Efeu - Die Kulturrundschau

Optimistische Gedankengebäude

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12.12.2022. Nach der Verleihung des Europäischen Filmpreises an Ruben Östlunds "Triangle of Sadness" fragen sich Welt und Tagesspiegel, wie das europäischen Autorenkino der amerikanischen Übermacht entgegentreten kann. Die FAZ feiert mit dem Leipziger Museum für bildende Kunst die Malerin Olga Costa und mit ihr die mexikanische Moderne. Im Standard ätzt Wolfgang Prix gegen das neue Biedermeier in der Architektur. Die taz geht ins Atelier Friedl Dicker und Franz Singer. Die FAZ lauscht verzückt der pedallos perlenden Geläufigkeit des Pianisten Walter Gieseking.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.12.2022 finden Sie hier

Film

Ich kotz' Dich zu mit meinem Gold: "Triangle of Sadness"

Am Samstag wurde in Island bei der Verleihung des Europäischen Filmpreises Ruben Östlunds Kapitalismus-Groteske "Triangle of Sadness" (unsere Kritik) als bester Film des Jahres ausgezeichnet und auch in fast allen anderen wichtigen Kategorien mit Preisen überhäuft. Eigentlich ist dieser Film "tatsächlich fast schon zu groß für das europäische Kino", findet Andreas Busche im Tagesspiegel, aber andererseits muss er auch dem Produzenten beipflichten, dass der Film eben auch "das perfekte Beispiel für klassisches Autorenkino, das auf der Vision seines Regisseurs beruht" sei. "Dies sei, so die implizite Botschaft, die einzige Chance des europäischen Kinos gegen die Übermacht der US-Filmindustrie und der Streaminganbieter."

Noch weiter geht Hanns-Georg Rodek in der Welt: Es bräuchte einen Marshall-Plan fürs europäische Autorenkino, das vom post-pandemisch niedrigen Publikumszuspruch und der Übermacht der Streamingdienste derzeit geradezu zerrieben werde. Doch "die Brüsseler Kommission gibt zwar Geld für alle möglichen Filmzwecke, ist aber viel zu sehr der marktwirtschaftlichen Ideologie verhaftet, sprich: Was ihr beim Schutz der europäischen Stahlindustrie oder Agrarwirtschaft vor unlauterem Wettbewerb durchaus einleuchtet, hat sich im Bereich der Kulturindustrien in ihrem Denken und Handeln noch nicht durchgesetzt. Es braucht also eine andere Institution, die bereit ist, eine Führungsrolle zu übernehmen, und die Europäische Filmakademie scheint sie übernehmen zu wollen."

Außerdem: Matthias Kalle wirft für die Zeit einen Blick zurück auf die Serie "The Office" im Lichte des heute diskutierten Begriffs "Quiet Quitting". Besprochen werden Noah Baumbachs Verfilmung von Don DeLillos Roman "Weißes Rauschen" mit Adam Driver und Greta Gerwig (Standard) und Antoine Fuquas Sklavereidrama "Emancipation" mit Will Smith (NZZ, mehr dazu hier).
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Kunst

Olga Costa, Autorretrato, 1947. El Museo del Palacio de Bellas Artes, Mexiko

In der FAZ lernt Andreas Platthaus das Werk der Künstlerin Olga Costa kennen, die als Kind mit ihren kommunistischen Eltern nach Mexiko emigriert war und deren Arbeiten das Leipziger Museum der bildenden Künste in ihrem mexikanischen Kontext von Diego Riviero, Frida Kahlo und Co zeigt: "Das passt, weil es im Mexiko der Nachkriegszeit eine ungemein lebendige Künstlerinnenszene gab, zu der auch Costa zählte: María Izquierdo ist in Leipzig stark vertreten, aber die wahren Überraschungen sind hierzulande noch Unbekannte wie Alice Rahon mit ihren sphärisch-phantastischen Luftstädten oder Rosa Rolanda, deren Selbstporträt von 1952 aus allen damaligen Rastern fällt - formal, denn sie malte, als hätte sie schon Keith Haring kennen können (der dann viel später wohl auch sie nicht gekannt hat), und thematisch, denn wie sie sich selbst auf dem Bild die Ohren zuhält, ist das die weibliche Antwort auf Munchs 'Schrei'. Costa dagegen porträtierte sich selbst 1947 in geradezu klassischer Pose: mit dem Pinsel in der Hand in einem Sessel, Kleid und Schmuck mexikanisch, aber Frisur und hellblaue Augen europäisch, den Blick wie die Fürstin eines Renaissancegemäldes auf den Betrachter gerichtet."

Besprochen werden die Schau "Female View" im Schloss Moyland (die FAZ-Kritiker Freddy Langer zufolge aber den Nachweis schuldig bleibt, dass weibliche Modefotografinnen ihre Auftragsarbeiten autonomer oder mit einem anderen Selbstverständnis gestalteten).
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Literatur

Tobias Rüther resümiert in der FAS das Literaturjahr 2022: Trend zur Erlebnisliteratur, eine Vielzahl literarischer Wiederentdeckungen und der Aufstieg des Klimaromans - das sind grob die Stichworte, unter denen er das sich neigende Jahr zu den Akten legt. Und: Er registriert eine neue Lust an phantastischen Elementen. Keine Zwergen- und Drachenliteratur meint er damit, sondern untergehobene "irritierende Signale des Ungewöhnlichen. Unterbrechungen im herkömmlichen Lauf der Dinge. ...Da sind die sprechenden Eulen und Schatten in Sven Pfizenmaiers Debüt 'Draußen feiern die Leute' (Kein und Aber), das eine niedersächsische Dorfgeschichte erzählt. Und die rosafarbenen Papageien in Helene Bukowskis Trauma-und-Gewalt-Roman 'Die Kriegerin' (Blumenbar), sie tauchen in Schwärmen immer wieder in einer deutschen Stadt auf wie Vorboten - aber wofür? Ähnlich ist es auch mit den Libellen, einem Ufo und dem Meteoriten aus dem schillernden Alpenroman von Joshua Groß, 'Prana Extrem' (Matthes & Seitz). Die 'Dschinns' gehören dazu, jene bösen Geister aus der islamischen Folklore, die in Fatma Aydemirs gleichnamigem Roman (Hanser) aus der deutsch-türkischen Geschichte der Familie Yilmaz erzählen. ... All diese übersinnlich angehauchten Bücher sind am Ende Geschichten übers Klarkommen". Und sie tragen bei zu einer "gesteigerten Wahrnehmung der Wirklichkeit".

Außerdem: Sergei Gerasimow schreibt hier und dort in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Ronald Düker erzählt in der Zeit von seinem Besuch bei Robert Menasse. Otto A. Böhner denkt in der FR über Thomas Mann und die Zeitlichkeit nach. Im Tagesspiegel freut sich Christian Schröder über die Neuauflage der Thriller von Valerie Wilson Wesley, die "zeigen, wie sehr Polizeigewalt und die Praxis des Racial Profiling schon seit Jahrzehnten zum Alltag von Afroamerikaner:innen gehören". Vor 75 Jahren hatte Dagobert Duck seinen ersten Auftritt in einem Comic von Carl Barks, freut sich Andreas Rehnolt im Tagesspiegel. Ulf Poschardt nutzt einen Berliner Diskussionsabend mit Uwe Tellkamp und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, um in der Welt mit erregter Formulierungslust über "linke Diskurskönige" und "deutsche Intellektuelle" zu schimpfen, die er für einen "Haufen angepasster, opportunistischer Waschlappen" hält, "die es sich in ihren öden Szenekiezen gerne bequem machen", und denen er vorwirft, selbstgerecht auf andere zu zeigen und am gesellschaftlichen Austausch nicht interessiert zu sein.

Besprochen werden unter anderem Mohamed Mbougar Sarrs mit dem Prix Goncourt ausgezeichneter Roman "Die geheimste Erinnerung der Menschen" (ZeitOnline, unsere Kritik), Philipp Theisohns Studie "Einführung in die außerirdische Literatur. Lesen und Schreiben im All" (NZZ), Sophie Passmanns neue RBB-Literatursendung "Studio Orange" ("Bücher und Gäste sind nicht mehr als ein Redevorwand für die Moderatorin", stöhnt Julia Encke in der FAS, "leider nicht geil, das Ganze", ächzt auch Gerrit Bartels im Tsp) und Rebecca Donners "Die Geschichte der Mildred Harnack und ihres leidenschaftlichen Widerstands gegen Hitler" (Standard).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Wolfgang Matz über Rainer Maria Rilkes "Rühmen! das ists ...":

"Rühmen! das ists. Ein zum Rühmen Bestellter
ging er hervor wie das Erz aus des Steins ..."
Archiv: Literatur

Bühne

Die Nachtkritik trauert um ihren Mitbegründer und Kollegen, den Theaterkritiker Nikolaus Merck, der gestern im Alter von nur 65 Jahren starb, wie sie im Nachruf schreibt: "Er konnte so schön schimpfen, übers Theater, über Künstler:innen, die alle priesen, er jedoch für 'völlig überschätzt' hielt. Er konnte die Schauspieler:innen, die er liebte, wundervoll plastisch beschreiben, und auch herrlich imitieren, mit diesem beweglichen Gesicht, voller Lebensfreude und Schalk, Angriffslust auch, mit diesem hinreißend großen, offenen Lächeln, diesen ausgreifenden Händen, diesem Lebendigen, Wachen."

Besprochen werden Martin Kusejs Wiener Inszenierung von Lucy Prebbles Dokudrama "Extrem teures Gift" über die Ermordung des einstigen FSB-Agenten Alexander Litwinenko durch russische Aiuftragsmörder (den Ronald Pohl im Standard leider "ästhetisch unterblichtet" fand, FAZ), Kleists "Familie Schroffenstein" am Staatsschauspiel Dresden (Nachtkritik), Peter Handkes "Zwiegespräch" am Wiener Akademietheater (den Welt-Kritiker Björn Hayner im "Theaterbudenzauber" von Regisseurin Rieke Süßkow untergehen sieht), das neue Stück "Mauern des Performance-Kollektivs She She Pop am Berliner HAU (taz), eine Bühnenfassung von Sofi Oksanens Roman "Hundepark" am Stadttheater Gießen (FR), Robert Ickes Schnitzler-Fortschreibung "Die Ärztin" im Schauspielhaus Graz (Nachtkritik) und die Uraufführung von Georg Blaschkes "Extinct Choreography" (Standard).
Archiv: Bühne

Architektur

Ausstellungsansicht "Atelier Bauhaus". Foto: timtom / Wien Museum

Das Wien Museum erinnert mit der Ausstellung "Atelier Bauhaus" an das Architektenduo Friedl Dicker und Franz Singer, das ebenso luxuriöse Bauten für die österreichische Bourgeoise baute wie für die Arbeiterzentren des Roten Wiens. 1919 waren Dicker und Singer mit Johannes Ittens Kunstschule 1919 ans Weimarer Bauhaus gekommeb, wie Ralf Leonhard in der taz erzählt: "Schnell übernahmen die Wiener das Kommando, wo Gropius Autorität vermissen ließ. Die Malerin, Innenarchitektin und Designerin Friedl Dicker (1898-1944) brachte mehr Farbe ins künstlerische Schaffen, in Mobiliar und Raumentwürfe. Der gelernte Tischler Franz Singer (1896-1954) stellte das Möbeldesign in den Vordergrund. Es entstanden multifunktionale Möbel, wie Schränke, in denen sich stapelbare Sessel verbergen, Betten, die in Podesten verschwinden, Sofas in kräftigen Farben."

Es kommt nicht darauf an, für wen man baut, sondern was man baut, glaubt Architekt Wolf Prix im Standard-Interview zu seinem achtzigsten Geburtstag und bezieht sich damit auf die Kritik, dass Büro Coop Himmelb(l)au viel in China gebaut hat, aber auch auf der völkerrechtswidrig von Russland annektierten Krim. Oder steckt dahinter die Resignation des einstigen Utopisten? "Ich sage gerne, dass wir verloren haben. Die Idee der optimistischen Gedankengebäude war nicht durchsetzbar. Der Unterschied ist nur, dass wir damals das zukünftige Leben völlig neu definiert haben! Heute ist die Lebensqualität einer Stadt nichts anderes als ein neues Biedermeier: Rückzug in die Ego-Privatheit, Rückzug aus dem öffentlichen Raum, Rückzug in die Gemütlichkeit, auf dem grünen Balkon im Liegestuhl sitzend, mit einer Flasche Bier in der Hand, die romantische Scheinrealität einer grünen Stadt. Wo sind die zukünftigen innovativen Lebenskonzepte?"

Weiteres: Im Tagesspiegel empfiehlt Philipp Hindahl die Ausstellung "Make Do With Now" im Schweizer Architekturmuseum, die eine Architektur aus Japan zeige, die der Moderne nichts mehr hinzufügen, sondern im jetzt auskommen will.
Archiv: Architektur

Musik

Adorno hielt den Pianisten Walter Gieseking für "unübertrefflich" - nun lässt eine 48 CDs umfassende Box zumindest das bei der EMI hinterlegte Aufnahmenarchiv gebündelt erkunden. Zwar doppeln sich dabei viele Stücke, FAZ-Kritiker Rainer Peters hat dennoch seine allerhellste Freude: "Durch alle akustische Patina funkelt einen das makellos und stürmisch dargebotene Liszt'sche Es-Dur-Konzert in einer Aufnahme von 1932 an; ihm folgten bis 1955 noch weitere siebzehn Aufnahmen mit Dirigenten wie Böhm, Kubelik und Rosbaud, der Partner in drei Mozart-Konzerten war: Gieseking spielt sie mit pedallos perlender Geläufigkeit. ... Welche der akustisch sanierten Beethoven-Sonaten soll man nur herausgreifen? Vielleicht die in Es-Dur op. 31 Nr. 3: Ihren geheimnisvoll instabilen Kopfsatz um den Sixte-ajoutée- und den 'Tristan'-Akkord erkundet Gieseking so behutsam, wie er sich 'con fuoco' in die finale Tarantella stürzt. Und vor den Skalenrasereien in den Ecksätzen der frühen A-Dur-Sonate dürften auch heutige Virtuosen den Hut ziehen. Giesekings Ravel ist auch nach siebzig Jahren noch magisch: Das spektrale Farbenspiel des 'Gaspard de la nuit' beschert sublime Ekstasen."

Weitere Artikel: Jürgen Schmieder staunt im Tagesanzeiger, dass auf den großen Streamingdiensten ein neues (oder zumindest bis dato nicht veröffentlichtes) und nun auch schon wieder offline genommenes Album des wegen Sexualdelikten einsitzenden Rappers R. Kelly veröffentlicht wurde - und das offenbar ohne dessen Wissen und Wollen. Klaus Walter erzählt in der FR die Geschichte vom Absturz des Kanye West - einst als Hoffnungsträger des Rap angetreten, fischt er nun in den trübsten Abgründen des Antisemitismus. Martina Wohlthat schreibt in der NZZ einen Nachruf auf den Komponisten Jost Meier. Jan Brachmann erinnert in der FAZ an den vor 200 Jahren geborenen Komponisten César Franck.

Besprochen werden eine Aufführung von Mahlers Dritter durch das Berliner Konzerthausorchester unter Iván Fischer (Tsp), ein Konzert der Wiener Symphoniker unter Thomas Guggeis (Presse), ein Auftritt von Rolando Villazon in Berlin (Tsp), ein Mozartabend mit dem Ensemble Les Musiciens du Louvre unter Marc Minkowski (Tsp), ein Adventskonzert des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin unter Vladimir Jurowski (SZ) und die Zusammenstellung "John Peel BBC Sessions 97-99" der Elektrotüftler To Rococo Rot (taz). Wir hören rein:

Archiv: Musik