopulisten sehen in der viel gerühmten Inszenierung alles andere als ein 'Meisterwerk'. Politiker der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) leiteten ein Kündigungsverfahren gegen den Theaterintendanten Krzysztof Głuchowski ein, zogen fest zugesagte Gelder in Höhe von fast 3 Millionen Zloty (rd. 650.000 Euro) zurück und stoppten den Prozess, der dem Słowacki-Theater den Status eines Staatstheaters mit fester Finanzierung durch das Kulturministerium bringen sollte. Die Regisseurin Maja Kleczewska musste erfahren, dass ihr eine geplante neue Inszenierung am renommierten Stary Teatr (Altes Theater) in Krakau abgesagt wurde."

Weiteres: Vielleicht sollte man im Theater öfter "Buh!" rufen, um wieder Schwung in die Sache zu bringen, überlegt Ueli Bernays in der NZZ. Tom Mustroph berichtet in der taz von einem Festival des Forum Freies Theater in Düsseldorf zur Feier der Pariser Kommune.

Besprochen werden Benjamin Brittens "A Midsummer Night's Dream" an der Frankfurter Oper (FR), "The Little Lives" von A.L. Kennedy und Ann Cleare bei der Münchner Musiktheater-Biennale (nmz), Alessandro Scarlattis "Il Cambise" an der Oper Kiel (nmz), Bernd Liepold-Mossers Inszenierung von Büchners "Woyzeck" zur Eröffnung des Klagenfurt Festivals (nachtkritik), Egon Monks kapitalismuskritische Erzählung "Industrielandschaft mit Einzelhändlern" in der Inszenierung von Josef Bäcker und Lukas Pergande am Staatstheater Braunschweig (nachtkritik) und eine Aufführung von Thomas Bockelmanns Inszenierung von Taboris "Mutters Courage" in einem Wohnzimmer in New York (SZ).
Archiv: Bühne

Literatur

Mit großer Freude nimmt NZZ-Kritiker Paul Jandl zur Kenntnis, dass bei Forschungen in Imre Kerteszs Nachlass auch eine Skizze aufgetaucht ist, die die Arbeit am "Roman eines Schicksallosen" erhellt. "Die Sprache der Ernüchterung, die der Schriftsteller für die letzte Fassung des Romans gefunden hat, steckt in dieser ersten Fassung noch unter einer wahren Flut von Adjektiven. Sie ist begraben unter einer fast heiteren Budapester Atmosphäre voller deutscher Offiziere und konventionellem Erzählen. Gegen diese Art zu schreiben hat Imre Kertész noch über ein Jahrzehnt gekämpft. ... Was diese frühen Tagebücher aus der Werkstatt von Kertész so besonders macht, ist die darin verhandelte prekäre Verwicklung von Sprache und Erfahrung. Für das Unsagbare, die tödliche Gewalt der Konzentrationslager, Worte zu finden, ist das eine. Den Vierzehnjährigen, der Kertész in Auschwitz und Buchenwald war, nicht vom Ich der Gegenwart abzuspalten, ist das andere."

Auf 54books spricht die Schriftstellerin Sharon Dodu Otoo über das von ihr ins Leben gerufene Literaturfestival "Resonanzen" über deutschsprachige Literatur schwarzer Autorinnen und Autoren. Ihr gehe es darum, "einen Raum für ganz verschiedene Menschen aufzumachen, für Autor*innen, die bisher nur im Selbstverlag, einem Kleinverlag oder noch gar nicht veröffentlicht haben, damit sie Zugang finden zum Literaturbetrieb. Es ist weniger mein Interesse, den 'besten' Text zu finden. ... Mir geht es darum zu überlegen, was sich die Geschichten gegenseitig und im Hinblick auf andere literarische Werke, andere afrodiasporische Texte erzählen."

Außerdem: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. In der SZ verrät die Schriftstellerin Yael Inokai, was sie gerade auf dem Lesetisch hat.

Besprochen werden unter anderem Yade Yasemin Önders Debütroman "Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron" (SZ), Michael Kempes "Die beste aller möglichen Welten. Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner Zeit" (FR), Ingo Schulzes Essaysammlung "Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte..." (FR) und der Briefwechsel zwischen Albert Einstein und Moritz Schlick (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Eine ausklingende Pandemie und wachsender Konkurrenzdruck: Netflix schrumpft erstmals. Kein Grund zur Häme, findet Barbara Schweizerhof im Freitag: "Das Verhältnis von Streamingdienst und Kino kam in der Debatte nie anders als das einer erbitterten Konkurrenz vor. Genau dieses Schema aber erweist sich als das große Manko der Diskussion auch hierzulande, wo jetzt die Kinos vor der bangen Frage stehen, ob es eine Rückkehr zur vorpandemischen Besucher-Normalität geben wird. Für den Großteil der Filmliebhaber*innen macht der kategorische Gegensatz zwischen Streamen und Kino schon länger keinen Sinn mehr. Es wäre schön, wenn die Branche selbst von dieser Sichtweise profitieren könnte."

Rein formal ist zwar nichts daran auszusetzen, wenn internationale Produktionen wie Sebastian Meises "Große Freiheit" (mehr dazu hier) und Pablo Larraíns "Spencer" (unsere Kritik) für den Deutschen Filmpreis nominiert sind - in beiden Produktionen steckt deutsches Geld. "Auf den deutschen Film werfen die Nominierungen allerdings ein zweifelhaftes Licht, weil sich die Branche mit falschen Federn schmückt", findet Andreas Busche im Tagesspiegel. "In Cannes beziehungsweise Venedig, wo die Filme ihre Weltpremieren erlebten, wurden weder 'Große Freiheit' noch 'Spencer' als deutsche Filme rezipiert." Dieser "kritische Blick auf 'nationale' Kategorien hat dabei wenig mit chauvinistischem Dünkel zu tun. Er zeigt vielmehr, dass die deutsche Branche zwar gut darin ist, den Filmstandort zu bewerben, aber diese Investitionen wenig nachhaltig auf die einheimische Produktion umgeschlagen werden."

Außerdem: Lukas Foerster (Presse) und Dominik Kamalzadeh (Standard) empfehlen dem Wiener Publikum die erste Ausgabe des "Red Lotus"-Festivals, das asiatisches Genrekino präsentiert. Auf ZeitOnline würdigt Nils Markwardt "GZSZ"-Bösewicht Wolfgang Bahro. Besprochen werden

Ulrike Frankes und Michael Loekens Dokumentarfilm "We are all Detroit - Vom Bleiben und Verschwinden" (Perlentaucher, Freitag), Peeter Rabanes "Firebird" (Perlentaucher), Eline Gehrings und Sara Fazilats Spielfilmdebüt "Nico" (SZ) sowie Julian Radlmaiers "Blutsauger" (Zeit, mehr dazu bereits hier).
Archiv: Film

Musik

Dass der ukrainische Act Kalush Orchestra das ESC-Finale am kommenden Wochenende schon aus Gründen politischer Solidarität gewinnen wird, steht für die meisten Zuschauer, die Wettbüros und auch für Jan Feddersen kaum infrage. Ein bisschen schade findet der tazler dieses Bonus allerdings schon, denn "die Politisierung beziehungsweise die Solidaritäts- und Mitgefühlsreaktionen machen es für die Band, selbst im Moment des wahrscheinlichen Erfolgs, zwiespältig: Mission erfüllt - dabei hätte 'Stefania' auch in friedlichen Zeit prima Chancen auf den Sieg gehabt. ... Die Frage, die die ukrainische Delegation in Turin am häufigsten gestellt bekommt, ist die nach dem Ort des nächsten ESC: Wo wollt ihr den ESC dann ausrichten? Denn das Siegesland eines ESC verpflichtet sich mit dem Triumph, den nächsten ESC zu veranstalten. Und immer lautet die Antwort der ESC-Verantwortlichen der Ukraine: In unserem Land - wo sonst?" Marco Schreuder (Standard) und Klemens Patek (Presse) resümieren das zweite ESC-Halbfinale.



In der NZZ porträtiert Knut Henkel die malische Sängerin Oumou Sangaré, die den Wassoulou-Beat nutzt, um sich für Frauen stark zu machen: "Finanzielle Unabhängigkeit ist ihr Credo, das sie Frauen nicht nur in ihren poetischen Songs ans Herz legt. Sie zeigt auch vor, wie es geht. Die umtriebige Frau hat ein Hotel in Bamako, eine Rinderfarm, einen Autoverleih, und sie hat den Musikverlag Oumsang aufgebaut." Aber "nach wie vor engagiert sie sich im Kampf gegen Polygamie, Zwangsheirat und Beschneidung von Frauen." Gerade ist ihr Album "Timbuktu" erschienen - wir hören rein:



Im SZ-Gespräch verspricht Intendant Markus Hinterhäuser das Sponsoring der Salzburger Festspiele künftig transparenter zu gestalten. Teodor Currentzis, dessen Ensemble von der santkionierten russischen VK Bank finanziert wird und der bislang keine eindeutigen Statements gegen den Krieg vorgelegt hat, hält er den Rücken frei: "Erklären Sie mir doch bitte, wie man in Russland, wo jede Bank und viele Unternehmen entweder halb- oder ganz staatlich sind, nach westlichen Maßstäben ein Orchester am Leben erhalten kann."

Außerdem: Berthold Seliger resümiert in der Jungen Welt das Acht-Brücken-Festival in Köln. Carolina Schwarz freut sich in der taz, dass US-Popstar Lizzo ihre Casting-Show "Watch out for the Big Grrrls" nicht nur Erniedrigung, sondern zum Empowerment der Kandidatinnen nutzt. In der Frankfurter Pop-Anthologie schreiben Christiane Wiesenfeldt und Dirk von Petersdorff über Nina Hagens "TV-Glotzer".

Besprochen werden ein Auftritt von A-ha (Tsp), Sibylle Baiers Album "Colour Green" (Jungle World), Florence Welchs Album "Dance Fever" (Standard), ein Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin unter Tugan Sokhiev (Tsp), das neue Album von Arcade Fire (Welt) und "A Light for Attracting Attention" von The Smile, der neuen Band der beiden Radioheads Thom Yorke und Jonny Greenwood (ZeitOnline, Pitchfork).

Archiv: Musik