Efeu - Die Kulturrundschau

Drahtseilartisten über dem Abgrund der Zeiten

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.04.2023. Der Schriftsteller Matthias Politycki hat einen Roman über Afrika geschrieben. In der FAZ erzählt er, wie das Lektorat penibel darauf achtete, dass sich niemand aufgrund eines Wortes empören könnte. Für Empörung sorgt indes Til Schweiger, dem laut Spiegel Ausbeutung und Gewalt am Set vorgeworfen werden. Die SZ stellt nach einem Besuch beim Gallery Weekend fest: Galerien leisten heute das, wozu Museen der Mut fehlt. Und die NZZ lauscht Geflüchteten aus dem Sudan, die in strahlendem Über-Dur um eine reiche Ernte flehen.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.04.2023 finden Sie hier

Literatur

In einem Essay für "Bilder und Zeiten" der FAZ legt der Schriftsteller Matthias Politycki dar, warum er trotz Bedenken dennoch einen Roman über Afrika geschrieben hat, wo er sich seit vielen Jahrzehnten immer wieder lange aufhält. Afrika war früher schon Thema seiner Bücher, dass er einen kolonialen Blick einnehme, glaubt er nicht. Dennoch stieß er bei seinem jüngsten Roman erstmals auf ein hartnäckigeres Lektorat: Dabei gehe es darum, "den Text Satz für Satz mit den Augen derer zu lesen, die sich aufgrund eines Wortes, einer Wendung, einer Szene 'unwohl' fühlen oder sich empören könnten." Es ging darum, darauf zu achten, dass der Roman "kein Missvergnügen für diejenigen wird, die literarische Texte für politische Manifeste halten und sie nach den Regeln ihrer Weltanschauung untersuchen." Doch "gerade in transintellektuellen Zeiten wie der unseren, wo Sprache, Gedanken, Kunst und letztlich das gesamte öffentliche Zusammenleben mit großer Emotionalität und wenig überzeugenden Argumenten gemaßregelt und ideologisch kanalisiert werden sollen, ist die Aufrechterhaltung einer differenzierten Wahrnehmung (...) von zentraler Bedeutung."

In seiner von der FAZ dokumentierten Dankesrede für die Verleihung des Premio Internazionale NordSud der italienischen Fondazione Pescarabruzzo singt Durs Grünbein ein Loblied auf die Geistesgegenwart als Grundlage für Zeitgenossenschaft. "Was ist Zeitgenossenschaft? Zunächst nicht viel mehr als das Bewusstsein für die Geschehnisse in der eigenen Lebenswelt. Wie sich daraus ein historisches Bewusstsein entwickelt, steht auf einem anderen Blatt. Ich beschränke mich auf den Augenblick und halte Ausschau nach dem, was von Dauer ist. Der alte, typische Ansatz des Dichters, des geborenen Drahtseilartisten über dem Abgrund der Zeiten. Was ihn fesselt, ist der Einbruch der Wirklichkeit, ich füge hinzu, vieler neuer Wirklichkeiten, in das eigene Leben. Was ihm zu denken gibt, oft bestürzt, ist die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung."

Außerdem: Es war "der Wunsch, nicht die besprochene, also beherrschte Person zu sein, sondern selbst zu sprechen, dem Beherrschtsein zu entkommen", der Marlene Streeruwitz zum Schreiben brachte, verrät die Schriftstellerin dem Freitag. Tobias Rüther (FAZ), Gerrit Bartels (Tsp) und Sophia Zessnik (taz) berichten von der Leipziger Buchmesse. In der SZ freut sich Gustav Seibt, dass das Goethe-und-Schiller-Archiv in Weimar den Original-Brief erwerben konnte, in dem Goethe 1827 sein Konzept einer Weltliteratur ausformulierte. Richard Kämmerlings erzählt in der WamS von seiner Begegnung mit dem Schriftsteller Ralf Rothmann.  Für den Freitag räumt Joachim Feldmann aktuelle Krimis vom Nachttisch.

Besprochen werden John Irvings "Der letzte Sessellift" (Dlf), Antonia Baums "Siegfried" (taz), Blake Baileys Biografie über Philip Roth (FR), Sebastian Hotz' "Mindset" (taz), Olga Tokarczuks "Empusion" (SZ), Stephan Oswalds Biografie über August von Goethe (NZZ), und Marta Kijowska Biografie der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Wisława Szymborska (FAZ).
Archiv: Literatur

Bühne

Bild: Rita Newman

Dieter Dorn hat für sein Regiedebüt am Wiener Theater in der Josefstadt Samuel Becketts "Glückliche Tage" mit Georges Feydeaus "Herzliches Beileid" zusammengebracht. Die Grundidee ist gut, meint Nachtkritikerin Petra Paterno: "Feydeau skizziert ein junges Paar auf bestem Weg in die Ehehölle, deren Abgesang wiederum bei Beckett stattfindet: die letzten Tage eines alten Paars mit festgeschriebener Rollenverteilung." Nur: "Der Abend will sich partout nicht zu einem überzeugenden Ganzen fügen: Beckett wird veralbert, Feydeau verernstet. So kommen weder die zarten Momente noch die derben Pointen zum Tragen." In der SZ wird Egbert Tholl deutlicher: "Die Nostalgiker, die können sich freuen, weil nichts von der Sprache ablenkt, die geformt und durchdacht ist, wie immer bei Dorn, bestes Sprechhandwerk. Aber die beiden sprechen halt Feydeau und Beckett, mit jedem Punkt, jedem Komma, am besten noch mit jeder Regieanweisung. Und das hält man heute nicht mehr aus." Und Jürgen Kaube befindet im Feuilleton-Aufmacher der FAZ nach einem Abend mit einigen "abgestandenen" Witzen: Die Inszenierung wirke "wie eine fixe oder Schnapsidee des Regisseurs, die er und seine Schauspieler uns aber nicht erklären können (...)"

Produktionsfoto. Bild: Philipp Lichterbeck

"Über die Hälfte der landwirtschaftlichen Flächen Lateinamerikas sind in den Händen von einem einzigen Prozent der Bevölkerung - meist den direkten Nachkommen der ehemaligen Kolonisatoren und Sklavenhalter", schreibt Milo Rau, der in der taz zunächst von seinem jüngsten Reenactment im Amazonas, einer Neufassung von Sophokles' "Antigone" erzählt, die er mit Überlebenden eines Massakers aus dem Jahre 1996, bei dem Aktivisten anlässlich eines "Marsches für die Landreform" von der Militärpolizei erschossen wurden, auf die Straße brachte. Die Produktion wird im Mai am belgischen Theater NTGent Premiere feiern, Teil der Inszenierung ist auch eine internationale Kampagne gegen Greenwashing und die Zerstörung des Amazonas durch transnationale Lebensmittelkonzerne: "Wenn es einen Begriff gibt, den die Landlosenbewegung und indigene Aktivistinnen gleichermaßen ablehnen, dann ist es der neoliberale Begriff der 'Nachhaltigkeit'. In den letzten zehn Jahren hat sich das brasilianische Agrobusiness in eine milliardenschwere Industrie des Greenwashings verwandelt. Wie in einem kafkaesken Wachtraum wird die sich ständig beschleunigende Vernichtung des Regenwalds im Rahmen von abstrakten CO2-Deals, nur auf dem Papier existierenden Schutzwäldern und immer neuen 'Alternativen' für traditionelle Extraktionsmethoden als Lösung präsentiert."

Außerdem: Im nachtkritik-Interview mit Esther Slevogt und Sophie Diesselhorst ärgern sich Ensemblesprecher Alexander Angeletta und Dramaturgin Lea Goebel darüber, dass Ensemblemitglieder bei der Nachfolge von Stefan Bachmann als Intendant des Schauspiels Köln nicht beteiligt wurden. Goebel sagt: "Die Entscheidung, einen Vertreter des Personalrats hinzuzuziehen, wirkt nach außen vielleicht wie ein Kompromiss, ist im Kern aber Augenwischerei. Die Person war nicht anwesend bei der ersten konstituierenden Sitzung der Kommission, ist nicht stimmberechtigt, sondern maximal beratend tätig und soll erst zu einem späteren Zeitpunkt in den Prozess der Findungskommission hinzugezogen werden." In der taz stellt Matthieu Praun Yulia Yáñez Schmidt vor, die erste Absolventin des Inklusiven Schauspielstudios Wuppertal, das Menschen mit Behinderung ausbildet. In der Welt erzählt Jakob Hayner von seiner Begegnung mit Fabian Hinrichs, der die Hauptrolle in seiner Inszenierung "Sardanapal" kurzerhand selbst übernehmen musste, nachdem Hauptdarsteller Benny Claeessen einen Tag vor der Premiere hinschmiss (Unser Resümee).

Besprochen werden die Elfriede-Jelinek-Stücke "Aber sicher!" und "Strahlende Verfolger" in den Inszenierungen von Miloš Lolić und Gintersdorfer/Klaßen am Werk X in Wien (nachtkritik, Standard), Sebastian Hartmanns Inszenierung von Michel Houellebecqs Roman "Vernichten" am Staatschauspiel Dresden (nachtkritik), Franz Broichs Inszenierung von Michelle Steinbecks "Die beste aller Zeiten" am Theater Basel (nachtkritik) Carola Moritz' Inszenierung von Juli Zehs "Corpus Delicti" im Kulturhaus Frankfurt (FR) die Arbeit "safe & sound" der israelische Choreografin Lee Méir beim langen Tanzwochenende im Radialsystem (Tsp) und Anne Lenks Inszenierung von Tschechows "Drei Schwestern" am Hamburger Thalia Theater (SZ).
Archiv: Bühne

Kunst

"Kommerzielle Galerien leisten, was Museen und Ausstellungshallen oft nicht mehr können oder wollen, weil die Mittel fehlen und manchmal auch der Mut", bemerkt Peter Richter in der SZ nach seinem Besuch beim wenig marktgängigen Berliner Gallery Weekend, das ihm wie eine "Art Documenta" erscheint: "Die Arbeit, die Hito Steyerl aus Protest gegen die antisemitischen Ausfälle auf der vergangenen Documenta in Kassel zurückgezogen hat, ist jetzt in veränderter Form bei Esther Schipper zu sehen. Virtuelle Höhlenwanderungen auf Riesen-Screens, Bewegungssensoren, Pflanzen in Glasballons, Steinfindlinge, Filmisches über John Maynard Keynes, über Bitcoins aus Käse sowie Schafhirten, die sich als Wölfe verkleiden, und das meist in Computerspiel-Ästhetik: Noch bevor man sich über das Inhaltliche überhaupt Gedanken machen kann, wird man von dem schieren Aufwand fast erschlagen. Dabei sind nur die Glasballons mit den Pflanzen verkäuflich, und der Erlös geht an Erdbebenopfer in der Türkei." Für den Tagesspiegel streift Michaela Nolte über die Messe Paper Positions. Das Monopol Magazin hat zwölf Highlights zum Gallery Weekend zusammengestellt.

Außerdem: Der Tsp berichtet von der Enthüllung von Markus Lüpertz' 14-teiligem Keramik-Zyklus in der Karlsruher U-Bahn. Besprochen werden Birgit Schulz' Dokumentarfilm über Helge Achenbach (FAZ) und die Ausstellung "Futurails. Wege und Irrwege auf Schienen" im DB-Museum Nürnberg (FAZ)
Archiv: Kunst

Film

Eine Spiegel-Recherche von Maike Backhaus und Alexandra Rojkov belastet Til Schweiger mit heftigen Vorwürfen: Das Einmann-Filmstudio (Produktion, Drehbuch, Regie, Hauptrolle) neige nach Angaben diverser Crewmitglieder am Set zu erheblichem Alkoholkonsum und entsprechend jähzornigem Auftreten (angeblich sogar gegenüber Kinderdarstellern). Crew-Mitglieder behaupten, dass er einem Mitarbeiter bei einer Auseinandersetzung angeblich ins Gesicht geschlagen hat. Eine Statistin soll spontan zu einer Entblößung gedrängt worden sein, eine Mitarbeiterin habe sich bei einer waghalsigen Szene schwer verletzt. Daneben dehne er Arbeitszeiten so weit, "bis Crewmitglieder körperlich und psychisch am Ende seien und sich Unfälle am Set häuften. ... Mehrere Teammitglieder von 'Manta Manta 2' berichten, sie seien irgendwann so übermüdet gewesen, dass sie unaufmerksam wurden. Eine Mitarbeiterin habe einen Stromschlag bekommen, einmal habe sich an einem zwölf mal zwölf Meter großen Segel ein Knoten gelöst. Es sei nach Darstellung von Zeugen unkontrolliert über Hunderten Komparsen und Schauspielern hin und her geschwungen. Es sei Panik ausgebrochen. (...) 'Wenn sich nichts ändert, dann stirbt irgendwann jemand an seinem Set', warnt ein ehemaliges Crewmitglied."

"Schweigers Verhalten sind an seinen Sets Dutzende Menschen ausgesetzt", schreiben Aurelie von Blazekovic und David Steinitz in der SZ, die sich ihrerseits nach der Spiegel-Recherche umgehört haben. "An Sets, die über die Jahre mit Steuergeldern in Millionenhöhe durch die Bundes- und Landesförderungen mitfinanziert wurden. Was jetzt publik wird, hätte die Constantin unter Martin Moszkowicz, die von Schweiger stattdessen finanziell gut profitierte, schon lange umtreiben müssen. Sie hätte Schweiger vor sich selbst schützen müssen - und sie hätte die Menschen schützen müssen, die ihm in ihrer Arbeit ausgesetzt sind."

Außerdem: In einem verpaywallten Gespräch mit der NOZ kritisiert der Filmemacher Edward Berger ("Im Westen nichts Neues") das mutlose Filmproduktionssystem der Öffentlich-Rechtlichen, wie die SZ zitiert. Thomas Ribi widmet sich in der NZZ der Frage, ob man Kleopatra in einem Netflix-Dokudrama nun wirklich mit einer Schwarzen besetzen sollte oder nicht. Fritz Göttler schreibt in der SZ einen Nachruf auf den Regisseur Peter Lilienthal, der seinerzeit den Jungen Deutschen Film mitbegründete.

Besprochen werden Bettina Blümners Kuba-Urlaubsfilm "Vamos a la playa" (online nachgereicht von der FAZ), Darren Aronofskys "The Whale" (Jungle World, unsere Kritik), die Mini-Serie "Dead Ringers" nach dem 80s-Horrorklassiker von David Cronenberg (Tsp) und die Serie "Alaska Daily" (Zeit).
Archiv: Film

Musik

Marco Frei berichtet in der NZZ von dem Projekt "Lab Uganda" des Münchner Vereins "Music Connects", das Geflüchtete aus dem Sudan in Uganda mit Musikinstrumenten und Aufnahmemöglichkeiten versorgt. "Eine Volksmusikgruppe aus dem Südsudan mit traditionellen ostafrikanischen Instrumenten nutzt hier das Tonstudio im Lastwagen, um die Melodien und Lieder aus ihrer Heimat aufzunehmen. Die Aufregung ist genauso groß wie die Freude. Immerhin geht es um nichts Geringeres, als das Volksgut aus ihrer alten Heimat in den Aufnahmen zu dokumentieren: um es vor dem Vergessen zu bewahren.  Es wird laut getrommelt und gesungen, alles im strahlenden Über-Dur, obwohl die Texte alles andere als fröhlich sind. Da wird um eine reiche Ernte und viel Wasser gefleht, damit alle genug zu essen und zu trinken haben. In der energiegeladenen, strahlenden Musik fühlt man sich fast wie in einer Kantate von Johann Sebastian Bach, wo oft die größten Sorgen und Kummer in freudvolles Dur gewendet werden."

Michael Pilz beugt sich für die Welt über Freddy Mercurys Nachlass, der demnächst bei Sotheby's versteigert wird. Die taz spricht mit dem Hamburger Musiker Andre Rebstock über dessen Eltern, die im NS-Widerstand waren. Christine Franz porträtiert für die taz die britische Noisepunkband Benefits. Kurt Kister schreibt in der SZ einen Nachruf zu Lebzeiten auf Elton John, der sich gerade auf Abschiedstour befindet - und mit dem auch die Zeit der Ultra-Superstars ihrem Ende entgegen sieht. Im Standard gratuliert Ljubiša Tošić dem Gitarristen Karl Ratzer zur Auszeichnung mit dem Amadeus fürs Lebenswerk. Hannes Hintermeier gratuliert in der FAZ Hans Well, dem Mitbegründer der Biermösl Blosn, zum 70. Geburtstag. Harry Nutt (FR) und Karl Fluch (Standard), gratulieren Willie Nelson zum 90. Geburtstag.

Besprochen werden ein Mozart- und Schumann-Abend mit den Berliner Philharmonikern unter Kirill Petrenko (Tsp), ein Konzert von Yo La Tengo (taz), das Festkonzert zum 50-jährigen Bestehen der Deutschen Streicherphilharmonie (Tsp) und das Debütalbum der Folkmusikerin Kara Jackson (ZeitOnline).

Archiv: Musik