Efeu - Die Kulturrundschau

Mit Drahtbürsten und Schneebesen

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.05.2022. Die FAZ bewundert in Ulm die Plakate Otl Aichers, die auf alle Herrschaftsfarben verzichten. Die SZ widmet zwei Seiten Uwe Tellkamp, dessen neuer Roman "Der Schlaf in den Uhren" heute erscheint. nachtkritik und taz lernen bei der Burning Issues Konferenz 2022, wie mühsam das Bohren dicker Theaterbretter ist, die den strukturellen Machtmissbrauch an deutschen Bühnen tragen. Die SZ warnt: Zu viel Kritik an Ruangrupa könnte die Documenta 15 ins Wasser fallen lassen. Die Welt rollt die Augen: Kritik an der BDS-freundlichen Haltung Ruangrupas ist kein Rassismus. Van berichtet von den letzten Wittener Tagen für Neue Kammermusik unter Harry Vogt. Ab jetzt werden sie weiblich, glaubt die FAZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.05.2022 finden Sie hier

Film

Eine "geologische Ästhetik": "This Rain Will Never Stop" von Alina Horlowa

Bert Rebhandl empfiehlt dem Wiener Publikum im Standard einen Schwerpunkt zum Filmland Ukraine im Filmarchiv Austria. Das ukrainische Kino habe sich 2014 nicht nur sehr ins europäische Kino integriert, sondern auch sich im Innern differenziert "und zwar auch ein bisschen unter der Hand der Filmbehörden, die durchaus regierungsfeudal geführt wurden. ... Auch in der Ukraine gibt es Fraktionen, die das Filmschaffen vor allem am Auslands-Oscar messen, während sich aber neue Talente bemerkbar machen konnten, darunter nicht wenige Frauen: Natalija Woroschbyt (mit ihrem Donbass-Drama 'Bad Roads'), Kateryna Hornostaj (die mit 'Stop-Zemlya' einen der besten Jugendfilme aus dieser Periode gemacht hat), Iryna Zilyk (auch sie beschäftigt sich in 'The Earth is Blue as an Orange' mit der Situation im Osten des Landes). Dazu wäre mit Alina Horlowa noch eine weitere Regisseurin zu zählen, die mit 'This Rain Will Never Stop' eine ungewöhnliche, man könnte fast sagen: geologische Ästhetik für den Fall eines jungen Syrers gefunden hat, den eine komplizierte Familiengeschichte zuerst nach Luhansk, dann nach Kiew und später nach Deutschland, schließlich über die Türkei zurück nach Syrien führte."

Besprochen werden Julian Radlmaiers "Blutsauger" (SZ, Freitag, Tsp, mehr dazu bereits hier), Eline Gehrings Rassismus-und-Karate-Film "Nico" (Tsp, ZeitOnline, taz), Michael Loekens und Ulrike Frankes Dokumentarfilm "We are all Detroit" (taz, Welt, SZ), Sabine Derflingers Dokumentarfilm über Alice Schwarzer (NZZ, Standard), Pan Nalins "Das Licht, aus dem die Träume sind" (SZ, mehr dazu bereits hier), die Abenteuer-RomCom "The Lost City" mit Sandra Bullock und Channing Tatum (taz) sowie Sam Raimis "Doctor Strange 2" (critic.de). Außerdem verrät uns die SZ, welche Filme sich diese Woche wirklich lohnen.
Archiv: Film

Musik

Es war der letzte Jahrgang der Wittener Tage für Neue Kammermusik unter Harry Vogt nach 33 Jahren Dienst. Im WDR vermisst der scheidende Leiter ein wenig die harten Konfrontationen der frühen Jahre, als ein C-Dur noch energische Streits nach sich ziehen konnte. Heute ist die Lage entspannter, wie auch Eleonore Büning im VAN-Magazin im großen Resümee des Festivals beobachtet: "Es geht extrem divers, betont grenzenlos zu in Witten. Alles ist möglich: jede Besetzung, alle Stile, Formen, Gattungen. Auch Lieder sind hier unter dem Begriff Kammermusik subsumiert, genau wie Klanginstallationen, Orchesterkonzerte, Musiktheater." Aber wie geht es in Zukunft weiter mit dem Festival und der Neuen Musik? Es wird weiblich, glaubt FAZ-Kritikerin Lotte Thaler: Frauen "machten in Witten die Hälfte aller Autoren aus und tummelten sich vor allem als Klangkünstlerinnen im Schwesternpark der Diakonissinnen, eine botanische Oase in Witten. Sogar bei den Dirigenten achtete Vogt auf Parität, mit dem Debüt der resoluten Elena Schwarz vor dem Ensemble Modern und Bas Wiegers vor dem WDR Sinfonieorchester im Schlusskonzert. Als wär's ein Stück von John Cage, hatte die Schwedin Malin Bång hier für ihr Klavierkonzert kurzerhand Küchenutensilien ins Innere des Flügels verfrachtet. Rei Nakamura traktierte die scheppernden Eingeweide des Instruments mit Drahtbürsten und Schneebesen, während sich das Orchester als Mixer auf unterster Geschwindigkeitsstufe leise donnernd dazuschaltete."

Maria Aljochina von Pussy Riot ist unter abenteuerlichen Bedingungen aus Russland vor Hausarrest und Gefängnisstrafe geflohen, berichten Valerie Hopkins und Misha Friedman in der New York Times: Aus ihrer überwachten Wohnung floh sie als Essenskurierin verkleidet. "Ihr Handy ließ sie als Köder in der Wohnung zurück und um ein Tracking zu vermeiden. Ein Freund brachte sie nach Belarus. Von dort brauchte sie eine Woche, um sich nach Litauen durchzuschlagen."

Außerdem: Dirk Schneider plaudert für die taz mit Belle and Sebastian, die eben ein neues Album vorgelegt haben. Von der futuristischen Stadt, die der US-Rapper Akon in Senegal, wo seine Eltern herkommen, errichten will, ist auch nach zwei Jahren Baubeginn so gut wie nichts zu sehen, wundert sich Katrin Gänsler in der taz. Peter Rehberg erklärt den Freitag-Lesern den Eurovision Song Contest. Ljubisa Tosic spricht im Standard mit Leiterin Elke Hesse über zehn Jahre Wiener Sängerknaben-Konzertsaal. Coldplay sehen sich Vorwürfen ausgesetzt, dass ihre groß als "grün" angekündigte Tournee womöglich doch nicht so grün ist, berichtet Sandro Oertli im Tagesanzeiger. Katharina Stöger vom Standard freut sich auf Tarek Atoui bei den Wiener Festwochen. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker in dieser Woche Liza Lehmann (hier) und Leni Alexander (dort). Der Sommerhit des Jahres ist gefunden, jubelt Jan Küveler in der Welt und kürt "Stevie" von Warpaint dazu:



Besprochen werden der Debütauftritt des ukrainischen Exilorchesters "Mriya" in Berlin (Tsp), Christian Gerhahers "Lyrisches Tagebuch" über Lieder von Franz Schubert bis Wolfgang Rihm (FAZ) und Jack Harlows Rap-Album "Come Home the Kids Miss You" (Standard).
Archiv: Musik

Design

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Eine Ausstellung im HfG-Archiv im Museum Ulm erinnert an Otl Aicher, den Mitbegründer der Hochschule für Gestaltung und Plakatgestalter. Vor allem der letzte Aspekt steht im Mittelpunkt der Ausstellung, berichtet Hannes Hintermeier in der FAZ. Aicher gestaltete die neue Zeit nach dem Krieg mit: "Die Dinge des täglichen Lebens sollten einfach sein, dem Menschen dienen, reduzierte Formensprache besitzen, sich politischem Missbrauch verweigern." Legendär sind seine Plakate zur Olympia '72 in München: Aicher "reduziert den Farbkreis: Herrschaftsfarben wie Schwarz, Rot, Purpur und Gold werden gestrichen. Die heute wieder angesagten Farben Blau und Grün - laut Aicher die Farben des Allgäus und Oberbayerns aus der Vogelperspektive - dominieren." (Hier der Katalog zur Ausstellung)
Archiv: Design

Literatur

Tellkamp-Festspiele in der SZ: Besprochen wird nicht nur dessen seit vielen Jahren angekündigte "Turm"-Fortsetzung "Der Schlaf in den Uhren" (hier), sondern auch eine für den 18. Mai angekündigte TV-Doku über ihn (dort). Ein großes Gespräch wurde mit dem Schriftsteller obendrein geführt. Neben dem obligatorischen, aber auch völlig vorhersehbaren Schlagabtausch zu den bei Tellkamp seit 2015 üblichen Themen geht es unter anderem auch um die Konkurrenz, die sich in den letzten Jahren zwischen Zeitgeschichte und Literatur abzeichnet: "Mich interessiert das, was scheinbar am wenigsten metaphysisch ist, und das ist der Alltag. Das ist der flüchtigste Stoff, das, was am wenigsten reflektiert wird. Roman ist, hat Doderer gesagt, was trotz der Geschichte stattfindet. Das interessiert mich, so wie bei Uwe Johnson in den 'Jahrestagen', da gibt es keine große Handlung, keine Story, an der man sich festmacht, kein hartgesottenes, plotgetriebenes Erzählen, sondern Beobachtungen in einer Bank, dann muss das Kind von der Schule abgeholt werden, dann fahren sie nach Staten Island, nach Hause und so fort. Und trotzdem ergibt sich ein Bild, und dieses Bild transzendiert den Alltag."

Außerdem: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Daniel Ammann liest für die NZZ Fantasybücher, deren Figuren in andere Romane einsteigen.

Besprochen werden Louis-Ferdinand Célines "Guerre", die erste Veröffentlichung aus einem Konvolut von erst kürzlich wiederentdeckten Manuskriptseiten des Autors (FAZ), Erik Svetofts Comic "SPA" (Tsp), Keiichiro Hiranos "Das Leben eines Anderen" (Welt), Herman Heijermans Krimi "Duczika" (online nachgereicht von der FAZ) und Yves Gaudins Krimi "Nur die Wahrheit" (TA).
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Bühne

In der nachtkritik berichtet Simone Kaempf von der Burning-Issues-Konferenz, die in Berlin in Kooperation mit dem Theatertreffen stattfand. Nachdem man in den Jahren zuvor die Strukturen am Theater als rassistisch und sexistisch kritisiert hatte, war diese Konferenz eher von Ernüchterung geprägt: "Da, wo die Strukturen wirklich verändert werden sollen, entpuppt sich die Umsetzung als schwieriger und langwieriger als gedacht."

Immerhin von einigen positiven Beispielen weiß taz-Kritiker Matthieu Praun zu berichten: "In einer Branche, die auf Selbstausbeutung im Namen der Kunst basiert, kann daraus schnell Selbstausbeutung im Namen der Diversität werden. Besonders von Angehörigen von Minderheiten wird oft genug erwartet, dass sie zusätzlich zu ihren eigentlichen Aufgaben auch noch nebenbei ihre Häuser reformieren. Eine einfache und doch radikale Lösung für das Ressourcenproblem wäre: weniger produzieren. Das Theater Basel, dessen Schauspielsparte seit 2020 von einer Viererspitze aus Schauspieler:innen, Regisseur:innen und Dramaturg:innen geleitet wird, führt bewusst weniger Inszenierungen pro Spielzeit auf. Damit werden nicht nur längere Probenprozesse ermöglicht, sondern auch die zur Selbstorganisation notwendigen Räume geschaffen, so Jörg Pohl, Mitglied des Basler Leitungsteams. Er berichtet außerdem von Gagen, die nach Alter statt nach Verhandlungsgeschick ausgezahlt werden.

Weitere Artikel: In Oberammergau beginnen am Wochenende die Passionsspiele: Peter Kümmel macht für die Zeit einen Besuch. Massimo Perinelli von der Rosa-Luxemburg-Stiftung schreibt im Van Magazin über Ben Frosts "Der Mordfall Halit Yozgat" an der Staatsoper Hannover und andere Inszenierungen zur NSU-Mordserie.

Besprochen werden die Uraufführung von Thierry Escaichs Märchenoper "Shirine" an der Oper Lyon (nmz), Lili Boulangers Oper "Lili" an der Neuköllner Oper (taz), Hector Berlioz' "Les Troyens" an der Bayerischen Staatsoper (nmz), Paul Hindemiths lustige Oper "Neues vom Tage" in Gelsenkirchen (nmz) und "Bookpink" von Caren Jeß in der Box des Frankfurter Schauspiels (FR).
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Kunst

In der SZ warnt Catrin Lorch: Ruangrupa könnte die Documenta absagen, wenn sie weiter wegen ihrer positiven Einstellung zur Israel-Boykott-Organisation BDS kritisiert werden. Schließlich könne man das auch als Rassismus verstehen: "Die Bio-Reisbauern, die asiatischen Feministinnen und indischen Lehrer, die in den bisherigen Künstlergesprächen zu Wort kamen, sollte man nicht unterschätzen: Sie alle reklamieren in der Auseinandersetzung, die sich jetzt abzeichnet, die Position des globalen Südens, in der Sprache der internationalen Szene als 'The South' apostrophiert. In ihrem Brief betonen sie, dass Antisemitismusvorwürfe vor allem schnell gegen Menschen aus dem Süden und aus dem Nahen Osten erhoben werden."

Für Marcus Woeller (Welt) zeigt der Brief Ruangrupas vor allem, "das Unvermögen wie den Unwillen der Documenta-Leitung, sich überhaupt mit Kritik auseinanderzusetzen. Stattdessen propagiert sie die Schuldumkehr, unterstellt ihren Kritikern Rassismus." Woeller weist auch darauf hin, dass der Brief "auf Englisch bei eflux erschienen ist. Das OnlineKunstmagazin darf spätestens seit der Veröffentlichung eines 'Letter Against Apartheid' im Mai 2021 - er wirft Israel 'Massaker' an Palästinensern vor und wurde auch von Ruangrupa-Mitglied Farid Rakun unterstützt - als Unterstützer der Kampagne 'Boycott, Divestment and Sanctions' (BDS) gelten." Alles in allem zeigt ihm die abgelehnte Debatte, dass die Organisatoren der Documenta vor allem "wollen, dass der BDS in Deutschland nicht nur nicht als antisemitisch definiert, sondern vielmehr salonfähig gemacht wird."

Weitere Artikel: Für die Zeit besucht Tobias Timm in einem struppigen Teil Berlin-Schönebergs das neue George-Grosz-Museum.

Besprochen werden die große Renoir-Ausstellung im Frankfurter Städel Museum (NZZ), Marie Noëlles Dokudrama "Heinrich Vogeler - Aus dem Leben eines Träumers" (taz), die Ausstellung "Erfolgsprogramm Künstlerbücher - Der Verlag der Buchhandlung Walther König" im Frankfurter Museum für Angewandte Kunst (FR, FAZ), die Ausstellung "Architectures of Cohabitation" über Architektur und Artenschutz im Berliner Schau Fenster (SZ).
Archiv: Kunst