Efeu - Die Kulturrundschau

Diese Attitude der diskursiven Weltverbesserung

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05.05.2023. Nachtkritik und FAZ erleben einen fast perfekten, atmosphärisch dichten Auftakt der Ruhrfestspiele mit "Drive your plow over the bones of the dead" der englischen Theaterkompanie Complicité. Da ertragen sie auch gern, wenn ein kindlicher Kohlhaas ihnen ein blutiges Wildschweinherz auf den Tisch knallt. Popsänger Ed Sheeran hat seinen Plagiatsprozess gewonnen, freut sich die SZ. Sonst wäre es vorbei gewesen mit dem Pop. Die taz erinnert an Burkhard Seiler, der 1979 "den einflussreichsten Schallplattenladen des alten West-Berlin" gründete. Der Tagesspiegel betrachtet in der Berliner Kunstbibliothek unheimliche Phänomene aus dem Jahr 1665.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.05.2023 finden Sie hier

Bühne

Plakat: Patryk Hardziej


Einen fast perfekten, atmosphärisch dichten Auftakt der Ruhrfestspiele erlebt Nachtkritikerin Dorothea Marcus mit "Drive your plow over the bones of the dead" der englischen Theaterkompanie Complicité. Das Stück beruht auf Olga Tokarczuks 2011 erschienenem Roman "Gesang der Fledermäuse". Im Mittelpunkt steht eine radikale Tierschützerin, Janina Duszejko, erzählt ein beeindruckter Hubert Spiegel in der FAZ. "Janina hat die Zerbrechlichkeit und die schier unerschöpfliche Energie eines Kindes, dessen unbedingten Gerechtigkeitssinn, sein grenzenloses Mitgefühl und seine Maßlosigkeit. Wie Andersens Mädchen mit den Schwefelhölzern droht sie an der Brutalität und Gefühllosigkeit ihrer Umgebung zu erfrieren, wie Kleists furchtbarer Pferdehändler nimmt sie auf grausame Weise Rache an ihren Mitmenschen. Ein kindlicher Kohlhaas im polnisch-tschechischen Nirgendwo."

Die Inszenierung ist vielleicht ein bisschen lang, meint Nachtkritikerin Dorothea Marcus, aber auch sie ist beeindruckt von der Aktualität des Stücks und seiner Hauptdarstellerin Kathryn Hunter. Ihre Janina spricht manchmal "wie eine Seherin, eine kosmische Gesandte, davon, dass sich das Größte stets im Kleinsten findet, dass alle Lebewesen zutiefst gleich sind, sie zitiert Blake. Und lässt uns an ihren Krankheiten, Wein-Anfällen, Albträumen teilhaben, hinter vielen Gazewänden taucht ihre Mutter auf und ruft. Und fast unmerklich verwandelt sie sich vor unseren Augen in eine psychisch Kranke, die ihren Wahn vor uns ausbreitet. Oder sind wir selbst der Wahnsinn der vermeintlichen Normalität? Symbolische Vertreter*innen der lahmen Bürokratie, die an die Einhaltung von Regeln und Gesetzen und an wirtschaftliche Grundsätze erinnern - während Janina der Sachbearbeiterin ein blutiges Wildschweinherz auf den Tisch knallt? Die Frage, wie radikal auch wir in der Klimakrise noch werden müssen, schwebt immer mit."

Was für Theater wichtig ist, um sich als ihrer Subventionierung würdig zu erweisen und zudem Angriffe kulturpessimistischer Rechter abwehren zu können, ist die Rückbindung ans Publikum, argumentiert Peter Laudenbach in der SZ, nicht möglichst weltverbessernde Inszenierungen, die politische Ziele im Blick haben: "Der Effekt ist Exklusion, also das Gegenteil des Ziels eines Theaters, das so vielfältig ist wie der Rest der Gesellschaft und sich an alle richtet. Diese Attitude der diskursiven Weltverbesserung und Publikumsbelehrung ist nicht nur überheblich, sie verabschiedet sich auch von der Kernkompetenz der Theater: Ein Schauspielhaus ohne Spiel wird leicht zu einer trostlosen Angelegenheit. Die entscheidende strukturelle Analogie zwischen Theaterbetrieb und dem System des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ist natürlich ihre Finanzierung durch die Allgemeinheit, also auch durch Bürger, die kaum von ihrem Angebot Gebrauch machen. Das macht beide Systeme angreifbar. Sie sind auf ein Minimum an gesellschaftlicher Akzeptanz angewiesen. Erodiert sie, wird es unangenehm. Die wichtigste Legitimation der Subvention einer Bühne sind nicht Insider-Preise oder Einladungen zum Theatertreffen, sondern die Ausstrahlungskraft, die sie in ihrer Stadt, für ihr Publikum entwickelt: Das ist die harte Währung."

Weiteres: In der FAZ findet Jörg Thomann die 13 Tony-Nominierungen für das Broadway-Musical "Some Like it Hot" wohl verdient. Im Standard annonciert Ronald Pohl die letzte Burgtheater-Spielzeit von Direktor Martin Kušej. Besprochen wird ein "Tartuffe" im Staatstheater Wiesbaden (FR).
Archiv: Bühne

Film

Abbas Rezaies Dokumentarfilm "Etilaat Roz"

Jörg Seewald berichtet in der FAZ von der Eröffnung des Dok.Festes München, wo Abbas Rezaies Dokumentarfilm "Etilaat Roz" über den Niedergang der gleichnamigen afghanischen Zeitung unter den Taliban gezeigt wurde. "'Wir müssen am Leben bleiben', beschwört Zaki Daryabi seine Redakteure, die mit dem Zwiespalt leben müssen, dass sie von Lesern mit Informationen versorgt werden. Die letzte gedruckte Ausgabe erscheint am 15. August 2021. Danach greift der Fatalismus um sich: 'Wenn der Betrieb weiter stillsteht, haben wir schon verloren. Aus uns werden bedürftige Immigranten.' Unter Tränen sagt Daryabi: 'Wir wollen Teil des Wertesystems sein. Ich kann weder meiner Mutter gerecht werden noch meinen Kollegen.' Am Ende verlässt auch der Herausgeber seine 100 Quadratmeter Kabul und flieht in einem alten rostigen Toyota Corolla. Heute seien sie über die ganze Welt verteilt und versuchten trotzdem, über die Realität in Afghanistan zu berichten, sagt Sakina Amiri, die jetzt in Spanien lebt. In München steht sie auf der Bühne, berichtet leise und stockend von der Not in ihrem Land."

Inmitten einer komplexen Kettenreaktion: Leonie Benech in "Das Lahrerzimmer"

Eine Lehrerin will mit idealistischen Absichten pädagogisch alles anders machen - und eckt damit bei den Kollegen an und verstrickt sich in einen Skandal, an dessen Ende sie als die Böse dasteht: Ilker Çataks "Das Lehrerzimmer" erzielt "vom ersten Moment an mit seinen filmischen Mitteln die Suspense eines Thrillers", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel. In diesem Film "fungiert das Klassenzimmer weniger als realitätsgetreues Modell der Gesellschaft. Es ist vielmehr ein Laboratorium, in dem die kulturellen Debatten unserer Zeit mutwillig erhitzt werden. Sein Film zeigt dabei überaus pointiert, wie wenig in unserer hochsensibilisierten Zeit schon reichen kann, um einen Dialog zu verunmöglichen." Perlentaucherin Carolin Weidner ist ebenfalls sehr angetan: "So minimalistisch die Anordnung (eine namenlose Schule irgendwo in Deutschland) und simpel die Ausgangssituation (Diebstähle, begangen von Unbekannt) - die losgetretene Kettenreaktion, welche sukzessive die ganze Institution umfasst, ist ziemlich komplex. Sie birgt eine nahezu mathematische Schönheit, in der verschiedene Variablen durchgespielt werden, obschon gleichzeitig alles auseinanderzufliegen droht, außer Kontrolle gerät." Auch Marie-Sofia Trautman von der taz ist beeindruckt. Die FR spricht mit der Hauptdarstellerin Leonie Benesch.

Carolin Ströbele unterhält sich für ZeitOnline mit den Nachwuchsfilmemacherinnen Eileen Byrne und Pauline Roenneberg, die gemeinsam mit anderen den Appell "Angst essen Kino auf" (unser Resümee) aufgesetzt haben über die prekäre Lage junger Filmschaffender in Deutschland. Das Klaus-Lemke-Prinzip - ohne Förderung drauflos filmen und einfach machen - kommt für diese Generation nicht infrage, sagt Byrne: "Wir bekommen natürlich öfter den Rat von Regisseuren, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren ihre ersten Filme gedreht haben: 'Geht einfach raus und dreht mit der Fotokamera. Dafür braucht ihr kein Geld.' Wir arbeiten aber heute unter ganz anderen Bedingungen. Man kann keinen Film mehr machen ohne eine Versicherung, es gibt einen Mindestlohn, der eingehalten werden muss - zum Glück. Ganz ohne Geld geht es heutzutage also nicht mehr. Und dazu kommt, dass wir Mieten zu bezahlen haben, die enorm gestiegen sind, und wir in einer Zeit der Inflation leben. Es geht ja gar nicht darum, dass wir als Regisseurinnen reich werden wollen."

Außerdem: "Ausbeutung und Willkür sind ein systemisches Problem in der Filmwirtschaft", schreibt Daniel Kothenschulte in der FR mit Blick auf die Enthüllungen des Spiegels über angeblich desolate Zustände bei Til Schweigers Dreharbeiten: "Es wäre wünschenswert, wenn nun mehr darüber bekannt würde." In der SZ gratuliert Alexander Menden Michael Palin zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Michael Showalters RomCom "Spoiler Alarm" (Tsp, Perlentaucher), Ulrich Seidls "Sparta" (Standard), James Gunns neuer "Guardians of the Galaxy"-Blockbuster (NZZ), eine BBC-Doku über Karl Lagerfeld (NZZ), die Netflix-Serie "Queen Charlotte - Eine Bridgerton-Geschichte" (FAZ) und die letzte Staffel der Serie "Der Pass" (Welt).
Archiv: Film

Literatur

Für die SZ spricht Willi Winkler mit Jürgen Serke, dessen 1976 im Stern veröffentlichten Reportagen über jene Dichter, deren Werke von den Nazis verbrannt wurden, gerade wieder als Buch aufgelegt wurden. Besprochen werden Regina Scheers eben mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnete Biografie "Bittere Brunnen" über die Kommunistin Hertha Gordon-Walcher (Zeit), Ralf Rothmanns "Theorie des Regens" (FR), Éric Vuillards "Ein ehrenhafter Abgang" (Zeit) und Benjamin von Stuckrad-Barres "Noch wach?" (Jungle World). Außerdem liefern die Literatursendungen des Deutschlandradios hier ihre gesammelten Rezensionen als PDF.
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Kunst

Erasmus Francisci: Der Wunder-reiche Uberzug unserer Nider-Welt. Staatsbibliothek zu Berlin


Bildnisse der Weltraumvorstellungen der frühen Neuzeit lernt Gunda Bartels in der Ausstellung "Ufo 1665. Die Luftschlacht von Stralsund" in der Berliner Kunstbibliothek kennen. Über Flugblätter und Kupferstiche werden ihr unheimliche Phänomene wie die titelgebende Luftschlacht präsentiert, erzählt sie im Tagesspiegel . "Aus Vogelschwärmen am Himmel formieren sich Kriegsschiffe, die sich heftige Kämpfe liefern. An Deck wimmeln gespenstische Gestalten. Es ist ein bizarrer Anblick, den sechs Fischer am 8. April 1665 um 14 Uhr beim Heringsfang vor Stralsund erleben. Und als gegen Abend auch noch eine fliegende Scheibe über dem Turm der Kirche Sankt Nikolai erscheint und die Fischer, allesamt respektable Stralsunder Bürger, anderntags über Unwohlsein klagen, ist die Mediensensation perfekt. ... Die Bereitschaft, den Menschen als unerklärlich geltende Phänomene für göttliche Warnzeichen zu halten, war bis weit in das 17. Jahrhundert hinein allgegenwärtig. 'Man lebte permanent in apokalyptischer Paranoia', sagt [Kurator] Moritz Wullen und beschreibt den Himmel in der Wahrnehmung jener Zeit als 'Screen, über den Gott mit der Menschheit kommuniziert'."

Weiteres: Die Welt hat ihr Gespräch mit Katharina Grosse online nachgereicht. Besprochen werden die Ausstellung "1923. Die Gesichter einer Zeit" in der Hamburger Kunsthalle (Tsp), die Ausstellung "Chemistry and Physics in the Household" des israelischen Künstlers Itamar Gov in der Berliner Zilberman-Galerie (Tsp)  und die Ausstellungen von Elisabeth Wild im Wiener Mumok sowie die ihrer Tochter Vivian Suter in der Wiener Secession (Standard).
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Musik

Der Popstar Ed Sheeran hat also doch nicht bei Marvin Gaye abgekupfert. Dies hat ein New Yorker Gericht in einem mit viel Aufmerksamkeit beobachteten Prozess nun abschließend festgestellt. Gottlob, findet Jakob Biazza in der SZ, denn "hätte Ed Sheeran den Prozess verloren, wäre der Pop, der Dramatik angemessen salopp gesprochen, wenn nicht völlig am Arsch, dann doch in einer Position gewesen, die einen absolut prächtigen Ausblick auf selbigen gewährt hätte." Schließlich ging es "es hier nicht um womöglich geklaute Melodien. Es ging um Harmonien, um Akkorde. Konkret: D-Dur, fis-Moll, G-Dur, A-Dur." Und diese Harmonie-Folge ist im Pop allgegenwärtig: "Harmonische Innovation ist im Pop im Grunde unmöglich. Schon qua Definition. Damit etwas POPuläre Musik wird, muss es bestimmte harmonische Konventionen bedienen, sonst wird es Jazz oder auf andere Art gefährlich. ... Einem Komponisten zu sagen, diese oder jene Harmonien hintereinander seien schon vergeben, ist in etwa so, als würde man einem Architekten mitteilen, rechteckige Fenster wären fürderhin leider tabu."

Diedrich Diederichsen schreibt in der taz einen Nachruf auf Burkhard Seiler, einen Freak und Musikenthusiasten, der 1979 "den einflussreichsten Schallplattenladen des alten Westberlins gründete: den Zensor." Seiler kannte alles, "gerne extreme Musik, früher Industrial, aber auch Soul, und vor allem liebte er den langjährigen Hobo, Instrumentenbauer und -entwickler und mikrotonalen Autodidakten Harry Partch. ... Als Zensor konnte und wollte Burkhardt Seiler apodiktisch sein. Er wusste und lebte, was die Deppen, die immer noch über Cancel Culture quengeln, nie begreifen werden: Ein guter Kulturvermittler muss ein Zensor sein. Kaum ein Theater ist dafür so gut geeignet wie der Schallplattenladen."

Außerdem: Sinem Kılıç berichtet auf ZeitOnline von ihrer Begegnung mit türkischen Sängerin Selda Bağcan, die seit über 50 Jahren das türkische Leben kritisch begleitet. Michael Stallknecht wirft für die NZZ einen Blick auf die Musik, die bei der Krönung von König Charles III. laufen wird. Corina Kolbe erzählt im Tagesspiegel von ihrem Besuch in Sergej Rachmaninows Villa am Vierwaldstättersee. Hugh Morris spricht für VAN mit dem Geiger und Dirigenten Pekka Kuusisto. Josephine Bastian blickt für das VAN-Magazin auf ein gemeinsames Projekt des Bundesjugendorchesters mit  Schülern des Bildungs- und Beratungszentrums für Hörgeschädigte in Stegen. Dass Missy Elliott als erste Rapperin in die Rock'n'Roll Hall of Fame aufgenommen wird, findet Karl Fluch vom Standard "schön und es ist weniger absonderlich, als es sich liest". Claudius Böhm erzählt im VAN-Magazin des Geschichte des Gewandhausorchesters während der Nazi-Zeit: "Die meisten Musiker gehörten der NSDAP an." Reinhard Brembeck porträtiert für die SZ die Sopranistein Fatma Said. Arne Löffel plaudert für die FR mit DJ Carl Cox. In seiner VAN-Reihe über Komponistinnen widmet sich Arno Lücker in dieser Woche hier Marguerite Casalonga und dort Fredrikke Egeberg. Jeffrey Arlo Brown lehnt sich mit einer VAN-Playlist gegen die "meteorologische Mittelmäßigkeit" auf, die der Monat Mai zumindest in Berlin bislang ist, und ruft mit den besten Aufnahmen von Robert Schumanns Dichterliebe op. 48 den Frühling wenigstens musikalisch aus. Und Rose-Maria Gropp schreibt in der Frankfurter Pop-Anthologie über Françoise Hardys Chanson "Tous les garçons et les filles":



Besprochen werden ein Konzert von Daniil Trifonov und Sergei Babayan im Wiener Konzerthaus (Standard), ein Konzert des Zafraan Ensembles im Berliner Kammermusiksaal (Tsp), ein Auftritt des Pianisten Andrey Shabashev (FR), ein neues Album von The National (SZ), das Debütalbum von Kinzua (tazler Lars Fleischmann spürt gerne der "Chimärenhaftigkeit" dieser Musik nach) und Jessie Wares Discopop-Album "That! Feels! Good!", auf dem Standard-Popkritiker Christian Schachinger eine "neue Hymne der Verheißung" entdeckt:

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