Efeu - Die Kulturrundschau

Stille Erlösung von der Wirklichkeit

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17.12.2022. Die FAZ notiert betrübt die Gemeinsamkeiten Michel Houellebecqs mit dem rechtspopulistischen Philosophen Michel Onfray. Außerdem feiert sie die die Modernetauglichkeit katholischer Intelligenz in Charles Tournemires Oper "La Légende de Tristan", deren Uraufführung nach knapp hundert Jahren jetzt das Theater Ulm besorgt hat. Die NZZ berichtet vom Filmfestival in Havanna. Und: "Der Esel ist der ultimative Laienspieler", erklärt Filmregisseur Jerzy Skolimowksi in der taz. Der Standard hört Free Jazz zweier heiliger Narren aus dem Jahr 1977.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 17.12.2022 finden Sie hier

Bühne

Szene aus Charles Tournemires "La Légende de Tristan" am Theater Ulm. Foto: Jochen Klenk


Fast hundert Jahre hat es gedauert, bis die Oper "La Légende de Tristan" des französischen Orgelmusikers Charles Tournemire erstmals aufgeführt wurde - am Theater Ulm. Diese Aufführung "wird Folgen für unseren Blick auf die Musikgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts haben", prophezeit Jan Brachmann (FAZ), der in Ulm gelernt hat, dass "die Modernetauglichkeit katholischer Intelligenz in der Musik keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal Messiaens" war: Anders als Wagner, so Brachmann, bleibe Tournemire "näher an den mittelalterlichen Quellen ... Es geht Tournemire nicht um die überwältigende Erotisierung des gemeinsamen Todes. Für ihn ist die Liebe Tristans, des Ziehsohnes des Königs von Cornwall, zur irischen Prinzessin Iseut ein spirituelles Martyrium. Jede Erfüllung - gerade die sexuelle - erscheint als Trivialität. Der Tod ist kein ästhetisch verstärkter Orgasmus wie bei Wagner, sondern eine stille Erlösung von der Wirklichkeit." Auch Roland H. Dippel (nmz) war tief beeindruckt von dieser Uraufführung. Er fragt sich, wie es wäre, "La Légende de Tristan" statt mit der Wagneroper "in Beziehung zu anderen französischen Opern nach Sagenstoffen zu setzen - also in die genealogische Reihe von Reyers 'Sigurd' und Chaussons 'Le roi Arthus'. Dann offenbart sich eine Synergie von Mystik und Eros, zu der Tournemire mit seiner Musik mehr Fragen stellt als Antworten gibt. Durch diese Fragen nach den Rätseln der menschlichen Seele steht 'La Légende de Tristan' in weitaus größerer Geistesverwandtschaft zu Debussys 'Pelléas et Mélisande' als zu Wagner."

Weitere Artikel: Willi Winkler trifft sich für die SZ mit dem Schauspieler Mark Waschke in London. Und: heute bis 19.30 Uhr kann man bei der nachtkritik noch die 1983 entstandenen Brecht-Inszenierung "Die Rundköpfe und die Spitzköpfe" von Alexander Lang am Deutschen Theater Berlin im Stream sehen.

Besprochen werden außerdem "Is Anybody Home?" der Performancetruppe Gob Squad an der Volksbühne (nachtkritik, BlZ), Stephan Thoss' Choreografie "Nüsseknacker" in Mannheim (FR), "Der Schnee von gestern" von pulk fiktion in der Freien Werkstatt Theater Köln (nachtkritik) und Elfriede Jelineks "Sonne, los jetzt!" in der Inszenierung von Nikolaus Stemann am Zürcher Schauspielhaus (das Stück "ist irritierend resignativ, didaktisch auf eine verlorene Art, versponnen und selbst für Jelinek-Verhältnisse in einem Maße verrätselt, dass man nach den zweieinhalb Stunden der Aufführung verschiedene Bedürfnisse hat: sich in eine tiefe Höhle zurückzuziehen oder einen großen Schnaps zu trinken", notiert ein deprimierter Egbert Tholl in der SZ).
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Film

Schau mir in die Augen, Kleines: "EO" (Rapid Eye Movies)

Mit seinem Eselfilm "EO" hat Jerzy Skolimowksi auch eine Hommage an Robert Bressons Eselklassiker "Au hazard Balthasar" gedreht, erzählt der polnische Auteur im taz-Gespräch. Der Esel ist der ultimative Laienspieler, sagt er: "Ich wusste, egal was der Esel machen sollte, er würde es als Realität begreifen. ... Ich habe versucht, so viel Zeit wie möglich mit dem jeweiligen Esel allein zu verbringen. Nur wir zwei Kreaturen. Immer wenn meine Crew in der Mittagspause war oder umgebaut hat, habe ich mich mit dem Esel beschäftigt, im Stall oder wo er sonst stand. Ich habe ihn gestreichelt und umarmt, ihn angefasst und ihm in zärtlichem Ton Worte zugeflüstert, die er natürlich nicht verstand. Aber ihm war klar, dass meine Stimme freundlich ist, dass ich etwas Nettes ausdrücke, dass ich gern mit ihm zusammen bin. Ich habe den Esel wie ein Haustier behandelt - und konnte so mit ihm etwas schaffen, was ich für mich 'Koexistenz' nennen möchte, die Koexistenz zweier lebender Organismen, zweier Entitäten aus verschiedenen Welten."

Beim Filmfestival Havanna zeigt sich Geri Krebs von der NZZ die ganze Misere Kubas - und dies nicht etwa in den Filmen, sondern schon in der Moderation der Komikerin Andrea Doimeadiós, die "gleich zu Beginn für Lacher sorgt, als sie erklärt, sie sei in Kuba wohl die einzige Schauspielerin ihrer Generation, die bleiben wolle. ... Die Moderatorin wird noch angriffiger. Etwa, als sie mit betont leiserer Stimme die politische Prominenz im Saal erwähnt: den Kulturminister, die stellvertretende Kulturministerin und den Chef des Departements für Ideologie im Zentralkomitee der kommunistischen Partei Kubas. 'Ich habe mich schon oft gefragt, worüber man in diesem Departement wohl spricht', fügt sie an, und der Saal bebt vor Lachen. Als sie daraufhin die zwei Produzenten des argentinischen Eröffnungsfilms, 'Argentina, 1985', auf die Bühne bittet, erklärt sie, die beiden seien übrigens nicht vom Departement für Ideologie im Zentralkomitee der kommunistischen Partei Kubas. Eine derartige Verulkung der Herrschenden, und erst noch in ihrer Anwesenheit, hat es so an einer öffentlichen Veranstaltung in Kuba noch nie gegeben. 'Vielleicht wundern Sie sich, dass ich das hier so moderiere', sagt Andrea Doimeadiós. 'Aber ich finde, wir sollten unsere Angst verlieren.'"

Weitere Artikel: Die Allianz deutscher Filmproduzenten fordert aufgrund desaströser Zuschauerzahlen die Verlängerung des Ausfallschirms des Bundes und eine höhere Kostenbeteiligung von Sendern und Streamern, meldet Jörg Seewald in der FAZ. In der NZZ trauert Nadine A. Brügger um die goldene Zeit der Weihnachtsfilme. Besprochen werden James Camerons "Avatar Zwo" (Filmfilter), Alejandro González Iñárritus auf Netflix gezeigter Film "Bardo" (Standard), das Sky-Biopic "Der Kaiser" über Franz Beckenbauer (ZeitOnline), die Netflix-Dokuserie "Harry und Meghan" (taz) und Michael Kochs Schweizer Bergdrama "Drei Winter" (SZ).
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Literatur

Michel Houellebecq rückt immer weiter nach rechts, muss Niklas Bender in der FAZ feststellen. Anlass: Ein großes Gespräch zwischen dem Schriftsteller und dem rechten Philosophen Michel Onfray in dessen Magazin mit dem linken Titel Front Populaire. In vielen Dingen sind die beiden sich einig: "Tenor, Themen und Begriffsrepertoire sind typisch für ein bestimmtes rechtskonservatives französisches Milieu. Es wird in Begriffen der Geostrategie, der Völkerpsychologie, der Zivilisation und Religion diskutiert. Dabei kollidieren große Blöcke, die Bösen sind bekannt: Amerika, Europa (weil Einfallstor des US-Imperialismus), der Islam. Grund des Niedergangs: Geburtenrückgang in Europa, Bevölkerungsdruck in Afrika, Niedergang des Christentums (in diesem Punkt widerspricht der postchristliche Nostalgiker Houellebecq dem Atheisten Onfray). Die Innenseite des Heftumschlags listet die Fruchtbarkeit der Nationen auf." Houellebecqs "frühere Spitzen gegen politische Korrektheit wirkten oft erfrischend, die aktuellen sind abgestanden. Manchmal greift er tief in den reaktionären Fundus" und imaginiert sich im Zuge etwa "umgekehrte Bataclans", wenn einmal "ganze Territorien unter islamistischer Kontrolle sein werden".

Die FAZ dokumentiert eine Rede des Schriftstellers Peter Stamm zur Romantik des Bahnfahrens und plädiert dabei, von der Liebelei zur Dampflok wegzukommen. Entscheidend ist, wer drin sitzt, welche Sehnsüchte an die Reise geknüpft sind und welche Küsse es am Bahnsteig gab oder geben wird. "Die Romantik entsteht im Kopf des Betrachters, das Rollmaterial ist einerlei. Es ist Zeit, dass wir die Dampflokomotiven in den Museen stehen lassen, wo sie hingehören. Es ist Zeit, dass auch die Züge in Kinderbüchern elektrifiziert werden. Wir sind bereit für moderne Züge, die wie Waschmaschinen klingen, aber uns schnell und sicher an unsere Ziele bringen. Die Effizienz lässt die Romantik des Bahnreisens nicht verschwinden. Sie macht sie nur wesentlich bequemer."

Außerdem: Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Die WamS dokumentiert Jonathan Franzens Vorwort zur internationalen Ausgabe von Thomas Brussigs Roman "Am kürzeren Ende der Sonnenallee", den Franzen gemeinsam mit Jenny Watson ins Englische übertragen hat. Thomas Bernhards Nachlass geht nach langen Verhandlungen an die Österreichische Nationalbibliothek, melden Hannes Hintermeier (FAZ) und Michael Wurmitzer (Standard). Maxim Biller grämt sich in seiner Zeit-Kolumne über den voranschreitenden Verfall seiner Wohnungseinrichtung - und jüngst sind auch noch Motten hinzugekommen. Jürgen Verdofsky schreibt hier in der FR zum Tod des Schriftstellers Wulf Kirsten und dort zu dem des Dramaturgen und Erzählers Stefan Schütz. Roswitha Budeus-Budde (SZ) und Tilman Spreckelsen (FAZ) schreiben Nachrufe auf die Journalistin und Kinderbuchautorin Sybil Gräfin Schönfeldt.

Besprochen werden unter anderem Mohamed Mbougar Sarrs mit dem Prix Goncourt ausgezeichneter Roman "Die geheimste Erinnerung der Menschen" (taz, unsere Kritik), Shelly Kupferbergs "Isidor" (Tsp), Helmut Lethens "Der Sommer des Großinquisitors" (taz), Moritz Baßlers Studie "Populärer Realismus. Vom International Style gegenwärtigen Erzählens" (Zeit), Ian McEwans "Lektionen" (Standard), Pawel Filatjews "ZOV. Der verbotene Bericht" (taz) und Chelsea Mannings "README.txt. Meine Geschichte" (FAZ).
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Kunst

Der Vatikan gibt all seine Fragmente des Parthenon-Tempels an Griechenland zurück. Das hat Papst Franziskus gestern bekanntgegeben, meldet Hyperallergic. In der NZZ berichtet Thomas Ribi über den Streit um den Naumburger Dom: Mit der Aufstellung des Cranach-Altars im Westchor soll der Dom seinen Status als Weltkulturerbe gefährden. In der FAZ erinnert Boris Motzki an die Uraufführung von Jean Cocteaus "Antigone" 1922 (Arthur Honegger komponierte, Coco Chanel nähte, Pablo Picasso malte und Cocteau und Artaud spielten, pas mal, no?). Und Rose-Maria Gropp gratuliert der Fotografin Bettina Rheims zum Siebzigsten.

Besprochen wird die Ausstellung "Data Streaming" mit Arbeiten von Michel Majerus im Hamburger Kunstverein (Tsp).
Archiv: Kunst

Musik

Mit großer Freude nimmt Christian Schachinger im Standard zur Kenntnis, dass Peter Brötzmanns und Han Benninks Freejazz-Album "Schwarzwaldfahrt" von 1977 neu aufgelegt wurde. Der Titel ist Programm: Entstanden ist das Album in der, naja, Wildnis. "Bennink schmeißt Steine aufs Eis und klöppelt Marschrhythmen auf Baumstämme. Peter Brötzmann bläst Jägerlatein und Halali ins Horn. Seine Finger frieren am Saxofon fest. ... Der Wald rauscht. Holz knackst mit Echoeffekt. Ein Flugzeug zieht vorüber. Das Tonband beginnt zu eiern. Die Batterien werden leer. Ist das tierischer Ernst, oder spielen hier gerade zwei heilige Narren mit sich und dem Leben?" Dieses Album "ist Kampfmusik, Meditation, Resignation, Aufbegehren. Für Bäume-Umarmer ist sie nicht gedacht. Was für ein wunderbares wüstes Album! Punk, 1977." Dazu passend steht beim WDR ein Feature von Helmut Böttiger und Ulrich Rüdenauer über den Aufbruch des Freejazz in den beiden deutschen Nationen der Nachkriegszeit online.



Die Coronapandemie hat bei den Laienchören voll eingeschlagen, meldet ein betrübter Jan Brachmann in der FAZ. Schon eine Studie im März 2021 "geriet zur Inventur einer Verödung", eine neue Studie zeichnet ein nicht wesentlich besseress Bild: "Durchschnittlich sei im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit nur noch ein Viertel der Laienchormitglieder sängerisch aktiv. Lediglich ein Drittel der Chöre probe noch mit der Häufigkeit wie im Jahr 2019. Acht Prozent der befragten Ensembles rechnen mit einem dauerhaften und fortschreitenden Mitgliederverlust. Allenfalls die finanzielle Situation habe sich dank Hilfe von Bund, Ländern und Kommunen entspannt." Hinzu kommt: "Knapp vierzig Prozent der Chormitglieder leiden unter Vereinsamung, knapp die Hälfte unter mangelndem Austausch mit Gleichgesinnten". Dazu passend: Dlf Kultur gibt den Laienchören des Landes mit seinem Podcast "Chor der Woche" zumindest eine kleine Bühne.

Außerdem: Jan Feddersen führt in der taz ein großes Gespräch mit der Sängerin und DDR-Oppositionellen Bettina Wegner. Alles wird minimalistischer, Musik wird durch Streaming immer immaterieller - doch die CD-Gesamtschauen werden dicker und dicker, stellt Manuel Brug in der WamS anlässlich der Veröffentlichung einer 107 Scheiben zählenden Box mit den Liedern von Dietrich Fischer-Dieskau fest. Detlef Diederichsen erinnert in der taz daran, dass man Eric Clapton seine wüsten Nazi-Tiraden in den Siebzigern weit weniger krumm genommen hat als Kanye Wests jüngste antisemitische Exzesse. Julian Weber erinnert in der taz an Clash-Sänger Joe Strummer, der vor 20 Jahren gestorben ist. Oliver Polak schwärmt im Dlf Kultur von Udo Jürgens, von dem gerade bislang unveröffentlichtes Material zugänglich gemacht wurde: Jürgens "war das Trojanische Pferd im Gewand des Pop, das aber Chanson, Jazz und Funk in sich trug".

Besprochen werden Kaja Drakslers und Susana Santos Silvas Album "Grow" (FR) und ein Adventskonzert der Berliner Philharmoniker unter Christian Thielemann (Tsp).
Archiv: Musik