Efeu - Die Kulturrundschau

Paradiesische Rottöne

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.02.2023. Die SZ berauscht sich an der tahitischen Phantasmagorie, die Albert Serra in seinem Film "Pacifiction" ausmalt. Die NZZ bewundert in einer Berner Ausstellung die Alterswildheit Joan Mirós. Und sie stellt fest: Der Rollkragenpullover erlebt ein Comeback bis in die höchsten Führungsebenen. Die FAZ hört dreieinhalb Stunden Prokofjews Monumentaloper "Krieg und Frieden" in Budapest. Ein hingerissener Tagesspiegel durchwandert mit Davide Ferrarios Dokumentation "La Bibliotheca del Mondo" die Bibliothek Umberto Ecos. Van wüsste gern von den Berliner Philharmonikern, ob sie wirklich keine einzige Komponistin aus den 50er- und 60er Jahren kennen?
9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.02.2023 finden Sie hier

Film

Halluzinierter Exotismus: Albert Serras "Pacifiction"

Albert Serra setzt sein extravagantes, sonst eher in den tiefen Archiven der Geschichte wühlendes Kino fort: Sein neuer Film "Pacifiction" spielt auf Tahiti, "ein umwerfender Benoît Magimel regiert als ausgebrannter Hochkommissar über Französisch-Polynesien", schreibt Perlentaucherin Thekla Dannenberg und ist hingerissen über diesen für das paris-fixierte französische Kino doch sehr ungewöhnlichen Ortswechsel: "Tahiti als Schauplatz einer postkolonialen Fantasie ist ein Geniestreich." Zwar wächst mit fortlaufender Spielzeit das "Unbehagen, doch die Kamera berauscht sich an der Schönheit der Landschaft, der Körper, der Gesichter.  ... Ein Plot entspinnt sich nicht aus diesen Versatzstücken des Polit-Thrillers. Serra ruft die Motive spielerisch auf, die politische Intrige, die Paranoia und die raunenden Andeutungen. ... Die Vernunft und die Kontrolle sind die große Fiktion, die Serra in 'Pacifiction' verabschiedet. Die Cahiers du Cinéma haben ihn zum besten Film des Jahres 2022 gekürt. Die postkoloniale Herrschaft scheint bei ihm nicht fürs Tragische zu taugen, selbst wenn die Menschheit verloren ist und ihrem Untergang entgegengeht, allenfalls für einen verrückten apokalyptischen Trip."

SZ-Kritiker Philipp Stadelmaier stürzt sich voller Begeisterung in die sich buchstäblich auftürmende Brandung dieses Films: "Wenn es heutzutage einen Grund gibt, ins Kino zu gehen, um etwas zu sehen, was man sonst nirgends sehen kann - dann ist es "Pacifiction", dieser meisterhafte, einzigartige Film. ... Der fast dreistündige Film verzichtet auf jede übergeordnete dramatische Struktur. Und dann ist da das Risiko des Exotismus. 'Pacifiction' ist ein wunderschöner Film, getaucht in tropisches Licht und paradiesische Rottöne, als wäre die Sonne stets am Auf- oder Untergehen. Und doch verliert die Erzählung keine Sekunde an Spannung, während die Arbeitsmethode des Filmemachers alle Klischees eliminiert." Zu erleben ist "eine Phantasmagorie, in der der Exotismus mit seinen Farben ebenso wie die postkoloniale Thematik nichts als eine Pazifik-"Fiktion" ist. Die Dinge, die wir auf der Leinwand sehen, kommen uns vor, als würden wir sie ebenso halluzinieren, wie die Figuren es tun." Weitere Besprechungen in taz und FAZ.

Endlich mal die Filmkarriere wagen? Die Berliner und Brandenburger Filmszene sucht jedenfalls händeringend Personal, meldet Kurt Sagatz im Tagesspiegel. Besprochen werden Helena Wittmanns "Human Flowers of Flesh" (Perlentaucher, taz), Alex Schaads "Aus meiner Haut" (FAZ, nachtkritik), Ali Abbasis "Holy Spider" (Standard, unsere Kritik), die DVD-Ausgabe von Gary Shermans 70s-Horrorfilm "Der Tunnel der lebenden Leichen" mit Donald Pleasence (taz),  die Komödie "Ein Mann namens Otto" mit Tom Hanks (SZ) und ein Netflix-Porträtfilm über Pamela Anderson (FAZ, Standard), Außerdem weiß die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht.
Archiv: Film

Musik

Susanne Westenfelder und Hartmut Welscher vom VAN-Magazin fallen aus allen Wolken: Die Berliner Philharmoniker veranstalten im Jahr 2023 eine Biennale zur Musik der Fünfziger- und Sechzigerjahre - und kriegen es dabei hin, bei 50 aufgeführten Stücken keine einzige Komponistin zu berücksichtigen: "Es wirkt, als wolle man in einer Art Reenactment die Fünfziger und Sechziger auch programmatisch möglichst realitätsgetreu nachstellen. Das ist vor allem deshalb schade, weil eine Biennale eigentlich die Chance böte, aus kuratorischen Automatismen auszubrechen. Unter dem Scheinwerfer eines 'Festivals' könnte die Musik, die in der Musikgeschichte zu oft und zu Unrecht am Rand steht, ausgegrenzt wurde oder unter den Tisch gefallen ist, vom Schatten ins Licht gerückt werden. Der Kulturleuchtturm Berliner Philharmoniker würde sie dort besonders hell zum Leuchten bringen. Stattdessen finden sich im Biennale-Programm lauter altbekannte und vielgespielte Orchesterwerke des 20. Jahrhunderts, die allein in Berlin fast monatlich zu hören sind." Das Haus selbst verweist auf Nachfrage im Übrigen darauf, dass ja schon bei Ligeti das Haus kaum voll werde und man nach dem Corona-Senktal auf Nummer Sicher setzen müsse.

Diedrich Diederichsen führt in der taz ausführlich durch Leben und Werk des Saarländer Jazzpianisten Siegfried Kessler, der insbesondere in Frankreich reüssierte und dessen Alben derzeit wiederveröffentlicht werden: "Kessler hat Humor", stellt Diederichsen bei der Sichtung des Porträtfilms "A Love Secret" (2002) fest: "Er lässt die im Jazz so geliebte Energie auch mal in leeren Kreisbewegungen sich verschwenden. Man habe ihm gesagt, seine Hände seien zu grob für einen Pianisten, erzählt er: 'Aber wir gehören nicht zu denen, die das Klavier streicheln, man muss es schlagen'. Der Künstler hatte eine legendär harte, präzise, rhythmische linke Hand. Man sieht ihn aber nun, wie er die von Brahms für die linke Hand eingerichtete Chaconne von Bach spielt; alles andere als brutal, wenn auch muskulös. Man hört dies auch auf seinen ersten beiden eigenen Trio-Alben. ... Der Debütant hat da äußerst avancierte internationale Rhythmusgruppen und vor allem auf 'Solaire' in Stu Martin ein umwerfend subtiles Prügel-Genie als perkussiven Partner."  



Weitere Artikel: Jens Uthoff resümiert in der taz einen der ukrainischen Elektroszene gewidmeten Abend beim Berliner CTM-Festival. Für VAN porträtiert Hartmut Welscher die Geigerin Lena Neudauer. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker in dieser Woche hier Alba Trissina und dort Ursula Mamlok.

Besprochen werden Bob Dylans neue Lieferung seiner Bootlegs-Reihe (FAZ, mehr dazu hier) sowie Maya Homburgers, Barry Guys' und Lucas Nigglis Album "Acanthis" (FR).
Archiv: Musik

Design

Der Rollkragenpullover hat ein Comeback als politisches Zeichen bis hin zu höchsten Führungsebenen, stellt Benedict Neff in der NZZ fest. Die "plumpste Interpretation" wäre dabei jene, dass "der Rollkragenpullover als Zeichen einer politischen Sensibilisiertheit auftaucht. Männer wie Le Maire und Macron demonstrieren, dass sie die geopolitische Situation mit Russland und den Klimawandel selbst mit ihrer Kleidung kritisch reflektieren. Business as usual? Bestimmt nicht, die Situation ist zu ernst für eine Krawatte. Die Heizungen werden heruntergefahren, der Kragen aufgerollt. Dass die Politiker dabei auch noch die existenzialistische Aura von Jean-Paul Sartre umweht, kommt als Knalleffekt hinzu. ... Der Rollkragenpullover passt aber auch deshalb in die Zeit, weil er die Zeit anhält. Er ist ein taugliches Mittel im allgegenwärtigen Krieg gegen das Alter. Die Zeichen des körperlichen Zerfalls zeigen sich fast nirgends so erbarmungslos wie am Hals."
Archiv: Design

Bühne

Szene aus Prokofjews "Krieg und Frieden" in Budapest. Foto: Valter Berecz


"Dreieinhalb Stunden herrschte lähmende Stille im Parkett und auf den drei voll besetzten Rängen des Opernhauses" in Budapest, berichtet in der FAZ Wolfgang Sandner, selbst ganz erschlagen von Sergej Prokofjews Monumentaloper "Krieg und Frieden", deren Inszenierung durch Calixto Bieito er ziemlich aus der Zeit gefallen findet. Allerdings missfällt ihm das Setting eines "prächtig ausstaffierten Salons im gräflichen Palast", das der ganzen Oper als Bühnenbild dient. "Wie in aller Welt soll in dieser nivellierenden Szenerie, in der auch die Kleidung zwischen höfisch korrekt und bürgerlich lässig (Kostüme: Ingo Krügler) durcheinandergerät, die Mitglieder des Adels offenbar ständig in einem kollektiven Veitstanz sich selbst geißeln oder autistisch isoliert zum Wodka greifen, ins Aberwitzige gesteigert noch durch Videoprojektionen (Sarah Derendinger) mit russischen Bären, verzerrten Visagen, grässlichen Geburten und alles kahl fressenden Insekten - wie in aller Welt soll da ein Ensemble die gesangsmäßige Contenance bewahren? Denkt man und ist sogleich hocherfreut ob der darstellerischen wie vokalen Leistungen bis in die kleinste Solistenrolle, dazu noch vorwiegend aus dem eigenen Haus besetzt."

Weiteres: Nachdem die ukrainischen Musiker jetzt wegen des geplanten Auftritts Anna Netrebkos in Wiesbaden abgesagt haben, ist Intendant Eric Uwe Laufenberg unter Druck geraten, berichtet in der Berliner Zeitung Susanne Lenz: Nachgeben will er aber nicht. Peter Kümmel sieht für die Zeit neue Tschechow-Inszenierungen am Hamburger Schauspielhaus und in Berlin am Berliner Ensemble, am Deutschen Theater und am Maxim Gorki Theater. Besprochen werden außerdem Richard Strauss' "Ariadne auf Naxos" am Theater Bremen (nmz) und Giuseppe Verdis "Simon Boccanegra" in Essen und in Berlin (van).
Archiv: Bühne

Literatur

Das Italienische Kulturinstitut in Berlin zeigt heute Abend Davide Ferrarios Dokumentation "La Bibliotheca del Mondo" über die mehr als 30.000 Titel umfassende Büchersammlung des großen Umberto Eco. "Anfangs folgt die Kamera Eco selbst - durch viele Gänge in seiner Mailänder Wohnung, die in engen Fluren und weiten Zimmerfluchten, sich hinter Ecken öffnenden Sälen und Studios einem von Bücherwänden, Gemälden, Fotografien bewachten Labyrinth gleicht", schreibt ein hingerissener Peter von Becker im Tagesspiegel. "'Die Bücher bedeuten das Gedächtnis der Welt', sie enthalten alle Realitäten, bis hin zur Magie, sagt Eco. 'Sie sind die Vergangenheit und Gegenwart, ohne die es keine Zukunft gibt.' ... Ecos Bibliothek gehört heute dem italienischen Staat, ihr filmisches Abbild aber sollte zumindest in Arthousekinos noch öfter zu sehen sein." Die Veranstaltung heute Abend ist allerdings bereits ausverkauft - wir trösten uns bis zur nächsten Aufführung mit den Eindrücken aus dem Trailer:



Außerdem: Sergei Gerasimow setzt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Die NZZ-Redaktion empfiehlt die zehn wichtigsten Bücher des Monats. Besprochen werden unter anderem Claire Keegans "Das dritte Licht" (ZeitOnline), Franzobels "Einsteins Hirn" (online nachgereicht von der FAZ), Juli Zehs und Simon Urbans "Zwischen Welten" (54books), Dorota Maslowskas "Bowie in Warschau" (NZZ), Solvej Balles "Über die Berechnung des Rauminhalts" (FR) und Raphaela Edelbauers "Die Inkommensurablen" (FAZ).
Archiv: Literatur

Kunst

Joan Miró: "Verbrannte Leinwand 2", 1973. © Successió Miró / ProLitteris


"Das ist Action-Painting à la Jackson Pollock. Oder aber fernöstliche Kalligrafie, wie sie die Zenmeister Chinas und Japans praktizierten. Man reibt sich die Augen und fragt: Was ist mit diesem Künstler in seinen späteren Jahren bloß geschehen?" So beginnt in der NZZ Philipp Meiers begeisterte Rezension der Joan-Miró-Ausstellung im Berner Zentrum Paul Klee. Die Ausstellung ist dem späten Miro gewidmet, der sich mit 63 Jahren in Palma de Mallorca niederließ und dort nochmal ganz neu anfing: "Ein textiles Beispiel in Bern zeigt, wie Miró Wege jenseits der klassischen Malerei zu beschreiten begann. Er verwendete grobes Gewebe, brannte Löcher hinein, hinterlegte Stoff, bemalte einzelne Partien und entdeckte vor allem auch in der Zerstörung einen produktiven Weg neuer Bildfindungen. Er traktierte Leinwände mit den Füßen, bespritzte sie mit Benzin und zündete sie an, so dass große Löcher mit ihren Durchblicken Teil der Komposition wurden. Das Feuer hatte Miró bereits bei der Herstellung von Keramik schätzen gelernt. Er wusste, dass er hier die volle Kontrolle zugunsten der Naturgewalt aufgeben musste. Das gefiel ihm."

Weitere Artikel: Ingeborg Ruthe gratuliert in der Berliner Zeitung der albanischen Künstlerin Majla Zeneli zum Perthen-Preis, der von der Berlinischen Galerie verliehen wird. Moritz von Uslar besucht für die Zeit in der Berliner Akademie der Künste die Ausstellung der Fotografin Nan Goldin, die nächsten Monat in Berlin mit dem Käthe-Kollwitz-Preis ausgezeichnet wird.

Besprochen werden eine Ausstellung der ukrainischen Bildhauerin Zhanna Kadyrova im Kunstverein Hannover (Tsp), Anett Stuths Naturfotografien im Haus am Kleistpark in Berlin (BlZ), die Ausstellung "Paris Magnetique 1905-1940" im Jüdischen Museum (taz), die Ausstellung "Adolf Luther - Licht. Werk und Sammlung" im Museum unter Tage in Bochum (FAZ) und Pepe Danquarts Dokumentarfilm über den Maler Daniel Richter (FR).
Archiv: Kunst