Efeu - Die Kulturrundschau

Lichtes Gambenquartett der Zuversicht

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28.07.2022. Die Zeit bestaunt den evident toten Jesus des frisch restaurierten Isenheimer Altars. Die SZ bewundert den Respekt vor den Älteren in der senegalesischen Street Art. Die Eröffnung der Salzburg Festspiele mit Béla Bartóks Einakter "Herzog Blaubarts Burg" und Carl Orffs Opernoratorium "De temporum fine comoedia" lässt den Tagesspiegel schaudern: Esoterischer Kitsch lautet das Urteil über Romeo Castelluccis Inszenierung. Die SZ ist ergriffen. Die FAZ erlebt beim Konzert von Iron Maiden ein klanginduziertes Woanderssein.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.07.2022 finden Sie hier

Kunst

Wasserpistolen, gesammelt von der Kuratorin Bice Curiger, Museum für Gestaltung Zürich, Designsammlung, 2022, Foto: Museum für Gestaltung Zürich, ZHdK, Umberto Romito und Ivan Šuta


Dass Sammeln eine Leidenschaft ist, weiß man ja. Für manche wird es geradezu zum Lebensinhalt, lernt NZZ-Kritiker Philipp Meier in der Ausstellung "Collectomania - Universen des Sammelns", die das Zürcher Museum für Gestaltung kuratiert hat. Und sammeln kann man wirklich alles: Verlorene Autoschlüssel, Fliegerbomben, Tretautos, Orangenpapier. Oder Wasserpistolen, die Bice Curiger in den italienischen "tabacchi" gefunden hat: "Angefangen hatte es mit einem Modell, das eine Meerjungfrau darstellte, billiger Plastik-Trash 'made in Hong Kong'. Bice Curiger faszinierte die Kreativität, Ironie und Phantasie 'am Rand des guten Geschmacks', wie sie sagt, die hinter solchen Produkten steckt. Sie glaubte da eine Art blinden Fleck in Kultur und Ästhetik entdeckt zu haben, und mehr noch als das Sammeln als Besitz selber war der Beweggrund für ihre Sammlung das Anliegen, auch einmal so etwas zu würdigen. Das tut man jetzt."

Jonathan Fischer (SZ) bewundert Street Art in Dakar, die er als Feier des Kollektivs und des Respekts vor den Älteren erfährt: "Angefangen hatte alles Ende der Achtzigerjahre", lässt er sich von dem Sprayer Docta erzählen, als Hip-Hop und Graffiti die amerikanische Kultur eroberten. "Aber die Kollegen aus dem Westen einfach so kopieren? Oder gar den eigenen Namen preisen? 'Dieses Ego-Ding funktionierte nicht für uns. Stattdessen passten wir uns an die senegalesische Realität an.' Sein erstes Graffiti hat Docta 1987 an das Haus seiner Großmutter in Guediaweye gemalt. Ein Bezirkskomitee spendierte den Jugendlichen die Farben, unter der Voraussetzung, 'dass unsere Fresken ehrenwerte Personen, also einen verdienten Sportler oder einen respektierten Älteren abbilden'. Docta wählte seinen Großvater. Er war einer der Intellektuellen des Viertels, verteilte Bücher an die Kinder und forderte sie auf, das Gelesene zu diskutieren. Der Sprüher säuberte erst einmal die Wand, entfernte Unrat. Das habe etwas mit Respekt zu tun. Respekt vor den Älteren. Respekt vor Tradition und Religion. In der Folge adoptierten die Bewohner des Viertels das Werk."

Matthias Grünewald, Gekreuzigter Jesus, Detail. Isenheimer Altar. Foto: The Yorck Project / Wikipedia


In der Zeit feiert Jörg Scheller die Restaurierung des Isenheimer Altars in Colmar. Wunderbar kann man jetzt wieder erkennen, wie Matthias Grünewald "die Heilsgeschichte vom Kopf auf die Füße" stellte, freut er sich: "Der Körper von Grünewalds Gekreuzigtem ist nicht mehr evident fit und lebendig, sondern evident tot, übersät mit Wunden, ja bereits im Verwesungszustand begriffen. Dieses Bild kann man geradezu riechen. In anderen Szenen hingegen, etwa dem Gesang der Engel, gibt sich Grünewald als Popkünstler avant la lettre zu erkennen und exzelliert lustvoll in so knalligen wie im Detail nuancierten Farbeffekten. Jesu Menschwerdung vollzieht sich als sinnliches, herrlich verspultes Spektakel - ein grummeliger Luzifer mit ungesunder Gesichtsfarbe spielt im Pfauenkostüm die Gambe, Engel in kiwi-, melonen- und cremeschnittenfarbenen Gewändern flirren um das Wundergeschehen herum, Maria und Jesus sind von Aureolen umwölbt, die jeden Vaporwave-Internet-Artist vor Neid erblassen lassen müssten. Grünewald war mit hoher Wahrscheinlichkeit von frühen lutherischen Predigten beeinflusst und entsprechend bemüht, die Heilsgeschichte auch ästhetisch zu reformieren, das heißt: unmittelbar erlebbar zu machen."

Weitere Artikel: Auf der documenta sind weitere antisemitische Werke aufgetaucht, meldet der Tagesspiegel. Bei der Art Biesenthal wurde das Kunstwerk zweier Bildhauer, einer Israeli, zerstört, meldet Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung.

Besprochen werden die Ausstellung "Spheres of Interest" in der Ifa-Galerie Berlin (Tsp) und eine Ausstellung der Videokünstlerin Eli Cortiñas und des Malers João Gabriel im Kunstverein Braunschweig (taz).
Archiv: Kunst

Literatur

Im Perlentaucher schreibt Angela Schader ein Vorwort zu der Anthologie "Timescapes - aller-retour", deren Titel Programm ist, "und obendrein eines, das in wenigen Worten viel mitteilt. Dass es um Zeiten und Orte geht, ums Hin und Her zwischen ihnen und damit auch um Verbindungen und Kontraste, lässt sich der Überschrift entnehmen; dass wir zudem zwischen mehreren Sprachen unterwegs sind, deutet sich ebenfalls an. Der Untertitel dagegen garantiert den Zugang fürs deutschsprachige Publikum und erschließt den Inhalt des Buches: 'Erzählungen aus afrikanischen Kontexten' werden hier geboten, und erneut verweist die Wortwahl auf Räume, die über das rein Geografische hinausgehen. Aktuelle Fragen wie Migration, Gender und Digitalisierung werden hier verhandelt, aber auch das Fortleben verzerrter Wertvorstellungen oder die Suche nach einer Sprache, die das Erinnern erlittener Gewalt möglich macht. Was bei einem Buch, das sich so explizit in den Dienst von Diversität und Offenheit stellt, allenfalls verwundern mag, ist die frappante Geschlechterungleichheit: Unter den zwei Dutzend an der Publikation Beteiligten ist mit dem Schriftsteller Sinzo Aanza ein einziger Mann vertreten."

Weitere Artikel: In der SZ gratuliert Harald Eggebrecht dem Schriftsteller Sten Nadolny zum 80. Geburtstag. In der SZ verrät die Schriftstellerin Lena Gorelik, was sie gerade liest, nämlich Maria Stepanovas "Nach dem Gedächtnis". Tilman Spreckelsen schreibt in der FAZ zum Tod des Kinderbuchautors Uri Orlev.

Besprochen werden unter anderem Christian Barons "Schön ist die Nacht" (Welt), Norbert Hummelts "1922. Wunderjahr der Worte" (NZZ), Amir Hassan Cheheltans "Eine Liebe in Kairo" (SZ), Sergio Ramírez' Krimi "Tongolele konnte nicht tanzen" (TA) und eine Neuausgabe von Ilse Molzahns "Der schwarze Schwan" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Szene aus Bartóks "Herzogs Blaubarts Burg" in Salzburg. Foto: Monika Rittershaus


In Salzburg wurden die Sommerfestspiele mit Béla Bartóks Einakter "Herzog Blaubarts Burg" und Carl Orffs Opernoratorium "De temporum fine comoedia" eröffnet. Inszeniert hat Romeo Castellucci, am Pult stand Teodor Currentzis. Im Tagesspiegel findet Regine Müller den Abend "problematisch". Das lag nicht am russischen Dirigenten, der in Salzburg Antrittsapplaus erhielt, aber "gewohnt energetisch, zupackend und effektsicher dirigiert", sondern an Regisseur Romeo Castellucci, der Bartóks Einakter "ein wenig schlüssiges Erlösungs-Ende" aufzwinge. "Orffs karge Partitur hämmert schroff und öde repetierend Religiöses, Orakelsprüche und Büßerformeln, Cindy Van Acker choreografiert die Massen zu Überwältigungs-Tableaus. Es wird gebetet, ein Totempfahl wird errichtet, eine Frau wird gesteinigt. Und am Ende bittet Lucifer Gott um Verzeihung, gemeinsam mit Judith und Blaubart. Diese platte Wendung bestätigt endgültig den schon dräuenden Verdacht, dass Castellucci hier esoterischen Kitsch produziert und dem problematischen 'Ich' Bartoks demütig sich unterwerfende Orff'sche Massen als (Er)-Lösung anbietet. Sehr fragwürdig."

SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck ist dagegen durchaus beeindruckt: "Der Schrei nach Erlösung und Vergebung ist in beiden Stücken unüberhörbar. Zuletzt gewährt sie Carl Orff sich und allen Menschen, egal wie schuldbeladen sie sein mögen. Nach all dem Skandieren und Rappen der Orff-Chöre, nach den erotisch aufgeputschten Orchesterentladungen bei Bartók, klingt aus dem Off ein verhalten lichtes Gambenquartett der Zuversicht in den Raum. Die Instrumente spielen so leise, dass die Hörer zweifeln müssen an der Verbindlichkeit der hier formulierten Schuldvergebung, was durchaus in das Konzept von Castellucci & Currentzis passt, sie ziehen Sicherheiten und Gewohnheiten liebend gern in Zweifel."

In der taz hofft Uwe Mattheis, dass die Debatte um Currentzis, der von Putins "Privatbank" gefördert wird, und Castellucci, den die V-A-C-Stiftung des russischen Oligarchen Leonid Mikhelson sponsore, "das Ende einer neoliberalen Ära in der Kulturpolitik" einleitet. In der FR schreibt Judith von Sternburg zu der Aufführung, in der FAZ Jürgen Kesting.

Weiteres: In der nachtkritik schreibt Joseph Hanimann zum Ende der Intendanz Oliver Pys bei den Theaterfestspielen von Avignon. Besprochen werden außerdem Wagners "Tristan und Isolde" in Bayreuth" (nmz, Zeit), Giuseppe Moscas "Die Poststation" an der Neuburger Kammeroper (nmz), ein Gastspiel der Neuköllner Oper Berlin mit mit "Mexico Aura. The Myth of Possession" im Humboldt Forum (taz), Kasia Wolinskas Choreografie "Kiss" im Berliner Radialsystem (taz) und "Nach Tristan", eine Collage aus Wagners "Tristan und Isolde", Müllers "Quartett" und August Strindbergs "Totentanz", mit Sylvester Groth und der "ultimativen Stuntwoman des deutschen Theaters!" Dagmar Manzel in Bayreuth (FAZ).
Archiv: Bühne

Film

Garstig, klein und schön: Grauenhaftes in "Hatching"

Hanna Bergholms finnischer Horrorfilm "Hatching" unterwandert seine hygge-gemütliche Fassade mit einem Ei, aus dem Schauerliches schlüpft, auf angenehm bösartige Weise, freut sich Jochen Werner im Perlentaucher: Es ist "ein garstiger kleiner Horrorfilm, der nicht subtil zu Werke geht, aber auch nicht der Subtilität bedarf", und nicht zuletzt "ein in der Transparenz seines Subtextes zum elevated horror anschlussfähiger und doch in seiner klassizistischen Substanz und Schlichtheit bezaubernder Mitternachtsfilm, der es in früheren Dekaden - als das Publikum für solche liebevollen Schauerstücke noch existierte - zum Geheimtipp hätte bringen können." In diesem Film sind "mütterliche Übergriffigkeit, Kontrolle und Grausamkeit die eigentlichen Monster", schreibt Esther Buss im Standard. Doch "zu der düsteren Atmosphäre und Grindigkeit vergleichbarer Filme geht die Regisseurin jedoch demonstrativ auf Abstand. Die lichten, pastellfarbenen Bilder erinnern eher an die adoleszenten Erfahrungswelten Sofia Coppolas."

Besprochen werden C.B. Yis "Moneyboys" (Perlentaucher, SZ, mehr dazu bereits hier), Barry Levinsons "The Survivor" über den Auschwitz-Überlebenden Harry Haft (FR), die DVD von Madelaine Sims-Fewers und Dusty Mancellis "Violation" ("schlägt, reißt, sägt quer durch alle etablierten Register", staunt Ekkehard Knörer in der taz), Vincent Maël Cardonas "Die Magnetischen" (Tsp, FR), die Satire "Der perfekte Chef" mit Javier Bardem (Freitag) und der Superhelden-Animationsfilm "Super-Pets" (Standard). Außerdem verrät uns die SZ, welche Filme sich lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Architektur

In der taz unterhält sich Ralf Leonhard anlässlich der Internationalen Bauausstellung in Wien mit der österreichischen Architektin und Stadtplanerin Bettina Götz über soziales und experimentelles Wohnen.
Archiv: Architektur

Musik

Dietmar Dath von der FAZ war beim Frankfurter Konzert von Iron Maiden und erlebte dabei ein klanginduziertes Woanders-, vielleicht sogar Wannanders-Sein: Einmal mehr eindrücklich zeigte sich, "dass bei Iron Maiden drei Gitarristen arbeiten; einer mehr als von der Minimalarbeitsteilung 'einer schrubbt und einer dudelt' verlangt wäre. Dave Murray, Adrian Smith und Janick Gers wissen nämlich, dass zwar zwei Gitarren für Raumwirkung ('Stereo') reichen, eine dritte aber dem Sound nicht nur den Raum, sondern gleich auch noch die Zeit erobert: Je länger die Soli in dieser Konstellation werden, desto kurzweiliger sind sie andererseits, weil sie (statt nur zu monologisieren) sich stets nach Dia- und Trialogen zu sehnen scheinen. In diesem Klangbad vergisst man schnell fast alles, was vorher da war. ... Andere gehen dafür nach Bayreuth." Auch das Frankfurter Bühnenbild lässt eher an den grünen Hügel als an den Taunus denken:



Besprochen werden Auftritte von Manu Katché (FR) und Afghan Wigs (FAZ), Julia Reidys Album "World in World" (taz) und neue Bücher über Wolfgang Rihm (Zeit).
Archiv: Musik