Efeu - Die Kulturrundschau

Alte Freunde des Intendanten

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11.07.2022. Die SZ sieht im neuen Trend zum Leitungskollektiv nicht mehr als eine anarchische Geste, die feudale Machtstrukturen eher kaschiert als korrigiert. Die FR entdeckt im Maastrichter Bonnefantenmuseum mit Melati Suryodarmo fantastische Kunst aus Indonesien. In der Welt betont Monika Maron: Ich bin Gegner, kein Opfer. In der FAZ wünschte sich der Musikjournalist Rolf Witteler auch für die deutschen Radios eine Quote für frankophone Musik.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.07.2022 finden Sie hier

Kunst

Melati Suryodarmo: Head Piece, 1997. Bild: Bonnefantenmuseum

Nachdrücklich empfehlen kann Sandra Danicke in der FR eine Schau der indonesischen Performancekünstlerin Melati Suryodarmo im Maastrichter Bonnefantenmuseum: "Gerade jetzt, wo zeitgenössische Künstler aus Indonesien unter dem Generalverdacht einer antisemitischen Gesinnung stehen, zeigt Suryodarmo, wie fantastisch beides zusammengehen kann: die Kultur und Geschichte Indonesiens und eine zeitgemäße europäische Kunstauffassung. Der Buttertanz zum Beispiel ist unmittelbar zu verstehen. Ein Mensch lässt sich nicht unterkriegen, fällt, steht auf, ist stark, selbstbewusst - und vor allem eindeutig eine Frau. Dass die Künstlerin sich auf die Bewegungen des traditionellen Pakarenatanzes der in Südsulawesi lebenden Bugis bezieht, dass der Trommelschlag von einer schamanistischen Trance-Zeremonie stammt, verleiht der Arbeit eine zusätzliche Bedeutungsebene. Aber das Wichtigste - und das gilt für alle ihre Arbeiten - ist, dass sie starke, eindrückliche Bilder schafft. Bilder, die im Kopf bleiben, dort nachhallen. Bilder, die berühren, ganz gleich, wo man herkommt."

Leitungskollektive sind im Kulturbetrieb gerade en vogue. In der SZ geißeln Peter Laudenbach, Kai Matthiesen und Judith Muster die anarchische Geste des Kontrollverzichts als einen "Spaß unter ein paar Hochprivilegierten und Hochsubventionierten", der wie im Fall der Documenta zum Organisationsversagen führe. Und: "Die künstlerische Leitung der Documenta einem Kuratoren-Kollektiv anzuvertrauen, lag im Kulturbetriebs-Trend, ebenso Ruangrupas Weigerung, Kontrollfunktionen zu übernehmen. Zumindest an der Oberfläche soll Macht im Betrieb abgebaut oder wenigstens kaschiert werden. Um Machtasymmetrien zu korrigieren, werden derzeit allerorten, besonders gerne in hoch subventionierten Theaterhäusern, Leitungskollektive ausgerufen und gefordert. An der Berliner Volksbühne ist die angeblich kollektive Intendanz nicht mehr als eine Phrase. Die beiden Schauspieler, die das Haus informal mitleiten, sind nicht etwa vom Ensemble gewählt, es sind alte Freunde des Intendanten: Das ausgerufene Kollektiv geht nahtlos ins Theaterfeudalsystem über, in dem die Nähe zum Mächtigen über Privilegien entscheidet."

In der NZZ attackiert Claudia Schwartz nicht nur Kulturstaatsministerin Claudia Roth, die sie verantwortlich macht für die "peinlich-uneinsichtige Vorstellung einer deutschen Politik- und Kulturelite". Schwartz wünscht sich wieder mehr Strenge: "Roths Vorgängerin Monika Grütters (CDU), die dem Amt nach einigen farblosen Protagonisten endlich zur Wahrnehmung verholfen hat, wurde nachgesagt, mit eiserner Hand zu teilen und zu herrschen. Vielleicht wissen wir jetzt ja, warum."

Besprochen werden die große Piet-Mondrian-Schau in der Fondation Beyeler (die NZZ-Kritiker Philipp Meier den Mitbegründer der Abstraktion auch als Landschaftsmaler zeigt), Arthur Jafas Ausstellung "Live Evil" im Luma Arles (taz), die Ausstellung des ukrainischen Künstlers Fedir Tetyanych "Everywhere Is My Endless Body in der Berliner Galerie CCA (taz).
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Bühne

Die Kultur mag unter Long-Covid leiden, aber sie bleibt doch seelenrelevant, betont Christian Peitz im Tagesspiegel angesichts eines verunsicherten Kulturbetriebs, dem das Publikum abhanden kommt. Aber Peitz sieht auch, dass zwar die Älteren den Kino- und Theatersälen fern bleiben, die Jungen jedoch zu den Musikfestivals strömen. Daraus muss die Kultu Konsequenzen ziehen, meint sie: "Liebes Publikum, wir kommen auf euch zu, wir sind für euch da. Wenn die Kultur nicht in den Krisenhaushalten weggespart werden will und ihre Vielfalt nicht drastischer Kommerzialisierung weichen soll, wird sie diesen Impulsweiter verstärken müssen. Ein Zurück zu den ohnehin nicht mehr guten alten Zeiten gibt es nicht. Und der nächste Corona-Winter kommt bestimmt: Die Popgruppe Revolverheld hat ihre für Anfang 2023 geplante Arena-Tournee letzte Woche gecancelt. 'Wir werden wahrscheinlich nichtdie Einzigen bleiben, die jetzt diesen Schritt gehen müssen', teilte die Band mit. Nein, es ist nicht vorbei. Attraktiver werden für die Jungen, ohne die Älteren zu verprellen, darauf kommt es an."

Besprochen werden Anna Rún Tryggvadóttirs und Thorleifur Örn Arnarssons "Temple of Alternative Histories" am Staatstheater Kassel( in dem Nachtkritiker Sascha Westphal Wagner "Ring" zu einem verspäteten Hippie-Traum verklärt sieht), Strawinsky-Oper "The Rake's Progress" ganz in Schwarzweiß am Staatstheater Mainz ("erstklassig", findet Bernhard Uske in der FR), "Die Entführung aus dem Serail" beim Kammeropern-Festival auf Schloss Rheinsberg (Tsp), Selen Karas Bühnenfassung von Fatma Aydemirs Roman "Dschinns" am Nationaltheater Mannheim (taz), Verdis "Aida" mit Anna Netrebko Arena di Verona (in der SZ liegt ihr Helmut Mauró wieder wie am ersten Tag zu Füßen)
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Film

Das Multiversum ist im Kino und im Fernsehen angekommen, schreibt Stefanie Beck in der Jungle World. Ein Vorreiter ist die Animationsserie "Rick and Morty", nun schlachtet aber auch das Blockbusterkino die wissenschaftliche Theorie aus, dass unsere Realität nur eine neben unzähligen anderen Realitäten darstellt. "Gemeinsam sind den Multiversum-Geschichten die Thematisierung von psychischer Gesundheit und Wahnsinn und die Frage nach der eigenen Identität. Alle Figuren scheinen von irgendwas überfordert zu sein; die einen von der Enge der Realität, die anderen von den schier endlosen Weiten des Multiversums." Und "nicht nur bietet das Multiversum großartige erzählerische Möglichkeiten, es ermöglicht es den Drehbuchautoren auch, frühere filmischen Inkarnationen derselben Figur sowie Charaktere aus anderen Serien und sogar aus Spin-offs, die noch gar nicht existieren, zu importieren. Marvel baut auf den Grundfesten der Viele-Welten-Theorie sein ökonomisch mächtiges Filmimperium aus." In den Comics von Marvel und DC gibt es diese Strategie freilich schon seit Jahrzehnten.

Weitere Artikel: Wenn die Autos verschwinden, verschwindet auch ein Kinomythos, hält Elmar Krekeler in der Welt fest. Auf ZeitOnline nimmt Caroline Rosales in einem sehr persönlichen Nachruf Abschied von Klaus Lemke (weitere Nachrufe hier und dort), einen weiteren Nachruf schreibt Jenni Zylka in der taz. Besprochen werden Laura Bispuris "Das Pfauenparadies" (Tsp) und die True-Crime-Serie "The Girl from Plainville" (taz).
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Stichwörter: Multiversum, True Crime

Literatur

Für den Standard hat Bert Rebhandl unter erschwerten Bedinungen mit Frank Witzel über das Absurde gesprochen. Anlass ist Witzels Auftritt beim Literaricum in Lech, aber auch Witzels neues Buch "Erhoffte Hoffnungslosigkeit. Metaphysisches Tagebuch II". Dabei handelt es sich um "ein Beobachtungsbuch meines Geistes. Im Nachhinein füge ich nichts hinzu. ... Das Persönliche ist eher zurückgenommen. Ich offenbare mich aber mit durchaus eigenartigen Zuständen und Verunsicherungen. Etwa mit der Frage: 'Stehe ich am Rande des Wahnsinns?' Dann beruhigt es mich, wenn ich das schon einmal formulieren kann. Am Anfang steht häufig eine körperliche Verfassung, die ich in Gedanken zu überführen versuche, sodass ich mich aus gewissen Zuständen heraus- und in den Tag hineinretten kann. Das heißt, es geht in den Tagebüchern immer um etwas. Ich denke nicht in einem luftleeren Raum, sondern von einer konkreten Befindlichkeit aus. Ich bin eigentlich kein Tagebuchschreiber, aber damals, beim ersten metaphysischen Tagebuch (Uneigentliche Verzweiflung, 2019), war ich in einer Schreib- und auch sonstigen Krise und habe, auch wenn das paradox klingen mag, darauf mit täglichem Schreiben reagiert."

Für Welt+ hat Anna Schneider ein großes Gespräch mit Monika Maron geführt, die vor kurzem 81 Jahre alt geworden ist. Es geht viel um das Altern, aber auch darum, warum sie sich als Frau und Ostdeutsche in keine Opferhierarchie einfügen möchte: "Dass Ostdeutsche ja eigentlich auch nach Deutschland immigriert sind, halte ich für eine der absurdesten Behauptungen, die von migrantischer Seite erhoben wurden. Ich habe einmal geschrieben, dass man in zwei Rollen im Leben nicht geraten darf: Opfer und Zeitzeuge. Ich wollte auch in der DDR kein Opfer sein. Opfer ist man, wenn man umgebracht wird, wenn man eingesperrt wird, wenn man wirklich gewalttätig seiner Freiheit oder seines Lebens beraubt wird. In einer Gesellschaft wie unserer kann man sich dagegen wehren. Den Gefallen, sein Opfer zu sein, will ich niemandem tun. Ich bin ein Gegner - kein Opfer."

Außerdem: Jopa Jotakin gibt im Standard Einblick, wie Autoren (nicht) über die Runden kommen, auch wenn sie nicht im Fokus des feuilletonistischen Interesses stehen. Im Standard erklärt der Lyriker Timo Brandt, wie er seine angekündigte Lyrikreihe in der Zeitung kuratieren wird. Michael Wurmitzer wirft im Standard einen kurzen Blick auf die Austauschprozesse zwischen Literatur und Games. In der Zeit erinnert Jean-Martin Büttner an den Schriftsteller Hermann Burger, der in diesen Tagen 80 Jahre alt geworden wäre. Gregor Dotzauer (Tsp) und Herbert Wiesner (Welt) gratulieren dem Lyriker Jürgen Becker zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Olga Tokarczuks "Anna In. Eine Reise zu den Katakomben der Welt" (Standard), Giancarlo Calligarichs "Der letzte Sommer in der Stadt" (Standard), Anatol Regniers Studie "Jeder schreibt für sich allein. Schriftsteller im Nationalsozialismus" (Jungle World), György Dalos' "Das System Orbán" (NZZ), Andreas Möllers "Hechte. Ein Portrait" (online nachgereicht von der FAZ), eine Neuauflage von Eugen Egners "Aus dem Tagebuch eines Trinkers. Das letzte Jahr" (Standard), Jean-Marc Jancovicis und Christophe Blaines Klimawandel-Comic "Welt ohne Ende" (Tsp) sowie Ryan Norths und Albert Monteys' Comicadaption von Kurt Vonneguts "Schlachthof 5" (Tsp).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Stephan Opitz über Peter Rühmkorfs "Aufwachen und Wiederfinden":

"Also gut, dein Unendlichkeitsfimmel,
also schön, mein Sterblichkeitswahn -
Aber oben im Drehkipphimmel..."
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Musik

In der FAZ spricht Compilation-Kurator Rolf Witteler über die Gründe, warum es neue frankophone Musik so schwer hat auf dem deutschen Markt: Im Radio etwa gelte "das Französiche als Sprache für Intellektuelle", was Schwellen begünstigt. "Sieht man es als Konkurrenz der Sprachen, hat man neben dem Englischen und dem Deutschen hierzulande keine Chance. Wenn man aber die künstlerischen Fähigkeiten der Protagonisten herausstellt, haben frankophone Sänger genauso gute Möglichkeiten, ihr Publikum zu finden. Ob die Sprachen darüber hinaus politisch geschützt werden sollten, weiß ich nicht. Da bin ich eher ein Anhänger von Diedrich Diederichsen, der mal gesagt hat, wir brauchten keine Quoten für deutsche Musik, wir brauchten eine Quote für gute Musik. Das gilt natürlich auch für französische. Dann wäre vieles einfacher." Eben ist der zehnte Teil aus Wittelers Compilationreihe "Le Pop" erschienen. Hier die erste Single daraus:
 


Auf 54books würdigt Jonathan Horstmann den Popstar Harry Styles als "die Wiedergeburt Mick Jaggers im 21. Jahrhundert, nur mit einer zeitgemäßeren Haltung und ohne die zweifelhaften Männlichkeitsgesten". Was insbesondere bei dem jungen, weiblichen Publikum gut ankommt. Denn "Styles ist viel spielerischer, befreiter" als althergebrachte Pop-Entwürfe von Männlichkeit: "eine fast geschlechtslos wirkende Figur, die keine Ansprüche an irgendjemanden stellt, außer dass man sich in ihrer Gegenwart möglichst wohlfühlen soll. In den Kostümen und Accessoires, die dazu auf der Bühne und im Publikum flattern, ist ein halbes Jahrhundert aus Christopher-Street-Day-Symbolik, Ballroom Culture und Gender Studies  aufgegangen. Wer sich wie definiert und mit wem ins Bett geht - komplett egal, niemand soll hier dominiert werden oder sich bevormundet fühlen. Eine schöne Utopie, die gelegentlich ins Kitschige kippt und natürlich auch etwas Kalkuliertes hat. Queerness ist im Jahr 2022 auch ein kommerzielles Konzept."

Weitere Artikel: Das Berliner "Heroines of Sounds"-Festival, das seinen Fokus auf Elektro-Künstlerinnen legt, ist künstlerisch verdienstvoll, aber von den Rahmenbedingungen her eine Zumutung, findet Franziksa Buhre in der taz: Hier würden "nur Programmpunkte durchgepeitscht." Andreas Hartmann (taz) und Joachim Hentschel (SZ) berichten vom Loveparade-Revival "Rave the Planet", das am Samstag in Berlin stattfand. Nach Kate Bush wird nun auch Metallica dank der Netflix-Serie "Stranger Things" in die Charts gespült, beobachtet Richard Kämmerlings in der Welt. Andreas Kolb erinnert In der NMZ an den Pianisten Günter Philipp. In der NMZ gratuliert Peter Gülke dem Dirigenten Herbert Blomstedt zum 95. Geburtstag. Thomas Baltensweiler porträtiert in der NZZ den Tenor Pene Pati, der sich das Singen und Französisch einfach via Internet selbst beigebracht hat und als "neuer Pavarotti" gefeiert wird.



Besprochen werden eine Ausstellung in Eisenach über die Entstehung von Bachs "Wohltemperiertem Klavier" (SZ, FAZ), ein Auftritt von Element of Crime (Presse), ein Auftritt von Ragna Schirmer in Passau (FAZ) und das gemeinsame Album von Jeff Beck und Johnny Depp (FAZ),
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