Efeu - Die Kulturrundschau

Da thront sie im Goldkostüm

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.01.2023. Die NZZ lässt sich von Peter Knapps Fotografien an die Zeit erinnern, als junge Mode noch den Alltag und Zukunft gestalten wollte. Die Nachtkritik feiert die Lebendigkeit des polnischen Theaters, das sich allen Tabus und politischen Widerständen widersetzt. Die taz bewundert, wie die ukrainische Bildhauerin Zhanna Kadyrova die Schrecken des Krieges bändigt. Die FAZ erkennt das klare Süd-Nord-Gefälle in guter Architektur. Die SZ huldigt der Saxofon-Königin Lakecia Benjamin. Eher gähnen muss die FR über einen im Netz aufgetauchten Porno mit Michel Houellebecq.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.01.2023 finden Sie hier

Design

Bewegte 60s (Peter Knapp / Fotostiftung Schweiz)

Anders als das heutige elitäre Schauspiel auf den Laufstegen, wollte junge Mode in den Sechzigern noch den Alltag gestalten und für Aufbruchstimmung sorgen, stellt NZZ-Kritikerin Maria Becker nach dem Besuch Ausstellung "Peter Knapp - Mon temps" in der Fotostiftung Schweiz in Winterthur fest: Zu sehen sind Knapps Modefotografien, mit denen der Designer in den Sechzigern die Zeitschrift Elle ein zeitgenössisches Aussehen verschaffen sollte: "So waren sie, die Sixties: Weltraum-Look und Mondrian-Muster, farbige Strumpfhosen und Minirock. Dazu superdünne Models mit künstlichen Wimpern und hellem Lippenstift. Schaut man genauer hin, fällt vor allem die Bewegtheit der Modebilder auf. Anders als bei den statischen Posen der Haute Couture ließ Knapp seine Frauen springen und tanzen, auf der Treppe, über den Strand, zwischen den Straßen. Dynamik war das Zeichen der Zeit und das zentrale Element in Knapps Modefotografie. Sie gibt den Aufnahmen noch heute Frische und erstaunt durch ihre elaborierte Kunstform. Die Dynamik ist auch der Eindruck, der von den Bildern dieser Modeepoche am meisten hängen bleibt. Der Aufbruch zu einer neuen Freiheit war offen für vieles, vor allem für eine hoffnungsvolle Zukunft." Den Katalog zur Ausstellung finden Sie natürlich in unserem Online-Buchladen Eichendorff21.
Archiv: Design

Kunst

Abgefangen!  Zhanna Kadyrova: "Russian Rocket", 2022. Bild: Kunstverein hannover

In der taz stellt Bettina Maria Brosowsky die ukrainische Bildhauerin Zhanna Kadyrova vor, deren Werk der Kunstverein Hannover in der Ausstellung "Täglich Brot" zeigt: "Aber solche Kunst reicht Zhanna Kadyrova schon länger nicht mehr, ihre Mittel wurden härter, aggressiver, auf die Lebenswirklichkeit der Ukraine reagierend. Für ihre flächigen Keramikarbeiten 'Shots' greift sie seit 2014 zur Kalaschnikow, erzeugt so Verletzungen in perfekten quadratischen oder runden Primärgeometrien - sicherlich auch eine Kritik an der unzureichenden Kraft der Kunst, Ausnahmezustände wie einen Krieg zu reflektieren. Ihre fünfteilige Komposition 'Harmless War', in einer früheren Version noch im Außenraum vor dem Universalmuseum Joanneum Graz zu sehen, ist aus Blechen gefertigt, die im Kriegsgeschehen von Gewehrsalven perforiert wurden. Zhanna Kadyrova bändigte sie ästhetisch zu weiß lackierten, stereometrischen Grundkörpern wie Würfel, Kugel oder Pyramide, ihr unmittelbarer Schrecken ist unter der harmlosen Oberfläche aber nach wie vor präsent."

Christian Meier nimmt in der Welt noch einmal den Rechtsstreit zwischen Zeit und dem Galeristen Johann König unter die Lupe. Das Hamburger Oberlandesgericht hat die Berichterstattung der Zeit, die König sexuelles Fehlverhalten vorwarf, im Großen und Ganzen für zulässig erklärt, doch Meier will ihr das nicht als Sieg durchgehen lassen: Die Verdächtigungen seien journalistisch nicht sorgfältig belegt und zu auffällig seien mittlerweile die Lücken in dem nach wie vor online stehenden Artikel.

Besprochen werden die sehenswerte Ausstellung "Paris Magnétique" im Jüdischen Museum, die jüdische Künstler zusammenführt, die aus dem zaristischen Russland nach Paris emigriert waren, darunter bekannte  Größen wie Chagall und Modigliani, aber auch unbekanntere wie Chana Orloff, Jacques Lipchitz (SZ) und eine Schau des Amsterdamer Malers Karel Appel in der Berliner Galerie Max Hetzler (FR).
Archiv: Kunst

Bühne

Jakub Skrzywaneks Produktion "Der Tod Johannes Paul II" © Magdalena Hueckel

In einem Theaterbrief aus Polen freut sich Christian Holtzhauer über die Lebendigkeit des polnischen Theaters, das allen politischen Widerständen zum Trotz keine Tabus scheut, wie Hotzhauer beim Krakauer Festival Boska Komedia erlebte: "Keine der Arbeiten, die ich sehen konnte, wollte 'gefallen', keine war auf reine Unterhaltung des Publikums aus. Nur eine der im Wettbewerb gezeigten Inszenierungen beruhte auf einem im weiteren Sinn dramatischen Text, die anderen waren Uraufführungen, Prosabearbeitungen und Stückentwicklungen. Keine Frage: Theater in Polen ist ganz klar Regietheater." Und Jakub Skrzywaneks Stück über den Tod des polnischen Papstes Johannes Paul II. hat Anhänger und Verächter der Kirche gleichermaßen beglückt, versichert Holtzhauer.

Weiteres: In der NZZ porträtiert Christian Wildhagen den Genfer Opernintendanten Aviel Cahn, von dem er sich aufregende Zeiten im Grand Théâtre erhofft. In der Welt unterhält sich Jakob Hayner mit Gerhard Polt über Katholizismus, Rituale und sein Stück "A scheene Leich" in den Münchner Kammerspielen (das in der taz besprochen wird). Im Tagesspiegel macht sich Katrin Sohns Hoffnung, dass nach dem Dry January der Berliner Kulturbetrieb im Februar wieder Fahrt aufnehmen könnte.

Besprochen werden Ted Huffmans radikal reduzierte Inszenierung von Händels "Orlando" an der Frankfurter Oper (FR, FAZ), Wolfgang Rihms Oper "Die Eroberung von Mexico" am Staatstheater Mainz (FR), Mozarts "Le nozze di Figaro" in der Wiener Volksoper (Standard), die beiden Wiener Inszenierungen von Upton Sinclairs "Öl" am Volkstheater und Thomas Manns "Zauberberg" an der Burg (FAZ) und die lange Ukraine-Nacht bei den Lessingtagen in Hamburg (die SZ-Kritiker Till Briegleb als groben Agitprop bedauert).
Archiv: Bühne

Architektur

Auer Weber: Erweiterung des Landratsamt Starnberg. Foto: Aldo Amoretti / DAM

Ein wenig unklar bleiben dem FAZ-Rezensenten Matthias Alexander die Kriterien, nach denen das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt die aktuell besten Bauten des Landes ausgewählt hat, aber die Finalisten überzeugen ihn: "Den Sieg errang der Weiterbau eines Verwaltungsbaus. U-Bahn-Stationen, ein umgebautes Bürogebäude aus den Siebzigerjahren, die Umnutzung einer Scheune zu einer Art Dorfgemeinschaftshaus und ein Theaterbau hatten sich auch Hoffnung auf die Auszeichnung machen dürfen. Merke: Kulturbauten und solche, die dem öffentlichen Nahverkehr dienen, dürfen noch ganz neu errichtet werden; in den anderen Kategorien ist preiswürdig, wer die Bewahrung von möglichst viel Bausubstanz in den Mittelpunkt stellt, was derzeit als besonders nachhaltig gilt. Nun befindet sich, wer dem Zeitgeist folgt, nicht automatisch auf dem Holzweg. Im Fall des Landratsamts von Starnberg, das zum Sieger gekürt wurde, kommen ästhetische und ökologische Nachhaltigkeit vielmehr aufs Schönste zur Deckung." Und nicht zu übersehen für Alexander: das wachsende Süd-Nord-Gefälle in der Architekturqualität.
Archiv: Architektur

Literatur

Michel Houellebecq wälzt sich in einem wie aus dem Nichts aufgetauchten Trailer unbekleidet mit Frauen im Bett herum, im Voiceover geht es teils um abgründigste Frauengeschichten  - ein gefundenes Fressen für die französische Presse, aber auch für Stefan Brändle in der FR: "In den sozialen Medien fragen viele, ob das nun Houellebecqs erster Pornodreh sei, nachdem er schon in seinen Büchern über seine sextouristischen Reisen berichtet habe. Die Zeitung La Dépêche gibt sich 'schockiert', Libération befindet dagegen, 'Michel Houellebecq in einem Pornofilm' sei nur 'normal'. Auf Twitter fragt eine Forumsteilnehmerin bissig, ob der Film mit der 'alten kranken Schildkröte' - wie sich Houellebecq einmal selber beschrieben hatte - wohl eine 'Werbekampagne für sexuelle Abstinenz' sei. Niemand scheint dagegen die Szene bemerkt zu haben, in der der griesgrämige Autor mitten im Pornodreh offenbar spontan lachen muss. Houellebecq jedenfalls scheint mit dem Streifen zu seinen bewährten Werten Prostitution, Exhibitionismus und Pornografie zurückzukehren."



Weitere Artikel: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Steven Thomsen (online nachgereicht von der NZZ) und Willi Winkler (SZ) erinnern an Norman Mailer, der vor 100 Jahren geboren wurde. Burkhard Müller erklärt den SZ-Lesern, wer eigentlich Simon Urban ist, mit dem gemeinsam Juli Zeh ihren neuen Roman "Zwischen Welten" geschrieben hat: nämlich ein früherer Werbetexter, der auch zu ZeitOnline ein paar Artikel beigetragen und auch eigene Romane geschrieben hat.

Besprochen werden unter anderem Joshua Cohens "Die Netanjahus" (taz), Judith Hennemanns Gedichtband "Nicht warten auf King Tide" (Tsp), Peter Stamms "In einer dunkelblauen Stunde" (Welt), Juli Zehs und Simon Urbans "Zwischen Welten" (online nachgereicht von der FAS), Ian Rankins "Ein Versprechen aus dunkler Zeit" (FR), Hanna Johansens und Rotraud Susanne Berners Gedichtband "Alphabet der Träume: Gedichte für Kinder" (TA), Günther Anders' Briefwechsel mit Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Helmuth Plessner (Jungle World) sowie Gabriele Weingartners "Leon Saint Clairs Abschied von der Unendlichkeit" (FAZ).
Archiv: Literatur

Film

Regé-Jean Page ist nun auch nach wissenschaftlichen Kriterien offiziell der schönste Schauspieler der Welt, meldet Pascal Blum im Tagesanzeiger. Besprochen werden die Endzeit-Serie "The Last of Us" (NZZ) und ein Netflix-Porträtfilm über Pamela Anderson (taz).
Archiv: Film
Stichwörter: Netflix

Musik


SZ-Kritiker Andrian Kreye ist sehr beeindruckt von "Phoenix", dem "grandiosen" dritten Album der New Yorker Saxofonistin Lakecia Benjamin: Diese rammt damit "einen beeindruckend massiven Pflock in die jüngste Jazzgeschichte". Das Album "könnte einmal zu den großen politischen Statements des Jazz gehören, in einer Reihe mit Max Roachs 'Freedom Suite', Archie Shepps 'Attica Blues' und Gary Bartz' NTU-Troop-Alben. ... Stilistisch fokussiert sie vom Funk ihrer frühen Jahre bis zu sehr gegenwärtigen Formen des Modal Jazz ihren musikalischen Horizont zu einer Dringlichkeit, die auch im Studio die Energie freisetzt, für die sie auf der Bühne bekannt ist. Der Nihilismus des Hip-Hop bleibt ihr dabei fremd. Schon mit dem Cover stellt sie klar, auf welche Wurzeln sie sich auch beruft. Da thront sie im Goldkostüm und mit weißen Kniestiefeln, balanciert ihr Instrument wie ein Szepter, zitiert optisch den Kampfgeist von Betty Davis, den Afrofuturismus von Sun Ra und die Beschwörungen afrikanischer Königreiche aus dem Afrozentrismus." Wir hören rein:



Niemand bucht mehr Teodor Currentzis' musicAeterna, aber dafür einfach dessen unverfänglicheres Utopia-Ensemble, merkt Axel Brüggemann in seinem aktuellen Crescendo-Newsletter an. Aber stellt der neue Klangkörper hinter den Kulissen wirklich so einen großen Bruch dar? Finanziert wird es nach Brüggemanns Recherchen von der dem Getränkehersteller Red Bull und dem russlandfreundlichen Fernsehsender ServusTV nahestehenden Dietrich Mateschitz Privatstiftung und "von nicht benannten 'Mäzenen'. ... Ein Großteil der Utopia-Geschäfte wird offensichtlich von der 'Euphonia gGmbH' abgewickelt. Sie wird geleitet von Ilja Chakhov, der auch 'Chief Executive Officer and Artistic Planning Director' von musicAeterna ist und zu den engsten Currentzis-Vertrauten gehört." Dabei ist "die Geschäftsadresse der 'Euphonia gGmbH' die gleiche Adresse wie jene von 'Andreas Richter Cultural Consulting' in Berlin. Richter hat die großen Europa-Tourneen für musicAeterna ausgerichtet" und wurde mittlerweile "von der 'Euphonia gGmbH' mit der Vertretung von Utopia beauftragt und organisierte die Konzerte im Oktober 2022. Auf weitere Nachfragen antwortete Richter im Currentzis-Style: 'Ich schätze die Pressefreiheit sehr und bin froh, in einem Land zu leben, in dem sie geachtet und respektiert wird. Diese Freiheit impliziert aber auch, nicht a priori auf jede Frage zu antworten. In Ihrem Fall nehme ich gerne davon Gebrauch.'"

Ein paar Tage nach dessen Tod liefert Ulf Erdmann Ziegler im Perlentaucher den eigentlichen Nachruf auf David Crosby. Sehr schön schreibt er über eine unglaubliche Version seines Songs "Guinnevere" allein mit Graham Nash: "In zwei Versen, komplett in Harmonie, bekommen wir erzählt, wer sie war, dann, statt eines Refrains, driftet der Song in 'dödöla'. Dabei werden die Stimmen in Höhe und Ton zueinandergeführt, so dass man bei einzelnen Tönen nicht mehr sicher ist, wer Nash und wer Crosby ist. Tatsächlich kreuzen sie sich und laufen dann in der anderen Richtung davon. Wie Kinder mit flatternden Bändern auf einem Feld. Nach der Kreuzung kehrt sogleich die individuelle Stimmfarbe zurück. Das höchst Subjektive spiegelt sich im Universellen. Die Wirkung ist enorm, man möchte unbedingt sofort mitsingen, was aber selbst für routinierte Chorsänger kaum möglich ist."



Außerdem: Musikproduzent Robert Ponger blickt im Zeit-Gespräch zurück auf seine Zeit mit Falco. Reinhard J. Brembeck (SZ) und Max Nyffeler (FAZ) gratulieren dem Komponisten und Dirigenten George Benjamin zur Auszeichnung mit dem Siemens-Musikpreis. Harry Nutt (FR), Edo Reents (FAZ) und Christian Schachinger (Tsp) schreiben zum Tod des Motown-Songschreibers Barrett Strong.

Besprochen werden ein Wiener Konzert des Tonhalle-Orchesters unter Paavo Järvi (Standard), das Boxset "The Virgin Years" mit Aufnahmen von Human League (Standard), Billy Nomates neues Album "Cacti" (taz) und Johanna Summers Klavieralbum "Resonanzen" (ZeitOnline).

Archiv: Musik