Efeu - Die Kulturrundschau

Diese trockene Fußarbeit

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03.01.2023. Die NZZ fragt sich, ob das Kino dem Journalismus nicht einen Bärendienst erweist, wenn es ihn weiterhin zur Supermacht der Aufklärung stilisiert. Die taz fürchtet, dass die Theater besser durch die Pandemie gekommen sind, als die Theaterkritik. Der Tagesspiegel lauscht dem humanistischen Patriotismus in Händels "Judas Maccabaeus". Der Standard empfiehlt auch aus ästhetischen Gründen, weniger zu bauen. Und das ZeitMagazin huldigt dem Rebellentum der Motorradjacke.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 03.01.2023 finden Sie hier

Film

Daniel Haas hat in der NZZ durchaus Probleme damit, wie insbesondere das Gegenwartskino den Journalismus zu einer heroischen Sache verklärt - früher gab es deutlich mehr Zwischentöne, gar Kritik an dem Metier. "Filme wie 'Spotlight' (2016) und 'The Post' (2017) erzählen von der Glanzzeit des Journalismus, mit Akteuren, die gegen größte Widerstände die Wahrheit ans Licht bringen. Jetzt, da soziale Plattformen das öffentliche Bewusstsein kapern und Journalismus mehr und mehr zur Billigware in schnell servierten Feeds verkommt, verklärt das Kino bis auf ein paar Ausnahmen die Presse zur Supermacht der Aufklärung. Das ist ein so nostalgischer wie dramaturgisch nachvollziehbarer Impuls. Aber ob er dem Journalismus selber einen Dienst erweist, ist fraglich. Berichterstattung kann nicht nur aus Scoops bestehen. Journalisten müssen ihren Job gerade dann gewissenhaft ausüben, wenn es nichts Aufregendes zu berichten gibt. Ihr Ehrgeiz sollte auch jenen Themen gelten, die erst einmal nur kompliziert, spröde und wenig unterhaltsam sind. Kinotauglich ist diese trockene Fußarbeit des Journalisten nicht. Einem Faktenchecker oder Investigativ-Redaktor beim Sichten von Aktenbergen zuzusehen, hat einen sehr geringen Unterhaltungswert."

Außerdem: In der Zeit erinnert Ronald Düker an die Errichtung des Hollywood-Schriftzugs vor 100 Jahren. Besprochen wird die Netflix-Serie "Kaleidoskop", die damit auf sich aufmerksam macht, dass ihre Episoden angeblich in beliebiger Reihenfolge gesehen werden können (Tsp).
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Stichwörter: Journalismus im Film, Netflix

Architektur

2022 sind die Baukosten explodiert, für den sozialen Wohnungsbau ist dies eine Katastrophe, weiß Standard-Kritiker Maik Novotny, der dem aber auch angesichts des Klimanotstands Positives abgewinnen kann. Vielleicht wird dann einfach mal weniger gebaut? "Hässliches Wien: leblose Erdgeschoßfronten mit Tiefgarageneinfahrt und Müllraum. Hässliches Tirol: irgendwie herumstehende XXL-Häuser hinter Thujenhecke und Plastikzaun. Hässliches Niederösterreich: Gewerbegebiete an jedem Kreisverkehr und Baumarkt-Banalitäten, die durch das Anmalen mit Baumarktfarben nur noch schlimmer werden. Hässliches Oberösterreich: sowieso. Burgenland: ein baukulturelles Trauerspiel. Salzburg: geht so. Kärnten und Vorarlberg: Lichtblicke. Österreich, reiß dich zusammen!"
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Literatur

In der NZZ setzt Sergei Gerasimow sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Wolf Leppenies führt in der Welt durch das Gespräch zwischen dem Philosophen Michel Onfray und Michel Houellebecq (unser Resümee), das dem französischen Schriftsteller nun eine Anzeige wegen Anstachelung zum Hass gegen Muslime eingebracht hat. Viktoria Großmann erinnert in der SZ an den vor 100 Jahren gestorbenen Schriftsteller Jaroslav Hašek (mehr dazu bereits hier).

Besprochen werden unter anderem Gayl Jones' "Corregidora" (online nachgereicht von der FAZ), Mohamed Mbougar Sarrs mit dem Prix Goncourt ausgezeichneter Roman "Die geheimste Erinnerung der Menschen" (Standard, unser Vorwort), Margaret Atwoods von Jan Wagner übersetzter Gedichteband "Innigst / Dearly. Gedichte eines Lebens / Poems of a Lifetime" (ZeitOnline), Nick Drnasos Comic "Acting Class" (SZ), Bücher über das Jahr 1923 (Tsp) und Eva Demskis "Mein anarchistisches Album" (FAZ).
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Bühne

In der taz hält Tobi Müller Abgesänge auf die Theaterkritik für verfrüht, aber gut läuft es nicht gerade im Metier: "Alle Gespräche mit Theaterleuten, die ich in den letzten drei Jahren off und on the record über Machtmissbrauch, Sexismus und Rassismus führte, waren komplexer als die große Mehrheit der Texte, die ich darüber las. Es gibt in den Häusern eine Kultur der Kritik, der Beratung und der Auseinandersetzung, die vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen wäre. Während die klassische Kritik Rückzugsgefechte inszeniert und zum Beispiel das 'woke' Theater für den Publikumsschwund verantwortlich macht, obwohl die Zahlen, würde man sie denn recherchieren, das Argument nicht stützen, schreitet die Kritik in den Institutionen nach vorne. Das ist keine Frage des Charakters, sondern allein der Ressourcen. Die Theater sind sehr gut durch die Pandemie gekommen, dank der öffentlichen Hand. Die privaten Medien nicht so gut. Der Rest ist Rechnen."

Alexis Michaliks Erfolgsstück "Le Porteur d'Histoire" am Theatre des Béliers

In der FAZ porträtiert Marc Zitzmann den französischen Erfolgsdramatiker Alexis Michalik, der mit einem Hang zu geschliffenen Texten, Prägnanz und Optimismus zum Star der privaten Theater in Paris wurde und damit zwischen die politischen Fronten geriet: "Das als links geltende théâtre public schneidet ihn konsequent. Entsprechend verreißt das Linksblatt Libération seine Arbeiten ausnahmslos, während der eher rechte Figaro sie ebenso konsequent in den Himmel hebt; Le Monde spielt mit einer Alternanz von Lob und Tadel das zentristische Zünglein an der Waage. Doch so schmerzhaft strukturelle und schauspielerische Schwächen hier und da auch ins Auge stechen mögen, die erwähnten Produktionen bieten (bis auf 'Les Producteurs') mehr als bloß bemühte Unterhaltung. Nämlich: Spannung, Überraschungen - und immer wieder Momente, in denen es einem den Hals zuschnürt."
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Design

ZeitMagazin-Stilkolumnist Tillmann Prüfer beobachtet in der Mode "gerade sehr viele Zitate des Motorradfahrens". Woher kommt der Trend? Vielleicht ja aus dem Kino, wo "der Motorrad-Film das letzte Genre ist, wo noch der klassische tragische männliche Held funktioniert, mit einer Figur, die Risiken auf sich nimmt und sich in Gefahr begibt, die Regeln bricht, dabei aber auch verletzlich ist." Doch "es könnte auch sein, dass die Motorrad-Montur die letzte Kleidung ist, mit der man als Designer noch zuverlässig von wildem Rebellentum erzählen kann. Wir haben es also in diesem Sinne nicht mit einer Ausweitung der maskulinen Symbole in der Mode, sondern mit ihrem Rückzug zu tun. All die anderen Symbole wie Cowboyboots und Holzfällerhemden wirken nicht mehr männlich genug. Es bleibt nur das Motorrad. Und bald wird man vielleicht auch das nicht mehr verstehen."
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Stichwörter: Motorradfahrer, Mode

Kunst

Als "barocke Figur mit kosmischem Ego" porträtiert Kito Nedo den Kunstkurator Peter Weibel, der sich als radikaler Enzyklopädiker, Exzentriker und Herr der Unordnung einen Namen gemacht hat und nun mit 78 Jahren als Direktor des Karlsruher ZKM abtritt: "Mit dem Rückzug aus der Öffentlichkeit täte sich Weibel vermutlich einen Gefallen. Seit er im Frühjahr den Emma-Brief mitinitiierte, sich gegen die Lieferung schwerer Waffen aussprach und krude Thesen über die Ukraine verbreitete, hat sein Ansehen als Intellektueller schwer gelitten. Kritiker sprechen von einer neuen 'Qualität der Verblödung'. Nachdenklich macht ihn das offenbar nicht. Selbstzweifel sind nicht seine Sache."

In der FAZ feiert Ulf Erdmann Ziegler Eleganz und Finesse der Künstlerin Wiebke Siem, deren Arbeiten gerade im Salzburger Museum der Moderne gezeigt werden.
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Musik

Zu Neujahr gab es beim RIAS Kammerchor unter Justin Doyle nun endlich die zweimal verschobene Aufführung von Händels Oratorium "Judas Maccabaeus". Bei dem kriegerischen Libretto kommt Tagesspiegel-Kritikerin Christiane Peitz "kaum umhin, an die Ukraine und Wolodymyr Selenskyj zu denken." Doch "an diesem Abend wird das Werk gleichsam entwaffnet. Justin Doyle verleiht dem Patriotismus von 'Judas Maccabäus' humanistische Züge. Schon in der Ouvertüre gibt er einen tänzerisch-beschwingten Takt vor, den das wie immer passionierte Akamus-Ensemble spielfreudig aufgreift. Und es sind nicht martialische Triumphgesten, sondern die Funken der Hoffnung, die den Jubelchören Glanzlichter aufsetzen." Auch FAZ-Kritiker Gerald Felber "fällt auf, dass in dieser martialischen Handlung Pauken, Blech und die Bläser überhaupt ausgesprochen sparsam eingesetzt werden. Die Akademie für Alte Musik, nach vielen gemeinsamen Unternehmungen mittlerweile wunderbar auf die Eigenheiten des RIAS Kammerchors eingespielt, entsprach dem mit einer weichen, manchmal gar duftig-samtigen Klangaura. Wer das Ensemble in früheren Jahrzehnten mit seiner damaligen - durchaus auch reizvollen - kantigen Rauheit kannte, staunt über die inzwischen herauskristallisierte bruchlose Homogenität und Feinabstimmung." Beim Dlf Kultur kann man das Konzert nachhören.

Der derzeit dank diverser Netflix-Soundtracks relativ gegenwärtige Elektro-Komponist Ben Frost befasst sich auf seinem neuen Album "Broken Spectre" mit der Abholzung des Regenwaldes und den Folgen des Klimawandels. Von einer "akustischen Reise" schreibt Christian Schachinger im Standard: "Frost bearbeitete die auf Analogbändern festgehaltenen Geräusche. Er verfremdete teilweise die Abspulgeschwindigkeit und ließ das Ganze durch Effektgeräte laufen. Ob das nun als Musik zu bezeichnen ist, bleibt dem geneigten Publikum überlassen. Allerdings werden so verfremdete Vogel-, Tier- und Insektengeräusche durchaus einnehmend bis bedrohlich zu beeindruckenden Soundscapes transformiert, die durchaus musikalische Qualitäten aufweisen. Der Track 'Love in a Colder Climate' oder auch 'The Burning World' geraten dabei zu Horrorsoundtracks, die an die alten avantgardistischen Dark-Ambient-Qualitäten Ben Frosts anknüpfen."



Weitere Artikel: Algorithmenbasierte Dienste wie Spotify und TikTok machen der Bridge im Pop den Garaus, schreibt Michael Pilz in der Welt: "AAAA statt AAbA, Klangtextur statt Liedstruktur". Michael Stallknecht freut sich in der SZ darüber, dass die Mandoline das Instrument des Jahres 2023 geworden ist: Diese Entscheidung " wird, so viel ist sicher, für einiges Tremolo sorgen". In der FAZ gratuliert Reinhard Kager dem Komponisten und Dirigenten Heinz Karl Gruber zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Tine Fetz' und Daniel Schneider' Buch "Places - Vergangene Orte der Berliner Club- und Subkultur" (taz), Helmut Philipps' Kompendium "Dub Konferenz. 50 Jahre Dub aus Jamaika" (taz), das von James Gaffigan dirigierte Neujahrskonzert der Komischen Oper Berlin (Tsp), ein Konzert des Berliner Jazzquartetts Die Enttäuschung (FAZ), Pip Milletts Album "When Everything Is Better" (FR) und Pata Polaris' Album "Heartland" (FR).
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