Efeu - Die Kulturrundschau

Vögel spotten auf Psychoanalytisch

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20.07.2022. Reine Willkür sieht der Tagesspiegel in den Haftsrafen, die das iranische Regime die beiden Filmregisseure Jafar Panahi und Mohamad Rasoulof jetzt antreten lässt. Die FR blickt im Städel der Malerin Ottilie Roedenstein ins entschlossene Gesicht. Die NZZ stellt den Verleger Tony Lyons vor, der sich gewinnträchtig auf gecancelte Bücher spezialisiert hat. Death Metal muss nicht männlich sein, erklärt die Castrator-Schlagzeugerin Carola Perez in der Jungle World.  Das Zeitmagazin rät, der Hitze aufrecht im Dreiteiler gegenüberzutreten.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 20.07.2022 finden Sie hier

Film

Das iranische Regime fährt weiter seine Krallen aus. Jetzt wurde bestätigt: Der kürzlich verhaftete Jafar Panahi muss nun die sechsjährige Haftstrafe antreten, die bereits 2010 über den Filmemacher verhängt, aber bislang nicht vollstreckt wurde. Der ebenfalls verhaftete Filmemacher Mohamad Rasoulof war zuvor ebenfalls zu einer Haftstrafe verurteilt worden. "All diese Urteile wurden nicht vollzogen - das Damoklesschwert des Gefängnisses hing jedoch all die Jahre über den Regisseuren", schreibt Christiane Peitz im Tagesspiegel. "Willkür ist eine bewährt Methode des Regimes, um seine Kritiker in Schach zu halten. Beide Filmemacher arbeiteten weiter (Rasoulof wurde wie Panahi der Pass entzogen, aber er hatte kein Drehverbot). Jafar Panahi drehte in seiner Wohnung das Videotagebuch 'Dies ist kein Film', eine tragikomische Selbstreflexion über die Gefangennahme der Fantasie. Und er drehte, nach dem ebenfalls heimlich entstandenen semidokumentarischen Vexierspiel 'Closed Curtain' (Silberner Bär 2013) das Roadmovie 'Taxi Teheran' (Goldener Bär 2015)."

Wenn die Kunst die Natur respektiert: Alex Garlands "Men"

Im neuen Horrorfilm "Men" des Regisseurs Alex Garland - längst einer der interessantesten Autorenfilmer im Bereich Horror und Science-Fiction - geht es auf schöne Weise garstig zu, verspricht Dietmar Dath in der FAZ: "Ein hässlicherer Film über Schleim, Blut und Chlorophyll lässt sich kaum denken, geschweige drehen. Ein schönerer aber auch nicht. ... Wie es sich für Kunst gehört, herrscht in diesem Film der größte Respekt für das, was nicht Kunst ist, die Natur: Echos komponieren im Idiom eines Minimalismus, der kniffliger gezinkt pfeift als alles von Terry Riley, Vögel spotten auf Psychoanalytisch, Wälder bestehen aus Höhenunterschieden - oben auf dem Hügel, der sich nur erklimmen lässt, wenn man die Mühe nicht scheut, sich an gruslig schwarzen Wurzeln hochzuziehen, kann man auf Baumkronen hinunterschauen." Garland "sucht und findet Anschlüsse an Filmgeschichtliches, an die Ahnen: Und Jacques Tourneur zeugte Nicolas Roeg zeugte David Cronenberg..."

Besprochen werden ein von Lars Henrik Gass herausgegebener Band zum Nachlass des Filmproduzenten Hellmuth Costard (taz) und die Sky-Serie "Il Re" (FAZ).
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Literatur

In der NZZ porträtiert Sarah Pines den Verleger Tony Lyons und sein Haus Skyhorse, das sich gewinnträchtig auf Bücher spezialisiert hat, die andere Verlage nicht mit der Kneifzange anfassen würden - oder nach Gegenwind fallen lassen, etwa Blake Baileys Biografie von Philipp Roth oder Woody Allens Autobiografie. Lyons sieht die "eine neue Prüderie, es gebe immer mehr Denkverbote. ... Skyhorse macht mittlerweile einen Jahresumsatz von 50 Millionen Dollar. Die Kritik, der sich der Verlag ausgesetzt sieht, ist sein Erfolgsrezept: Lyons nutze Kontroversen, die durch Cancel-Culture ausgelöst würden, für den eigenen Profit. An allzu genauem Fact-Checking sei er nicht interessiert, was zähle, sei Polemik. Lyons nimmt es gelassen: 'Nur weil etwas der gängigen Meinung widerspricht, ist es noch lange nicht falsch oder uninteressant.'"

Michael Pilz befällt in der Welt mitunter das nackte Grauen, wenn er in die Bananenkiste seiner alten Kinder- und Jugendbücher samt Mosaik-Comics greift: Gut gemeinter Rassismus, kaum camouflierter Sexismus allenthalben - und ein Sprachgebrauch, der heute die meisten auf die Palme treibt. Nicht immer, aber zuweilen eben doch zu Recht, findet Pilz: Er lernt, "die Geschichten und ihre Geschichte auszuhalten, auch die N- und I-Wörter in Mosaik. Ich lerne aber auch, nicht alles aushalten zu müssen. ... Es soll schon kritische Editionen geben. Meine beiden Ausgaben (...) kommen in die blaue Tonne für Papier und nicht wieder in die Bananenkiste. In den Poesiealben stand früher auch, dass die Erinnerung ein Paradies wäre, aus dem nicht vertrieben werden könnte. Kann man doch."

Besprochen werden unter anderem Olga Lawrentjewas Comic "Surwilo" (SZ), Ralf Rothmanns "Die Nacht unterm Schnee" (SZ), Ann Petrys "The Narrows" (FR), Boris Luries "Haus von Anita" (Intellectures), David Mitchells "Utopia Avenue" (Welt), Dirk Stermanns "Maksym" (NZZ), neue Krimis (SZ) und Annie Ernauxs in Frankreich erschienener Roman "Le Jeune Homme" (FAZ).
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Bühne

SZ-Korrespondent Florian Hassel verbringt in Kiew einen Abend in der Oper, die wieder spielt, auch wenn von einem normalen betrieb keine Rede sein kann: "Wenn die Sopranistin Olha Fomitschova in der Kiewer Oper die Rosina in der Rossini-Oper 'Barbier von Sevilla' oder die Gilda in Verdis 'Rigoletto' anstimmt, folgt sie einer einfachen Regel. 'Ich singe so lange, bis der Dirigent den Taktstock hinlegt und das Licht auf seinem Notenpult löscht. Dann heißt er für alle: ab in den Luftschutzkeller.'"

Weiteres: In der FAZ schreibt Hubert Spiegel zum Tod des Theaterwissenschaftlers Hans-Thies Lehmann. Besprochen werden die Aufführungen beim Opernfestival von Aix-en-Provence (Tsp), Sarah Rindones Inszenierung "Hitze" nach Victor Jestins Roman "La Chaleur" (Nachtkritik) und der "Jedermann" mit Lars Eidinger und Verena Altenberger in Salzburg (Standard).
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Kunst

Ottilie W. Roederstein: Selbstbildnis mit roter Mütze, 1894. Bild: Städel Museum

FR
-Kritikerin Judith von Sternburg lässt sich vom Frankfurter Städel gern bekannt machen mit der Malerin Ottilie Roederstein, für die am Ende des 19. Jahrhunderts die Kunst nicht zu trennen war von einem Lebensentwurf: "Interessant, dass im Städel gleich ein Zuschauer sagt, sie sehe so missmutig aus. Sie malt sich, wie sich Maler malen. Oft mit Pinsel, manchmal mit Mantel, mit Hut, die Haare später grau, die Gesichtszüge ohne Gefälligkeiten. Sie ist nicht das Modell, sie ist die Künstlerin. Sie ist eine Künstlerin, die ihre Bilder verkaufen will, und ihre Bilder will sie verkaufen, damit sie davon leben, ihren Beruf weiterhin ausüben und unverheiratet bleiben kann. Das gelingt ihr so gut, dass einem das Herz höher schlägt, und wie wird es erst den Zeitgenossinnen gegangen sein, die ebenfalls über ein anderes Leben nachdachten." In der FAZ weiß auch Rose-Maria Gropp das Interesse des Städels an Roederstein zu schätzen, auch wenn sie in ihrer Malerei einen eher "konventionellen Stil, mit ein wenig Impressionismus darin" sieht.

Sehr aufschlussreich findet Philipp Meier in der NZZ die Ausstellung "Wege der Kunst" im Zürcher Museum Rietberg, die nachverfolgt, wie religiöse oder rituelle Objekte in Kunstwerke für europäische Museen transformiert wurden. Meier erklärt es am Beispiel der auf Sockeln montierten Buddhaköpfe: "Man ist sich kaum bewusst, dass man es bei diesen Köpfen mit abgeschlagenen Fragmenten ganzer Skulpturen zu tun hat. Und sie werden präsentiert ähnlich wie westliche Büsten von Dichtern und Denkern, wo der Kopf die ganze Person repräsentiert. Diese Tradition geht einerseits auf die Herrscherporträts des alten Rom zurück, anderseits auf die Renaissance, als mit der Rezeption der Antike griechische Kopf- und Figurenfragmente gesammelt wurden. Mit dem aufkommenden Interesse am Buddhismus im 19. Jahrhundert kamen rasch Buddha-Köpfe auf den Markt. Chinesische Plünderer von verlassenen buddhistischen Höhlen und Grotten schleusten solche Fragmente in den internationalen Kunstmarkt, der die Nachfrage von Sammlern und Museen bediente."

Weiteres: Body-Awareness gibt es nicht nur bei Lizzo, sondern auch bei Maria Lassnig, die in Ausstellungen, Literatur und Film gerade sehr gefeiert wird, wie Thomas Mießgang in der Zeit bemerkt. In der Welt schöpft Borid Pofalla mit dem neuen Geschäftsführer Alexander Vahrenholz wieder Hoffnung für die Documenta. Kerstin Stremmel schreibt in der NZZ zum Tod des Pop-Art-Künstlers Claes Oldenburg, in der FR Harry Nutt, in der FAZ Stefan Trinks.

Besprochen werden die Hommage auf den vor 175 geborenen Max Liebermann in der Alten Nationalgalerie Berlin (Berliner Zeitung, Tsp) und die Ausstellung "Zoopolis" über Tiere in der Stadt im Kunstraum Innsbruck (Standard).
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Design

Keine Hitzewelle ohne obligatorischen Kommentar zur Herrenmode: Auch bei Temperaturen, in denen in anderen Ländern aus gutem Grund Siesta gemacht wird, hält Andreas Öhler fürs Büro am Dreiteiler fest, schreibt er im ZeitMagazin. "Wenn ich einer Katastrophe schon nicht ausweichen kann, will ich ihr wenigstens mit Grandezza gegenübertreten, um mir ein Restmaß an Würde zu bewahren. ... Gerade in schlechten Zeiten sollte man nämlich versuchen, eine halbwegs gute Figur zu machen. Mein Kleidungsstil hat mir jedenfalls in Krisen geholfen, Contenance zu wahren, als wäre das Rückgrat an der Krawatte aufgehängt." Es ist doch "ein grotesker Widerspruch: Während einerseits in den Unternehmen immer mehr auf sozialen Abstand - vor allem zwischen den Geschlechtern und in den Hierarchien - geachtet wird, soll nun gleichzeitig der ungezwungene Freizeitlook Einzug halten."

Außerdem: In seiner Modekolumne im ZeitMagazin erzählt Tillmann Prüfer die Geschichte der Cargohose, die gerade ein sanftes Comeback erlebt.
Archiv: Design
Stichwörter: Herrenmode, Hitzewellen, Krawatte

Musik

Splatter, Dosenbier, krasses Geschrubbe, keifendes Gegrunze: Die drastische Gitarrenmusik-Spielform "Death Metal" (wie sich diese Spielform von "Black Metal" unterscheidet, erfährt man übrigens hier) gilt im wesentlichen als männliche Spielwiese. Dass es auch anders geht, macht die die Band Castrator vor, deren Schlagzeugerin Carola Perez der Jungle World ein Interview gegeben hat. In ihren Songs prangern sie unter anderem Ehrenmorde an. "'Honor Killing' war eine Zusammenarbeit von uns allen. 'No Victim' liegt mir sehr am Herzen, weil man als Frau immer in Angst lebt, wie es auch im ersten Satz des Songs heißt. Wenn du nicht richtig trainiert bist und nicht die Wut in dir hast, um zurückzuschlagen, wirst du leicht zum Opfer. Es ist also wichtig, die Mentalität zu haben, auf keinen Fall zum Opfer zu fallen, damit man sich wehren kann. Viele Frauen werden missbraucht, und den Tätern spielt auch noch in die Karten, dass wir Frauen gesellschaftlich dazu erzogen werden, unterwürfig zu sein. ... Wir müssen zornig werden, um nicht in diese Unterwürfigkeit zu verfallen." Wir hören rein, aber stellen Sie die Lautstärke vorher vielleicht etwas runter:



Außerdem: In der taz porträtiert Jens Uthoff die ukrainische Sängerin Ganna Gryniva, die mit einer Berliner Konzertreihe Spenden für ihre Heimat sammelt. Besprochen werden das gemeinsame Album von Jeff Beck und Johnny Depp (SZ), neue Popveröffentlichungen, darunter Neil Youngs "Toast" (Standard, mehr dazu bereits hier) und Burna Boys neues Album "Love, Damini" (taz).
Archiv: Musik