Efeu - Die Kulturrundschau

Langsam kommen Buntfarben hinzu

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02.11.2022. In der SZ blickt der ukrainische Filmregisseur Oleg Senzow auf die verdammten neunziger Jahre zurück. Der Standard bewundert in Salzburg die Extravaganz des Fotografen Samuel Fosso. Etwas nüchterner erkundet die taz das Zusammenspiel von Farben und Formen im Josef-Albers-Museum in Bottrop. Die NZZ erörtert Ökologie und Ökonomie des Holzbaus. Außerdem erlebt die taz beim "Handke-Project" in Prishtina eine aufgeheizte Stimmung wie im Fußballstadion. Der Klassikbetrieb bleibt konservativ und frauenfeindlich, schimpft die SZ mit Blick auf die derzeitige Postenvergabe.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.11.2022 finden Sie hier

Kunst

Samuel Fosso: The Liberated American Woman Of the 1970s. Aus der Serie Tati, 1997. Bild: Museum der Moderne

Ein fantastische Entdeckung macht Standard-Kritikerin Katharina Rustler im Salzburger Museum der Moderne: Die Fotografien des französisch-westafrikanischen Künstlers Samuel Fosso. Für seine Bilder posiert Fosso in verschiedenen Rollen, wie etwa in der Serie Tati von 1997: "Dabei stellte er keine realen Personen dar, sondern inszenierte oft in witzig-überzeichneter Manier diverse Archetypen afrikanischer und westlicher Gesellschaften: Der Geschäftsmann in Oversize-Anzug telefoniert mit seinem XXL-Handy, der Golfer stützt sich mit behandschuhten Händen auf seinen Schläger, und die bürgerliche Frau präsentiert Pelz und Schmuck. Mit dem bekanntesten Porträt aus der Serie, The Chief [Who Sold Africa to the Colonists], wirft er einen selbstkritischen Blick auf die Geschichte Afrikas: Fosso thront als Stammesführer in einem bunten Setting samt Goldketten und Leopardenfell und verkörpert die Verlockungen der Macht im Zeitalter des europäischen Kolonialismus."

Apropos Farben und Quadrat: Im Josef Albers Museum in Bottrop lernt Julia Hubernagel mit der "Huldigung an das Quadrat", dass geometrische Formen vor allem dazu dienen, Farben zu sehen: "Gewissenhaft untersucht Albers die Beziehungen zwischen den dicht nebeneinander verlaufenden Farben, beginnend mit Schwarz, Grau und Weiß, die im Wettstreit um Perspektiven von Helligkeit und Lichtverhältnis stehen. Langsam kommen Buntfarben hinzu; und spätestens hier grenzen sich Albers' Experimente deutlich von einem anderen bekannten Viereck der Kunstgeschichte ab, das einem im ersten Raum der Ausstellung unweigerlich in den Kopf kommt. Während Kasimir Malewitsch mit seinem Schwarzen Quadrat 1915 einen absoluten Schlusspunkt setzt, öffnen sich Albers' Quadrate hin zur kombinatorischen Unendlichkeit."

Besprochen wird die Schau "Der letzte Romantiker" des Malers Albert Venus im Residenzschloss Dresden (FAZ).
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Film

Die Kerle mit den Fäusten: "Rhino" über die Ukraine der Neunziger


In der SZ spricht der ukrainische Filmemacher Oleg Senzow über seinen Gangsterfilm "Rhino", der diese Woche startet. Der lange in Russland inhaftierte und derzeit im Krieg an der Front kämpfende Regisseur spricht über seine Erfahrungen: "Es ist ein Film über unsere Vergangenheit, die Neunzigerjahre in der Ukraine, das hat sich nicht verändert. Aber ich habe mich verändert, mein Blick. Ich habe im Gefängnis so viele Jahre mit echten Killern, echten Gangstern zusammengelebt, dass ich diese Menschen jetzt sehr gut verstehen kann. Der Film ist realistischer geworden. ... Es ist ein Grundgedanke des Films, dass die Nation dieser Zeit verdammt war. Weil starke Männer wie Rhino keine Wahl hatten, weil das eine Land, die Sowjetunion, zusammengebrochen war, und das andere Land, die Ukraine, noch im Aufbau. Das war keine Zeit für Vertrauen und Verständnis. Als die eine Macht in sich zusammenfiel, in dieser großen Leere kamen die Kerle mit den Waffen und Fäusten an die Macht."

Außerdem: In der Deutschen Kinemathek wurde vergangene Woche über die Darstellung von Gewalt an Frauen in Film und Fernsehen diskutiert, berichtet Susan Vahabzahdeh in der SZ: Den Anlass bot eine Studie zum Thema, die den Anstalten und Produzenten ein wenig schmeichelhaftes Zeugnis ausstellte: Zu oft sei die Gewalt selbstzweckhaft oder zu fetischisiert. In der FAS erinnert Claudius Seidl an Helmut Dietl, über den er gerade eine Biografie verfasst hat. Besprochen werden Hans-Christian Schmids "Wir sind dann wohl die Angehörigen" über die Reemtsma-Entführung (online nachgereicht von der FAS) und der Agatha-Christie-Spaß "See How They Run" (FAZ).
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Architektur

Holzhochhaus Pi in Zug. Bild: Duplex Architekten
In einem sehr instruktiven Text erläutet Hubertus Adam die Vor- und Nachteile des Holzbaus, der nun nicht mehr als unstädtisch gilt, sondern als Nonplusultra, wie  das Suurstoffi-Hochhaus in Rotkreuz oder das Holzhochhaus "Pi" in Zug zeigen: "Holz erlaubt eine weitgehende Vorfertigung, das verkürzt die Bauzeit erheblich und reduziert den Baulärm für die Anwohner auf ein Minimum. Schnellerer Bezug aber bedeutet für den Investor früheren Gewinn: Ökologie und Ökonomie gehen Hand in Hand. Die Mehrkosten, welche die Holzbauweise zur Folge hat, können nach Auskunft der Architekten durch die frühere Vermietung kompensiert werden. Mit 36 Metern Höhe nimmt sich das Suurstoffi-Hochhaus angesichts aktueller Projekte nachgerade bescheiden aus. 'Pi' heißt der 80 Meter hohe Wohnturm, der demnächst in Zug entstehen soll. Entworfen haben ihn Anne Kaestle und Dan Schürch, die in Zürich das Architekturbüro Duplex leiten. Sie haben sich einen Namen gemacht durch wegweisende Grundrisse und neue Wohntypologien, besonders im Rahmen der vielbeachteten Genossenschaftssiedlung 'Mehr als Wohnen' im Norden von Zürich."
Archiv: Architektur

Literatur

Serhij Zhadan ist "alles andere als ein 'Völkerhasser'", als den Franz Alt den Friedenspreisträger vor kurzem in der taz bezeichnet hat, schreibt Thomas Schmid in seinem Rundgang durch Zhadans Literatur für die Welt. "Das 'Luhansker Tagebuch' von 2014/15 und 'Himmel über Charkiw' sind sehr weit davon entfernt, Bücher des Hasses zu sein. Sie zeigen vielmehr einen mit Leib und Seele Engagierten, der inzwischen zwar eine  Waffe trägt, aber bewusst in der Rolle des zivilen Helfers bleibt, der die Not erträglicher machen will. ... Obwohl der Krieg alle Normalität brutal außer Kraft setzt und die Zeit des Schreibens beendet, bleibt Zhadan doch Poet, fast jede Seite zeugt davon."

Außerdem: Im SWR2-Essay befasst sich die Lyrikerin und Kritikerin Juliane Liebert mit dem weiblichen Begehren in der Lyrik - beim SWR selbst in vorauseilendem Gehorsam aus vorgeschobenen Jugendschutzgründen tagsüber nicht zugänglich, in der ARD-Audiothek aber problemlos abrufbar. Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw.

Besprochen werden unter anderem Shelly Kupferbergs Debütroman "Isidor" (online nachgereicht von der FAS), Sayaka Muratas "Zeremonie des Lebens" (ZeitOnline), Deesha Philyaws Erzählsammlung "Church Ladies" (Tsp), Brigitte Reimanns "Die Denunziantin" (FR), Gunilla Palmstierna-Weiss´ Autobiografie "Eine europäische Frau" (SZ) und Dmitry Glukhovskys "Geschichten aus der Heimat" (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

taz-Kritiker Tom Mustroph bedauert ein wenig, dass beim Kosovo Theatre Showcase in Prishtina das "Handke-Projekt" des kosovarischen Autor Jeton Neziraj alle anderen Produktionen in den Schatten stellte. Neziraj zeichnet Handke darin, zumindest Mustroph zufolge, als eine Mischung aus Peter Pan und Joseph Goebbels: "Beim Publikum wird ein Nerv getroffen. Besonders in der Schlusssequenz wird dies deutlich. Das aus Schaupieler*innen aus dem Kosovo, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Italien und Frankreich bestehende Ensemble skandiert 'Fuck Handke, Fuck Milošević, Fuck Swedish Academy'. Und der halbe Saal stimmt enthusiastisch ein. Es ist eine Stimmung wie im Fußballstadion. So befremdlich dieser Griff in den Sprachbaukasten von Hooligans einerseits wirkte, so sehr verdeutlichte die Reaktion des Publikums andererseits, wie sehr sich die kosovarische Gesellschaft durch Handke verletzt fühlt."

Besprochen wird Jacques Offenbachs Irrsinnsoper "Barkouf" in Zürich (SZ).
Archiv: Bühne

Musik

Einigermaßen entsetzt blickt Reinhard J. Brembeck ins aktuelle Dirigentenkarussell der Opernhäuser, wo Stellen gerade entweder neu besetzt oder über deren baldige Ablöse zumindest diskutiert wird. Auffällig häufig sind es vergleichsweise junge Dirigenten, die in den Genuss einer attraktiven Position kommen. "Es vollzieht sich ein Generationswechsel, von dem dezidiert nicht Dirigentinnen profitieren, obwohl es mit Joana Mallwitz, Mirga Gražinytė-Tyla und Oksana Lyniv Musikerinnen gibt, die auf dem Niveau ihrer Konkurrenten agieren. Aber der Klassikbetrieb bleibt konservativ und frauenfeindlich, manche Frauen scheuen den Schritt ins Rampenlicht. Das Weiter-so-wie-bisher in der Oper zeigt sich auch in den verkrusteten Spielplänen, den hohen Kartenpreisen, dem männlich dominierten Regiestil, der hierarchischen Führungsstruktur und dem Elitarismus. Gut möglich, dass das der Szene bald schon große bis unlösbare Probleme bereiten wird."

Weitere Artikel: Eine "haarsträubende Hilflosigkeit" beobachtet FAZ-Kritiker Jan Brachmann bei Claudia Roth, die bei einem Festakt zu Ehren von Felix Mendelssohn Bartholdy in Leipzig Brachmann zufolge große Ahnungslosigkeit offenbarte. Jan Wiele ärgert sich in seinem FAZ-Kommentar, dass Taylor Swift in den "Billboard 100"-Charts derzeit - was noch niemandem zuvor gelungen ist - die ersten zehn Plätze belegt. Wer Swift bislang nicht verstand, wird dies vielleicht nach dieser Zehn-Punkte-Handreichung von Cora Wucherer und Laura Sophia Jung im ZeitMagazin tun. Im Tagesspiegel spricht die Jazz-Perkussionistin Camille Émaille über ihre Arbeit. Dennis Pohl schreibt im Tagesspiegel zum Tod des erschossenen Rappers Takeoff.

Besprochen werden Bob Dylans Buch "Die Philosophie des modernen Songs" (Dlf Kultur, BLZ, SZ), ein Auftritt von Kendrick Lamar in Frankfurt (FR, FAZ), eine Doku und ein Buch über die Geschichte von Schmuck im Hiphop (taz), ein Konzert des Nationalen Sinfonieorchesters der Ukraine in Berlin unter der Leitung von Volodymyr Sirenko (Tsp), ein Haydn- und Bartok-Konzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin unter Adam Fischer (Tsp), Wilhelmines Debütalbum "Wind" (taz), ein Konzert von Zaz (FR) und und ein Berliner Auftritt  von Danger Dan (Welt).
Archiv: Musik