Efeu - Die Kulturrundschau

Die Moral-Domestizierung der Kunst

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21.02.2023. Roald Dahls Bücher werden von Sensitivity Readern durchkämmt. Absurde Zensur, findet Salman Rushdie auf Twitter. Die SZ staunt: Hexen können gar nicht durch Haareausreißen erkannt werden? FR und Tagesspiegel lauschen hingerissen Vera-Lotte Boeckers golden glänzendem Sopran in Richard Strauss' "Daphne". Die SZ findet den Berlinale-Wettbewerb ziemlich toll.  Im Standard spricht Architekt David Chipperfield über seine innere grüne Wende.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.02.2023 finden Sie hier

Literatur

Recherchen des Telegraph zufolge (eine Zusammenfassung der Vorgänge findet man auf Spon) hat ein englischer Verlag für seine Neuauflage von Roald Dahls Kinderbüchern zahlreiche Eingriffe vorgenommen: Angeblich vor den Kopf stoßende Begriffe wie "fett" und "hässlich" wurden von Sensitivity Readern durch weniger kräftige Wörter ersetzt, kleinere Spitzen in Nebenbemerkungen wurden gleich ganz gestrichen, sofern sie das Lesepublikum irgendwie anfassen könnten (dass sich ein Publikum von solchen Bevormundungen angefasst fühlen könnte, wurde indessen nicht berücksichtigt). Dies versetzte nicht nur PenAmerica in Alarmbereitschaft, auch Salman Rushdie bezeichnet den Vorgang auf Twitter als "absurde Zensur" und in einem weiteren Tweet als Werk einer "verhunzenden Befindlichkeitspolizei". Dass Dahl als Privatmensch in seinen Ansichten auch finstere Abgründe hatte, daran erinnert in der SZ Susan Vahabzadeh. Allerdings fanden diese in den Büchern wenig bis keinen Niederschlag. Nun wurde "Dahls langwierige Erklärung, Hexen seien immer Frauen, nie Männer, zusammengestrichen; die Großmutter weist den Jungen nun immer noch zurecht, Haareausreißen sei keine Methode, eine Hexe zu erkennen (die haben Glatzen und tragen Perücken), weist aber pflichtschuldigst darauf hin, für Glatzköpfigkeit bei Frauen gebe es auch andere Gründe. Man würde hoffen, dass Eltern, sollten sie ihren Kindern 'Hexen hexen' zu lesen geben, vielleicht einen viel wichtigeren Hinweis für die Kleinen auf Lager haben: Es gibt gar keine Hexen. Weder mit noch ohne Glatzen. Diese fiktiven Gestalten mit richtigen Frauen zu verwechseln, ist ganz schön verrückt. Und irgendwie beängstigend."

Außerdem: Sergei Gerasimow führt in der NZZ sein Kriegstagebuch aus Charkiw fort. Willi Winkler schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Schriftsteller John E. Woods. In der FAZ gratuliert Kerstin Holm der Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Annie Ernaux' "Der junge Mann" (FR), Karl Ove Knausgårds "Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit" (Tsp), Brigitte Reimanns "Die Geschwister" (Welt), Stephan Oswalds Biografie über August von Goethe (Zeit), Jovana Reisingers "Enjoy Schatz" (ZeitOnline), Cătălin Partenies "Die Goldene Höhle" (online nachgereicht von der FAZ), NoViolet Bulawayos "Glory" (SZ) und Sasha Filipenkos "Kremulator" (FAZ).
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Film

Eine Ahnung von Zeit und Möglichkeiten: "Past Lives" von Celine Song

Philipp Bovermann zeigt sich in der SZ vom Berlinale-Wettbewerb bislang sehr überzeugt - von wenigen Ausnahmen abgesehen. Vor allem Celine Songs "Past Lives" - vielleicht "einer der schönsten, klügsten Liebesfilme des Jahres" - ließ ihn "wie berauscht und mit einem Kloß im Hals" aus dem Berlinale-Palast taumeln (auch den Kritikerspiegel von ScreenDaily führt der Film gerade mit erheblichem Vorsprung an). Es geht um ein jugendliches Liebespaar, das sich in Korea aus den Augen verliert und viele Jahre später in New York wieder begegnet: "Nun reden sie in einer New Yorker Bar über diese Liebe, die sie wohl in einem anderen Leben ausleben müssen, denn der aus den USA stammende Ehemann der Frau sitzt nebendran. Er ist Schriftsteller und weiß, dass in einer Geschichte nun eigentlich er es wäre, der dem Schicksal im Weg steht. Jede Dialogzeile ist ein kleines Kunstwerk, die Liebeshandlung spielt gewissermaßen gegen die von Migrantenträumen aufgeladene Filmkulisse von New York an und verliert freiwillig. Alles wird virtuell und löst sich auf in einer Ahnung von Zeit und Möglichkeiten, wie sie das Kino in seinen besten Momenten zu erzeugen vermag." Hm.

Auch Carolin Ströbele von ZeitOnline ist von diesem "bemerkenswerten Debüt", das von der amerikanischen Kritik nach seiner Premiere dort in höchsten Tönen gelobt wurde, begeistert: "Es geht hier nicht nur um eine Frau zwischen zwei Männern, zwei Kulturen, zwei Leben, sondern auch um ihre Rolle als Künstlerin und Schriftstellerin. Ist sie der Mensch, der sie als Kind war - die Zwölfjährige, die auswandern will, 'weil es keine koreanischen Literaturnobelpreisträger' gibt - oder ist sie die andere Zwölfjährige, die sich nach den Straßen, den Klängen ihrer Heimatstadt sehnt?" Im Perlentaucher ist Patrick Holzapfel sehr viel verhaltener: "Was möchte 'Past Lives' von uns? Wahrscheinlich vor allem, dass wir ähnlich empfinden wie die Protagonisten. Tatsächlich fühlt man sich aufgefordert, nach dem Film längst vergessene Freunde aufzusuchen. Manche werden auch weinen, weil sie das nie getan haben. Diese existenzialistische Rührseligkeit ist Symptom eines egozentrischen Kinos wohlgestellter, kulturaffiner Denkweisen, das seinen höchsten Wert darin erkennt, wenn Menschen nichts mehr auf der Leinwand sehen außer sich selbst."

Ferien für immer, sagen "Sisi und ich"

Für FAZ-Kritiker Claudius Seidl ist derweil Frauke Finsterwalders im Panorama gezeigter Film "Sisi & ich" nichts weniger als "der schönste aller Filme" - gerade weil dieser im verregneten Berlinale-Februar mit seinen sommerlichen Farben und der mediterranen Urlaubsstimmung "ein Glück und ein unverdrängbares Schaulustgefühl" hervorruft: Es geht ums Verhältnis zwischen Kaiserin Sisi und einer Gräfin aus ihrer Entourage - aber vor allem ums Reisen. "'Ferien für immer' heißt ein Buch, das Christian Kracht vor langer Zeit mit Eckhart Nickel geschrieben hat; und die erste Hälfte des Films, dessen Drehbuch Kracht und Frauke Finsterwalder gemeinsam verfasst haben, sieht so aus, als wäre das auch das Motto für den Film gewesen. ... Man vertreibt sich die Zeit, spricht, trinkt und schläft. Und die Inszenierung scheint, mit einer blasierten Ernsthaftigkeit, diesem Lebensstil in jeder Szene recht zu geben. Nur wer von Arbeit befreit ist, kann sich den wirklich wichtigen Dingen widmen." Standard-Kritikerin Valerie Dirk sah einen Kostümfilm, "der nicht auf Perfektion oder einen männlichen Blick setzt - der Film spielt fast nur unter Frauen -, sondern auf fließende Schnitte und Bequemlichkeit. Die Kleider sind schließlich der Webstoff zwischen den drei Filmen - und die Moral: Je loser die Taille, desto befreiter die Frau."

Tastend und zart: "Tótem"

Lila Avilés' Wettbewerbsfilm "Tótem" erzählt auf kleinem Raum von den Ritualen rund um einen Geburtstag, der wohl ein letzter sein wird. "Reizvoll undurchsichtig fügen sich die verschiedenen Fragmente der familiären Beziehungen allmählich zu einem komplexen Ganzen zusammen", beobachtet tazlerin Eva-Christina Meier. "So scheinen in 'Tótem' auch die Objekte zu sprechen. Diego Tenorios Kameraführung unterstreicht diese Dramaturgie mit tastenden, neugierigen Einstellungen." FAZ-Kritiker Claudius Seidl sah einen Film, "der seinem Schauplatz und seinen Figuren eine ganz erstaunliche Zartheit und Lebensfreundlichkeit entlockt." Und es ist auch ein Tierfilm, schreibt Patrick Holzapfel im Perlentaucher: "Ein Netz wird sichtbar, in dem der Tod als Teil zyklischer Abläufe besiegt wird. Selbst wenn man nicht an Geister glaubt, beginnt man in den Katzen, Vögeln und Insekten jene Totems zu entdecken, die die Seele dieser Gemeinschaft ausmachen."

Weitere Artikel: Claudia Reinhard berichtet in der Berliner Zeitung von einer Diskussionsveranstaltung mit der Wettbewerbsjury. Büşra Delikaya porträtiert für den Tagesspiegel die indische Regisseurin Sreemoyee Singh. Fabian Tietke (taz) und Verena Lueken (FAZ) verneigen sich vor Steven Spielberg, der auf dem Festival mit dem Goldenen Ehrenbären und einer Hommage geehrt wird.

Aus dem Festival besprochen werden Sean Penns "Superpower" sowie Piotr Pawlus' und Tomasz Wolskis "In Ukraine" (Perlentaucher), Ira Sachs' "Passages" mit Franz Rogowski (taz, Tsp), Margarethe von Trottas "Ingeborg Bachmann - Reise in die Wüste" (Tsp, Perlentaucher), Alex Gibneys Porträtfilm über Boris Becker (NZZ), Dustin Guy Defas "The Adults" mit Michael Cera (Tsp) und die ZDF-Serie "Der Schwarm" nach dem gleichnamigen Ökothriller von Frank Schätzing (taz).

Weitere Texte vom Festival im Laufe des Tages in unserem Berlinale-Blog. Außerdem liefert Artechock kontinuierlich Kurzkritiken und längere Texte vom Festival. Cargo schickt SMS vom Festival, daneben schreibt Ekkehard Knörer von Cargo hier etwas ausführlichere Notizen. Und für den schnellen Pegelstand beim Festival unverzichtbar: Der Kritikerinnenspiegel von critic.de.
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Bühne

Vera-Lotte Boecker als Daphne. Foto: Monika Rittershaus


Romeo Castellucci hat an der Berliner Staatsoper Richard Strauss' Spätwerk "Daphne inszeniert. Im Tagesspiegel ist Sybill Mahlke so hingerissen von Castelluccis Regiezauber, dass sie über das "schwülstig-krause" Wassernymphen-Libretto hinweg sieht: "Musikalisch ist die Aufführung ein Juwel." In der FR ist Judith von Sternburg vor allem von der Sängerin Vera-Lotte Boecker verzaubert, "die sich Castelluccis Einfällen hingebungsvoll widmet, im Schnee herumspringt, sich die Kleider vom Leibe reißt, fröhlich, verwirrt, mit einer umwerfenden Zärtlichkeit dieser eisigen Weite und dem lachhaften armen Bäumchen gegenüber, das hier aus dem Schnee steht. Nachher wird sie es ausreißen - und sich selbst schließlich nach unten weggraben, vielleicht wirklich der Anfang eines neuen Baums. Man muss Boecker nicht verstehen, um ihr hingerissen zuzuschauen, und ihr makelloser, jugendlicher und doch golden glänzender Sopran ist über alle Zweifel erhaben."

Ganz große klasse findet SZ-Kritiker Peter Laudenbach Jonathan Meeses regiefrei entgrenzten Abend "Die Monosau", in der Martin Wuttke als Todesengel mit schwarzen Flügeln mit dem Henkersbeil Luftgitarre spielt. Damit sei die Volksbühne wieder ganz vorn: "Dieser immer hochtourig freilaufende Meese-Wahnsinn wirkt in Zeiten der Moral-Domestizierung der Kunst erfrischend. In der Verteidigung des Theaters als eines Orts des Spektakels und des Spiels als Selbstzweck ist die Volksbühne gerade ziemlich weit vorne. Und das ist sie natürlich, weil sie sich so in den denkbar größten Kontrast zum Zeitgeiststreber-Theater der Thesenträger katapultiert ... Wenn außerhalb des Theaters die Krise herrscht, koppelt sich die Volksbühne davon ab und besteht darauf, dass Kunst keine Fortsetzung der Sozialpädagogik mit anderen Mitteln ist, sondern sich ihre eigene Wirklichkeit schafft." Ganz anders sieht Monopol-Kritiker Tobi Müller den Abend: "Zweieinhalb Stunden rudernde Arme und Dauergebrabbel".

Besprochen werden Armin Petras' Bühnenfassung von David Grossmans Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" am Deutschen Theater Berlin (FAZ), das Musical "Tom Sawyer" nach Kurt Weill an der Komischen Oper Berlin (FAZ) und Ewald Palmetshofers Tragödie  "Vor Sonnenaufgang" am Linzer Landestheater (Standard).
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Architektur

Maik Novotny hat für den Standard mit dem Architekten David Chipperfield über die Erweiterung des Nationalen Archäologiemuseums in Athen gesprochen. Dabei bekennt Chipperfield auch seine eigene grüne Wende: "Wir haben gerade einen Wettbewerb für die London School of Economics gewonnen, weil wir die Einzigen waren, die gesagt haben: Lassen wir doch das alte Gebäude stehen. Wir können diesen Wandel also sehr wohl beeinflussen. Gerade wir etablierten Architekten sind hier in der Pflicht. Wir haben keine andere Wahl. Die Zeiten, in denen man sich Baumaterialien aus China bestellt, weil sie billiger sind, sind vorbei. Deswegen wollen wir hier in Athen auch Wände aus Lehm bauen und nicht aus chinesischem Marmor. Die junge Generation brennt für diese Dinge noch mehr, aber sie hat leider zu wenig Einfluss. Also müssen wir Älteren vorangehen."
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Stichwörter: Chipperfield, David

Kunst

In der FAZ erinnert Karlheinz Lüdeking daran, wie Marcel Duchamp vor hundert Jahren die Kunst an den Nagel hing: Er brach die Arbeit am "Großen Glas" ab, löste sein New Yorker Atelier auf und verzog sich nach Brüssel, um Schach zu spielen. Ein Scheitern will Lüdeking darin keinesfalls sehen: "Erstens war sein Schweigen kein Schweigen über die Kunst, sondern ein Schweigen der Kunst selbst, und zweitens verdankte es sich auch nicht der resignativen Einsicht, nichts mehr sagen zu können, sondern der Begeisterung darüber, endlich alles sagen zu können."

Weiteres: Alexander Menden berichtet in der SZ von Personalquerelen an der Düsseldorfer Kunstakademie, wo die nordrhein-westfälische Landespolitik offenbar die Wahl der Architektin Donatella Fioretti zur Rektorin zu verhindern scheint. Falk Schreiber empfiehlt in der taz die Ausstellung "The F*Word" zu den Guerilla Girls und feministischer Plakatkunst im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe.
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Musik

Hin und weg ist Standard-Kritiker Christian Schachinger in seiner Popkolumne im Standard vom neuen Album "Die Mariengrotte als Trinkwasseraufbereitungsanlage" des Hauntology-Projekts Läuten der Seele. Dahinter verbirgt sich der Würzburger Musiker Christian Schoppik: "Nach seinem titellosen Debüt mit Soundcollagen aus dem deutschen Heimatfilm der 1950er-Jahre wird nun in zwei wunderbaren, jeweils 20-minütigen elektronischen Minimalstücken der Heilige Geist im Weihwasserbecken des Komponisten Gavin Bryars und seines Klassikers 'The Sinking of the Titanic' entdeckt. Groß!"



Besprochen werden das neue Album von H.C. McEntire (online nachgereicht von der FAZ), das neue Album von Robert Forster (Standard, mehr dazu hier), ein Konzert des Deutschen Symphonie-Orchesters unter Robin Ticciati (Tsp) und ein wiederveröffentlichtes Album der Orange Baboons (Standard).
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