Efeu - Die Kulturrundschau

Demaskierungen des unbotmäßigen Auges

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.09.2014. Die Welt fühlt sich ungemütlich vor Courbets "Ursprung der Welt". Der FAZ gefällt die Mischung aus Professionalität und Unbeholfenheit in der Choreografie zu Heiner Goebbels' "Surrogate Cities Ruhr". Steven Soderbergh bittet Sie dringend, über Steven Spielbergs "Staging" nachzudenken. Die Musikkritiker sind immer noch in den Fängen von Aphex Twin. FAZ und SZ verteidigen Peter Handke, der in Oslo als "Faschist" beschimpft wurde. Handkes Antwort an die Kritiker viel kürzer aus: "Fahrt zur Hölle".
9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.09.2014 finden Sie hier

Bühne


Foto (c) Wonge Bergmann

Mit der Choreografie "Surrogate Cities Ruhr" beschenkt sich Heiner Goebbels zu seinem Abschied von der Ruhrtriennale selbst. Und dies gelang mit einer offenbar sehr charmanten Performance, wenn man Malte Hemmerich von der FAZ glauben darf: "Oft genug gerät das kindliche Bewegungsrepertoire in einen produktiven Zwist zu den maschinellen Klängen, und die so monumental erscheinende Musik wirkt plötzlich kinderleicht, sie wird zu einer ganz persönlichen Begleitung, jeder Akteur findet seine eigene Ausdrucksmöglichkeit, seinen Lebensraum. ... Es ist [die] Mischung aus Professionalität und Unbeholfenheit, die etwas Berührendes hat, dazu kommen der Charme der sichtlich aufgeregten Akteure, ihr selbstbewusstes Sicheinlassen auf die ungewohnten Klänge."

Außerdem: Im Standard erzählt Thomas Trenkler den Burgtheaterskandal als Thriller.

Besprochen werden Tschechows "Onkel Wanja" und Handkes "Die Unvernünftigen" am Theater Bochum (Welt), Andreas Kriegenburgs Horváth-Inszenierung "Glaube Liebe Hoffnung" am Schauspiel Frankfurt (FR, mehr), Philipp Stölzls Adaption des "Frankenstein"-Romans für das Theater Basel (NZZ), ein "Arturo Ui" am Schauspiel Frankfurt (FR), der Saisonauftakt am Schauspielhaus Hamburg mit Inszenierungen von Karin Beier und Karin Henkel (FR, taz, SZ), die Zürcher Aufführung von Andreas Homokis Wiener "Lohengrin"-Inszenierung (NZZ, FAZ), der Spielzeit-Auftakt am Theater Bochum mit Tschechow und Handke (FAZ) und die Geburtstagsrevue "C"Est la vie" zu Ehren von Peter Turrini am Wiener Volkstheater (FAZ).
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Literatur

Scharfer Protest schlug Peter Handke am Wochenende in Oslo bei der Verleihung des Ibsen-Preises entgegen, berichtet Aldo Keel in der NZZ. "Wegen seiner Haltung zu den Balkankriegen und Slobodan Milosevic wurden Handke in Norwegen "Bagatellisierung und Trivialisierung von Kriegsverbrechen" vorgeworfen. In den letzten Tagen hatte sich die Anti-Handke-Stimmung verschärft. So erklärte Bernt Hagtvet, Professor für Staatswissenschaften und Spezialist für Menschenrechtsfragen, an einer öffentlichen Veranstaltung, wenn man Handke den Ibsen-Preis verleihe, hätte man ebenso gut Joseph Goebbels mit dem Immanuel-Kant-Preis auszeichnen können." Handke empfahl seinen Kritikern dafür eine "Fahrt zur Hölle".

In der SZ ärgert sich Thomas Steinfeld mächtig über den Vorwurf des Dichters Öyvind Berg, Handke sei ein "Faschist", und über die Demonstration vor der Preisverleihung. Alles nur ein "selbstgefälliger Opportunismus der Moral", so Steinfeld: "Selbstverständlich gibt es auch in Norwegen besonnene Menschen, die wissen, dass Öyvind Berg Dinge behauptet, die stark übertrieben sind. Es hilft nicht: Wer sich moralisch im Recht glaubt, schlägt härter zu. Und es gibt genügend Menschen, die sich das nicht nur gerne ansehen, sondern lieber noch hinterherschlagen." Auch Hubert Spiegel eilt dem Schriftsteller in einer knappen Online-Meldung der FAZ, trotz Vorbehalten gegenüber vielen von Handkes umstrittenen Positionierungen und Wortmeldungen, zu Hilfe: "Einen solchen Vorwurf hat er zweifellos nicht verdient."

Weitere Artikel: Gleich zwei Sensationen aus der aktuellen Saison kann Thekla Dannenberg beim Perlentaucher dem Krimi-Publikum ans Herz legen: Da ist zum einen "Lady Bag" von Liza Cody, ohnehin eine der "besten Krimiautorinnen überhaupt", und dann noch "Absolute Zero Cool" von Declan Burke, der literaturtheoretisch bewehrt zum "Nullpunkt der Literatur" vordringt. In der Presse spricht der in Graz lebende Autor Fiston Mwanza Mujila im Interview über sein Buch "Tram 83", den Kongo und den Grazer Schlossberg. Das Merkur-Blog bringt die siebente Lieferung der Brüder-Goncourt-Lesekolumne von Holger Schule und Dominique Silvestri. Gerrit Bartels gratuliert Per Olov Enquist im Tagesspiegel zum 80. Geburtstag, in der SZ erledigt dies Thomas Steinfeld. In der Berliner Zeitung schreibt Nikolaus Bernau den Nachruf auf die Buchhistorikerin Friedhilde Krause.

Besprochen werden Per Pettersons Roman "Nicht mit mir" (NZZ), Jens Wonnebergers "Goetheallee" (ZeitOnline), Lisa Herzogs und Axel Honneths "Der Wert des Marktes" (taz), Eduardo Halfons "Der polnische Boxer" (Berliner Zeitung), Ulrich Raulffs "Wiedersehen mit den Siebziger" (SZ), Janus Gudians Biografie über den Historiker Ernst Kantorowicz (FAZ) und Katharina Schultens Gedichtband "gorgos portfolio" (SZ).
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Kunst



Gustave Courbets Gemälde "Ursprung der Welt" ist immer noch eine echte Zumutung für den Betrachter, meint Hans-Joachim Müller, der für die Welt die große Courbet-Ausstellung in der Fondation Beyeler in Basel besucht hat: "Wie Courbet keine Andeutung gelten lässt, wie er das Schamtuch wegzieht, das die Bildgeschichte stets zum Augentrost bereit liegen hatte, wie er den Ausschnitt wählt und scharf einstellt, den Blick lenkt, hinlenkt - bis einem die Grenzverletzung, die voyeuristische Indezenz bewusst wird, und sich Scham- und Schuldempfindungen in die Sensation mischen, das ist rigideste Abkehr von den Zeige- und Darstellungsnormen, die ja Nacktheit und Sexualität nie ohne die probaten ästhetischen Kostüme gelassen haben, auch wenn sie mitunter eng wie Bodies anlagen. Obszön am Bild ist die Verletzung jener Seh-Vereinbarung, die die Körper vor den Demaskierungen des begehrenden, des unbotmäßigen Auges bewahren möchte."

Mit "Site Visit" bringen die Kunst-Werke Berlin den in den USA bereits gefeierten, jungen Künstler Ryan Trecartin erstmals nach Deutschland. Dessen Erfolg erklärt sich Kito Nedo in der SZ so: Seine Arbeiten sind "anschlussfähig an die gegenwärtige Trashkultur, die durch soziale Netzwerke wie Facebook und Videoplattformen wie Youtube eine enorme Beschleunigung und Verbreiterung erfahren hat. An billige Fernseh-Formate wie Pseudo-Doku-Soaps oder Container-TV. An das Horror- und Katastrophenkino der Neunziger, wie "Jurassic Park" oder "Blair Witch Project". Sie lassen sich aber ebenso leicht als Fortsetzung von auf Geschlechterrollen-Konfusion zielendes Avantgarde-Theater lesen." Bereits im März schrieb der New Yorker ausführlich über Trecartin.

Weitere Artikel: Im Standard berichtet Thomas Trenkler von der Berlin Art Week. In der von Luca Vitone besorgten Herbstausstellung "Imperium" im Neuen Berliner Kunstverein kann man am Staub aus deutschen Machtinstitutionen schnuppern, berichtet eine darüber - "Was für ein kurioser Anspruch" - amüsierte Ingeborg Ruthe in der Berliner Zeitung. In höchsten Tönen lobt Gottfried Knapp von der SZ den Neubau des Landesmuseums in Münster: Hier lässt sich "ein Museumsbauwerk erleben, das dem Kunst-Ereignis architektonisch gewachsen ist." In der Berliner Zeitung wirft Michaela Schlagenwerth einen Blick auf das Symposium "Dancing About Architecture", das sich in den kommenden Tagen in Berlin künstlerisch mit dem Thema "Stadt" befassen wird.

Besprochen werden die Moshe-Gershuni-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie in Berlin (Tagesspiegel), die Ausstellung "Adolf Wölfli. Universum.!" im Museum Gugging (Standard) und ein von Petra Winter und Jörg Grabowski herausgegebenes Buch über die Berliner Museen im Ersten Weltkrieg (Berliner Zeitung).
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Film

(Via The Verge) Steven Soderbergh präsentiert auf seiner Website Extension 765 Steven Spielbergs Film "Raiders of the Lost Ark" in Schwarzweiß und als Stummfilm, um Filmstudenten zu zeigen, wie meisterhafdt Spielberg das "Staging", als Bildarrangement und Szenenfolge, beherrscht: "Darum möchte ich, dass Sie sich den Film ansehen und nur über das Staging nachdenken, wie die einstellung gebaut sind und ausgearbeitet werden, wie die Bewegungsregeln sind, welche Schnittmuster es gibt. Versuchen Sie, den Denkprozess nachzuvollziehen, der zu diesen Ergebnnissen führte und fragen Sie sich dabei: Warum war die Einstellung lang oder kurz, und worin ist die Abfolge begründet?" Den ganzen Film kann man auf Soderbereghs Website sehen - stumm und in schwarzweiß.

Weitere Artikel: Die New York Times meldet den Archivfund von spektakulärem Filmmaterial eines allein von Schwarzen gespielten Films aus der frühesten Frühzeit des Kinos (via Nerdcore). Auf dem Filmforum Bremen führt Marco Koch wie jede Woche durch die deutsche Filmblogosphäre.

Besprochen werden eine Wiener Filmschau über die Entwicklung des Horrorfilms seit 1968 (Presse) und die 3D-Weltkriegsdoku "Im Krieg" (ZeitOnline).
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Musik

Für die Popkritik gibt es auch weiterhin (siehe unser Efeu der letzten Tage) nur ein Thema: Das neue Album "Syro" von Richard David James alias Aphex Twin, der erste Longplayer mit wirklich neuem Material seit 13 Jahren. Pitchfork hat das Album, wie zu erwarten, in seinen Pantheon "Best New Music" gehoben. Mark Richardson leckt sich geradezu die Finger danach: ""Syro" geht hinsichtlich der Form als "90er" durch, ist im Einzelnen aber sehr modern. Musik klang 1996 zwar in etwa so, aber sie klang lange nicht so gut. Gleochgültig, ob James besseres Equipment besorgt hat oder die Art verbessert hat, wie er es aufnimmt: "Syro" liefert mit die taktilste Musik seines Schaffens: Ein Album für die Kopfhörer par excellence, ein Ein-Stunden-Fest für die Ohren. Doch so exquisit all die Fragmente für sich betrachtet auch sein mögen, liegt das Herz dieser Platte doch in ihrem beständigen Sinn für die Dynamik, was nur noch bemerkenswerter ist, da die Tempi im wesentlichen entspannt und gleichmäßig sind."

Auf ZeitOnline geht Daniel Gebhardt der Methode Aphex Twin auf den Grund: Zwar listet das Cover all das sündhaft teure Equipment auf, dessen sich der Soundhexer bei der Produktion bedient hat (mehr dazu hier), doch transparent wird dadurch noch lange nichts: "Was James offenlegt, ist lediglich das Vokabular einer Sprache, deren Grammatik er allein beherrscht. Die scheinbare Transparenz seiner aktuellen Arbeitsweise entpuppt sich (...) als Verschleierungstaktik." Und beim ORF hält Philipp L"Heritier das Album für ein "Pop-Sammelsurium aller Aphex-Twin-Styles", das schließlich in "überkandidelten Space-Prog-Eskapismus mit vollelastischem Bass" mündet, doch Entwarnung: Es "klingt nie nach Überfrachtung". Überzeugen wir uns mit einer Hörprobe einfach selbst:


Weiteres: Jan Wiele berichtet in der FAZ vom Reeperbahnfestival.

Besprochen werden eine Callas-Box mit 69 CDs (Welt), eine CD mit russischen Chorwerken des SWR Vokalensembles (Tagesspiegel), der vierte Abend des Schumann-Brahms-Zyklus beim Berliner Musikfest (Tagesspiegel, taz, SZ) sowie neue Alben von  Trickys (FAZ), SBTRKT (Spex), She Keeps Bees (Spex) und Anstam (Spex).

Außerdem: Angenehm entspannte Popmusik von Tycho (mehr) im aktuellen Video, gefunden beim Kraftfuttermischwerk:

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