Efeu - Die Kulturrundschau

Der Ursprung der Welt ist ein graues Nichts

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23.08.2022. Der Guardian feiert die zarte Schönheit von Bill Lynchs Malerei auf geborgenem Holz. Absolut geglückt findet die FAZ die Veranstaltung, auf der sich der PEN Berlin mit Salman Rushdie solidarisierte. Weniger begeistert nehmen die Feuilletons Uwe Tellkamps Sarazzinade auf. Die NZZ entschwebt auf dem Lucerne Festival in theogonische Sphären. Der Standard huldigt mit Thomas Arzt in Tirol der Maultasch. Und: Wird jetzt Winnetou gecancelt?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.08.2022 finden Sie hier

Literatur

Im Berliner Ensemble erklärte sich eine ganze Reihe von Schriftstellern und Journalisten unter der Ägide des PEN Berlin mit Salman Rushdie solidarisch und lasen Texte des Schriftstellers, berichtet Andreas Platthaus in der FAZ. Diese erste öffentliche Veranstaltung des neuen PEN-Vereins "ist geglückt. Wegen der gebotenen Sachlichkeit." Es gab "keine Seitenhiebe gegen die Konkurrenz. Auch kein Selbstlob für die eigene Leistung, stattdessen Dank ('mit einem Seufzer', so Menasse) an die Personenschützer des Landeskriminalamts und die Berliner Polizei. ... Mit der in Istanbul geborenen deutschen Anwältin Seyran Ateş trat eine Aktivistin auf, die sich als gläubige Muslimin vorstellte: 'Ich bin überzeugt, dass weder Gott noch unser Prophet durch die 'Satanischen Verse' beleidigt sind.'" Jakob Hayner resümiert in der Welt: "Dass Schriftsteller in Verbundenheit mit Salman Rushdie vor Publikum aus seinen Texten lesen, ist mehr als eine Solidaritätsbekundung. Es geht um die gemeinsame Grundlage des Schreibens selbst: die Freiheit des Wortes - gegenüber der Gewalt." Es war ein Abend, der zeigte, "dass so ein Anschlag alle angeht, erst recht uns Schreibende", lautet Gerrit Bartels' Fazit im Tagesspiegel.

Uwe Tellkamp hat in Berlin eine Laudatio auf Thilo Sarrazin gehalten, berichtet Gerrit Bartels im Tagesspiegel. Anlass dazu bot die Präsentation von Sarrazins neuem Buch "Die Vernunft und ihre Feinde". Dabei redete der Schriftsteller sich wohl witzelnd in Rage und zieh die Republik des Habeckens und Baerbockens, hält Mara Delius in der Welt fest: "Uwe Tellkamp tellkampte." So recht fanden der Lobende und der Gelobte im Tonfall allerdings nicht zusammen, berichtet Andreas Kilb in der FAZ: "Tellkamp wütet, Sarrazin doziert." Von der Veranstaltung berichten außerdem Alexander Kissler (NZZ), Sebastian Engelbrecht (Dlf Kultur) und Cornelius Pollmer in der SZ.

Außerdem: Der Schriftsteller Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. In der Berliner Zeitung porträtiert Cornelia Geißler den Schriftsteller Behzad Karim Khani, dessen Neukölln-Roman "Hund Wolf Schakal" Benjamin Stolz im Spiegel rezensiert. In der SZ plaudert der Comiczeichner Flix über sein Marsupilami-Abenteuer "Das Humboldt-Tier". Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller verrät der SZ ihre schlimmste Lesung.

Besprochen werden unter anderem Norbert Gstreins "Vier Tage, drei Nächte" (SZ, Dlf Kultur), Friedrich von Borries' und Jens-Uwe Fischers Biografie über den Bauhäusler Franz Ehrlich (Freitag), Lorenz Langeneggers "Was man jetzt noch tun kann" (Standard) und Marcel Johandeaus "Die geheime Reise" (FAZ).
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Kunst

Schnee, der auf Bretter fällt: Bill Lynch, Ohne Titel. Bild: Brighton CCA

Überwältigt von bescheidener Schönheit blickt Laura Cumming im Observer auf die Bilder des amerikanischen Malers Bill Lynch, der 2013 mit 53 jahren starb und zeit seines Lebens keine einzige Ausstellung bekam. Jetzt zeigt das Brighton Centre for Contemporary Art seine Werke. Geborgenes Holz ist das entscheidende Medium seiner Kunst, erklärt Cumming: "Altes Sperrholz, gebrauchte Bretter, die Platte eines vom Holzwurm befallenen Tisches: Er hat einen Weg gefunden, auf diesem harten und widerstandsfähigen Untergrund zu malen, als wäre er so leicht wie Pergament. Reine Pinselführung kann nur als kalligraphisch bezeichnet werden. Eulen, Falken, verschlungene Blüten, die blassen Scheiben des Silberblatt, die wie Monde von skelettartigen schwarzen Ästen hängen: Seine Kunst hat die ganze Zartheit der Natur, kombiniert mit einer wirbelnden, stotternden, manchmal eigenwilligen Schroffheit."

Weiteres: In der taz will Jakob Baier weitere antisemitische Werke auf der Documenta entdeckt haben: In der Reihe "Tokyo Reels" werden historische pro-palästinensische Propagandafilme gezeigt, die laut Baier nur unkritisch kommentiert werden, obwohl sie vor Israelhass und Lügen nur so strotzten.

Besprochen werden eine Ausstellung des Fotografenkollektivs "Document Scotland" im Museum Europäischer Kulturen in Berlin (Tsp), der Bildhauer Gerold Miller im Mies van der Rohe Haus (Tsp) und die Schau "Ancient Sculpture in Color" im Metropolitan Museum in New York (die FAZ-Kritikerin Frauke Steffens zufolge den Amerikaner erstmals die Antike in Farbe, statt in reinweißem Marmor präsentiert).
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Film

Wann ist endlich Aschermittwoch? Still aus "Der junge Häuptling Winnetou"

Nach energischen Protesten hat der Ravensburg Verlag die Kinderbücher vom Markt genommen, die den Kinostart des Kinderfilms "Der junge Häuptling Winnetou" (unsere auch nicht gerade begeisterte Kritik) eigentlich profitabel flankieren sollten. Wird nun Karl May - und damit "urdeutsches Kulturgut" - der politischen Korrektheit geopfert, fragt sich Claudius Seidl in der FAZ. Er kann berichten, dass der Film "sich seiner Harmlosigkeit bewusst, seiner Sympathie für die Indianer sicher ist; und dass er eine ganz schöne Geschichte über die Freundschaft zweier Jungs erzählt. Was der Film halt leider nicht verstanden hat, ist, dass es auf Absichten allein nicht ankommt: Die Menschen von Winnetous Stamm sind so gekleidet, wie man sich früher im Fasching als Indianer verkleidet hat. Sie sprechen das metaphernselige Indianerdeutsch, das doch Bully Herbig längst zerstört hat. Und sie benehmen sich genau so, wie man das als Deutscher von edlen Wilden erwartet. Das ist vielleicht kein böser Rassismus. Es ist aber dumm, provinziell, ignorant und arrogant gegenüber beiden: der Geschichte und Realität der indigenen Amerikaner. Und gegenüber der Filmgeschichte, die schon mal weiter war."

Außerdem: Josef Lederle schreibt im Filmdienst einen Nachruf auf den Filmhistoriker Ralf Schenk (weitere Nachrufe bereits hier). Besprochen wird das "Game of Thrones"-Prequel "House of the Dragon" (NZZ).
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Bühne

Szene aus "Monster und Margarete" in Telfs. Foto: Victor Malyshev / Tiroler Volksschauspiel


Nicht besonders tief, aber herrlich grotesk inszeniert findet Ivona Jelcic im Standard Thomas Arzts Historiendramal "Monster und Margarete" bei den Volksschauspielen Telfs. Der Stoff ist echt tirolerisch: "Wir befinden uns im Spätmittelalter: Margarete von Tirol-Görz ist Landesfürstin, legt sich mit den europäischen Herrschern ihrer Zeit an, setzt ihren Ehemann vor die Tür und heiratet einen anderen (14. Jahrhundert!); sie wird dafür vom Papst mit einem Bann belegt und geht als 'Margarete Maultasch' in die Geschichte ein. Der Beiname hat nebst übelster Propaganda dazu beigetragen, das Bild vom liederlichen Weibsbild, das die Pest über das Land brachte, bis in die Gegenwart zu transportieren."

Besprochen werden Barbara Freys Inszenierung von Schnitzlers "Das weite Land" bei der Ruhrtriennale in Bochum (taz), Philipp Preuss' Inszenierung von Ibsens "Frau vom Meer" in Mülheim (SZ) und Carlo Pallavicinos komödiantische Barockoper "L'amazzone corsara" bei den Innsbrucker Festwochen (FAZ).
Archiv: Bühne

Architektur

Oslo neues Nationalmuseum

Nach Oper und Bibliothek hat sich Oslo nun auch ein neues Nationalmuseum gegönnt. Doch leider findet sein Architekt Klaus Schuwerk dessen Endgestaltung seinem Genie nicht gewachsen, wie Marcus Woeller in der Welt zustimmend zur Eröffnungsausstellung schreibt: Schuwerk moniert "mediokre Möbel", "vulgäre Museumslogos" und den fehlenden Sinn für eleganten Minimalismus: "Vollgestellt mit Ramsch, Einbauten, Stellwänden und allerlei Installationsquatsch haben die Ausstellungsmacher die Architektur offensichtlich völlig missverstanden. Stattdessen opfern sie die Qualität des Raums auf dem Altar einer Beliebigkeit, die nationale Diversität spiegeln soll, in erster Linie viel ist, aber nur selten Kunst. In der Dauerausstellung ist das zum Glück ganz anders. Hier jagt man durch einen Parcours innovativ kuratierter und zeitgemäß präsentierter Säle, von der Antike bis in die Moderne."
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Musik

Kosmisch-psychedelisch, ja geradezu biblisch-theogonisch wird es NZZ-Kritiker Christian Wildhagen beim Lucerne Festival zumute: "Der Ursprung der Welt ist ein graues Nichts. Gleich in sechsfacher Kopie flimmert es über die bühnenbreite Leinwand im Luzerner Saal des KKL. Das Nichts wird zur wogenden Masse - vielleicht die berühmte Ursuppe, aus der alles Leben entstand. Plötzlich aber sind da geometrische Formen, sie überlagern und strukturieren das Gewoge, sie wuchern und vervielfältigen sich immer weiter, werden zu selbstähnlichen Gebilden, verschränken sich zu Ahnungen von Pflanzen, von Bäumen, von Wäldern. Und dann wird es licht, der erste Tag beginnt mit einem Blitz, und das Soloklavier setzt ein." Was gab's zu hören? Thomas Adès multimedial begleitete Komposition "In Seven Days" in der Uraufführung durch den Pianisten Kirill Gerstein und der Dirigentin Elena Schwarz.

In der NZZ fällt Sarah Pines aus allen Wolken, dass ein französischer Dokumentarfilm über Frankreichs einst sehr erfolgreiche und mal sehr feministische Rapperin Diam (bürgerlich Mélanie Georgiades), die allerdings 2009 zum Salafismus konvertiert ist, über eine parfümierte Selbstverwirklichungsfeier nicht hinauskommt: "Wo vor zehn Jahren Skepsis und Empörung herrschten - eine feministische Politikerin und Pariser Stadträtin etwa nannte Mélanie Georgiades' unterwürfiges Frauenbild eine 'Gefahr für die Mädchen aus den Banlieues' -, herrscht heute weitgehend positive Einigkeit."

Klaus Walter sondiert für die FR den musikalischen Kosmos, der sich vom bayerischen Weilheim aus rund um das Zentralgestirn The Notwist der beiden Acher-Brüder gebildet hat: Was ursprünglich mal eine Hardcore-Band war und dann zu everybody's darling im Indie-Pop wurde, ist längst eine musikalische Netzwerkmaschine. Insbesondere in den letzten Jahren "kumuliert die gediegene Notwist-Unscheinbarkeit und verkettet, vernetzt, verschwistert, verschwingt und vermixt sich mit allen möglichen und unmöglichen Spirits & Artists - und zwar weniger beliebig als das hier klingen mag -, bis das Ganze kippt zu etwas Größerem: Münchner Freiheiten goes Bajuwarisch-Japanische Freundschaft goes Spoken Word Poetry Jazz in Dub." Das aktuellste Pop-Erzeugnis Alien Parade Japan ist explizit nicht digital erschienen und auf LP bereits ausverkauft, aber kürzlich sind Aufnahmen eines kurzlebigen Nebenprojekts namens Fuchs erschienen:



Rolf Kühn ist tot. "Er war ein Glückskind vom charmanten Scheitel bis zur tänzerischen Sohle", würdigt Gregor Dotzauer im Tagesspiegel den als Sohn einer jüdischen Mutter 1929 in Leipzig geborenen Jazzklarinettisten. Unter den Nazis wurde er gegängelt. "Wie er die finstere Zeit hinter sich ließ und zu einem der international bekanntesten deutschen Jazzmusiker seiner Generation wurde, lässt sich so nicht mehr nachmachen und nötigt einem doch schon in der stilistischen Breite, die er entwickelte, Bewunderung ab: Von Swing über Easy Listening bis zu freien Formen blieb Kühn nichts fremd."

Er war "ein großer eigenständiger Stilist", schreibt Wolfgang Sandner in der FAZ. Ralf Dombrowski bewundert in der SZ "die erfahrene Wildheit im Umgang mit klanglichen Experimenten". Auf ZeitOnline führt Maxi Broecking durch Kühns Leben und Werk. Dlf Kultur hat ein großes Gespräch von 2018 wieder online gestellt. Wir fliegen derweil mit Kühns 75er-Album "Total Space" ins All.



Außerdem: In der FAZ wünscht sich Philipp Krohn mehr Liebe für die Scorpions auch hierzulande. Besprochen werden eine Barockmusik-CD von Beniamino Paganinos Ensemble Musica Gloria mit Kompositionen von Johann Friedrich Fasch (Welt), ein Tschaikowski-Abend des Pittsburgh Symphony Orchestra unter Manfred Honeck mit dem Cellisten Gautier Capuçon (Standard), der Abschluss des Jazzfestivals Saalfelden (Standard) und das neue Album von Hot Chip (ZeitOnline).

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