Efeu - Die Kulturrundschau

Hin und wieder auch etwas völlig Unsinniges

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21.11.2014. Gott sei Dank, Oskar Schlemmer ist 70 Jahre tot! Jetzt kann man sein Werk wieder sehen, freut sich die Welt. Die NZZ sucht den Kafka der Drohnen. Bleibt Dieter Kosslick denn für immer Berlinale-Chef, stöhnt Negativ. Kritikerurteile über das renovierte Berliner Kunstgewerbemuseum schwanken zwischen "Meisterstück" und "Stilschubladen". Vollendete Souveränität hören SZ und FAZ in einem Konzertmitschnitt von Keith Jarrett, Charlie Haden und Paul Motian. Bloß keine Experimente, rufen Element of Crime in der NZZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.11.2014 finden Sie hier

Kunst


Oskar Schlemmer, Vierzehnergruppe in imaginärer Architektur, 1930-36, Museum Ludwig, Köln © Rheinisches Bildarchiv, Köln

Oskar Schlemmer ist ein gutes Beispiel dafür, wie das völlig überdehnte Urheberrecht Werke der Moderne in der Versenkung verschwinden lässt: Nach den Nazis haben die Erben Schlemmers über Jahrzehnte eine Ausstellung verweigert, erzählt Hans-Joachim Müller in der Welt. Erst jetzt, siebzig Jahre nach dem Tod des Künstlers, darf die Stuttgarter Staatsgalerie das Publikum mit dem Künstler bekannt machen und mit seinen kubischen Figuren: "Völlig unbeeindruckt von der "Seinsvergessenheit", die Heidegger dem technischen Zeitalter nachsagen wollte, sah Schlemmer gerade in der Verlässlichkeit der Maschine eine Metapher für die Belastbarkeit seiner Vision. So wie der Bildhauer seine Figurenreliefs und Skulpturen aus Geräteteilen fügte, so verband der Maler die Körperteile seiner Gliederpuppen mit Rädern und Transmissionen, deren Präzision den apparativen Lebensaufbau erst ermöglichen würde."

Absolut vernünftig findet es Stefan Grund in der Welt, dass WDR und die landeseigene Spielbank in NRW ihre Kunst verkaufen: "Aufgabe des WDR ist es, zu senden, und dabei die Grundversorgung der Bevölkerung mit Information und Kultur sicherzustellen. Diese Aufgaben umfassen nicht den steuer- oder gebührenfinanzierten Kunsthandel."

Besprochen werden eine Ausstellung der russische Künstlergruppe Chto Delat in der Wiener Secession (Presse), die Ausstellung "No More Fukushimas" im Wiener Verein 08 (Standard), eine Ausstellung mit Porträtfotos von Martin Schoeller in der CWC Gallery in Berlin (SZ) und Peter Lindberghs Fotoband "Images of Women II" (FAZ).
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Film

Kosslick ad infinitum? Dass Dieter Kosslick noch (mindestens) bis 2019 Berlinale-Chef bleiben wird, hält Rüdiger Suchsland auf Negativ für weiß Gott keine gute Idee: "Völlig ungeachtet von der Dauer einer Amtszeit und der Befähigung eines Kandidaten sollten derartige Stellen (...) vor einer Verlängerung öffentlich ausgeschrieben werden. Vielleicht gäbe es noch andere Bewerber? Mit noch besseren Qualifikationen, besseren Ideen, besserer Eignung. ... Dieter Kosslick steht für das Gegenteil von Offenheit, Vielfalt und kreativen Kontroversen. Er steht für nahezu alles, was am Gegenwartskino schlecht ist."


Szene aus Mike Hodges" "Get Carter" (1971)

Auf critic.de führt Michael Feig durch das Kino des britischen Regisseurs Mike Hodges ("Get Carter", "Flash Gordon"), dem das Heimspiel Filmfestival in Regensburg eine Retrospektive widmet. Zwar fehle dem Regisseur eine durchgehende ästhetische Handschrift, aber ein Motiv hat Feig doch destillieren können: "Der Einzelne sieht sich ominösen, letztlich unhintergehbaren Mächten gegenübergestellt, ob als Spielball oder Einzelkämpfer - oder beides zugleich... Solch ein gesellschaftskritischer, geradezu pessimistischer Grundton, der sich entsprechend in der visuellen Umsetzung niederschlägt, rückt Hodges zu Beginn seiner Karriere in die Nähe des New Hollywood."

Weiteres: In Thailand wurden fünf Studenten festgenommen, die Premier Prayut Chan-O-Cha mit dem rebellischen Drei-Finger-Zeichen aus den "Tributen von Panem" begrüßten, meldet die Presse, etwas später traf es eine weitere Studentin: "Nach einem Verhör werde entschieden, ob die Frau "in ein Militärlager zur Verhaltensanpassung" gesteckt werde, sagte Polizeioberst Kittikorn Boonsom." Kevin Kline spricht im Interview mit dem Standard über seinen neuen Film "My Old Lady". Für kino-zeit.de hat sich Sonja Hartl mit Hans Peter Moland über dessen neuen, hier besprochenen Film "Einer nach dem Anderen" unterhalten. Der Filmregisseur Mike Nichols ("Reifeprüfung", "Wer hat Angst vor Virginia Woolf") ist gestorben: Auf Fandor sammelt David Hudson Links. Nachrufe bringen die NZZ, die SZ, die FR , die FAZ und der Tagesspiegel.

Besprochen werden der japanische Animationsfilm "Die Legende der Prinzessin Kaguya" von Isao Takahata (FR, mehr), der dritte Teil der "Tribute von Panem"-Reihe (FR, FAZ, SZ, Tagesspiegel), Ruben Östlands "Höhere Gewalt" (Zeit, Perlentaucher, Tagesspiegel, critic.de) und Clara Bellars Dokumentarfilm "Being and Becoming" (Tagesspiegel).
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Architektur



Das nach langem Umbau wiedereröffnete, einst von Rolf Gutbrod entworfene Kunstgewerbemuseum in Berlin geht einen Schritt in die richtige Richtung, meint in der FAZ Andreas Kilb, auch wenn er etwa mit der Präsentation im Untergeschoss noch immer nicht zufrieden ist. "Der 1985 eingeweihte Bau des Stuttgarter Architekten Rolf Gutbrod (...) stellt mit seiner baukastenhaften Beton-Ziegel-Fassade und seinem labyrinthischen Inneren, in dem sich freischwebende Treppen, brutalistische Stützbalken und Waschbetonsäulen ohne Sinn und Verstand übereinander kanten, nach wie vor eine ästhetische Zumutung erster Ordnung dar. ... In diesem, gelinde gesagt, unvorteilhaften Rahmen haben die Architekten von Kuehn Malvezzi mit der Mode-Galerie im Zugangsgeschoss ihr Meisterstück abgeliefert."

Eine andere Position nimmt da Nikolaus Bernau in der Berliner Zeitung ein, der den ursprünglichen und gern verfemten Bau vor seinen Kritikern in Schutz nimmt. Die eigens eingerichteten Pavillons etwa verengen die Ausstellungsräume für seinen Geschmack zu sehr. "Die ganz große Enttäuschung aber ist die Neuinszenierung der Design-Sammlung. ... Alles wirkt eng und die international verflochtene Design-Geschichte des 20. Jahrhunderts wird zu einer in Stilschubladen sortierten Angelegenheit. Die bisherige Ausstellung mit luftigen Raumensembles sah nicht nur besser aus, sie war auch weit instruktiver."

Außerdem: Dieter Bartetzko ärgert sich in der FAZ enorm, dass das historische Gebäude der einstigen Kopf-Apotheke in Frankfurt um ihren Wandbrunnen gebracht wurde: "Eines der letzten originalen Kunstwerke im ohnehin so geschichtsarmen Stadtkern ist unbemerkt der Öffentlichkeit entzogen worden".
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Literatur

Alle reden über Drohnen, diskutieren das Für und Wider. Aber wird es einen Kafka geben, der sie besingt, fragt bang der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider in der NZZ: "Das Kriegsgerät der heroischen Zeiten fand stets seine Sänger: Man denke an Wagners Siegfried und seine Arie auf das Schwert Nothung, man denke an die Seiten, auf denen Ernst Jünger seiner Liebe zum Flakgeschütz Ausdruck verlieh, man denke an die Hymnen, die Gabriele D"Annunzio der italienischen Luftflotte widmete!"

Der Freitag beschenkt die Krimifans mit einem dicken Krimi-Spezial: Hier etwa empfiehlt Ekkehard Knörer "Lady Bag" von Liza Cody, die "das Genre entschieden vom Kopf auf die Füße" stelle (unsere Besprechung hier). Alle weiteren Besprechungen des Spezials finden Sie hier.

Besprochen werden Christa Wolfs "Moskauer Tagebücher" (Berliner Zeitung, FAZ), Volker Reinhardts De-Sade-Biografie (Freitag), Haruki Murakamis "Von Männern, die keine Frauen haben" (Zeit), Fadhil al-Azzawis "Der Letzte der Engel" (FAZ) und Michael Jaegers "Wanderers Verstummen, Goethes Schweigen, Fausts Tragödie" (SZ).
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Bühne



Höchstes Lob für Verdis "Luisa Miller" an der Hamburgischen Staatsoper: Simone Youngs "feuriges Temperament", erstklassige Sängerschauspieler und eine inspirierte Inszenierung von Andreas Homoki tragen für Marcus Stäbler (NZZ) allesamt dazu bei. "Homoki hebt den vom Werk exponierten sozialkritischen Aspekt kräftig hervor und rückt damit Verdis Oper nahe an ihre Vorlage und deren Entstehungszeit kurz vor der Französischen Revolution heran. Seine Inszenierung schildert den Prozess eines gesellschaftlichen Verfalls. Daran lassen die zunehmend zerrupfter wirkenden Kleider und Frisuren der Choristen und die drohende Guillotine keinen Zweifel."
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Musik

Das erst jetzt unter dem Titel "Hamburg "72" als Live-Album veröffentlichte Jazz-Konzert von Keith Jarrett, Charlie Haden und Paul Motian lässt Thomas Steinfeld in der SZ ganz und gar dahinschmelzen: "Diese Musik [ist] virtuos genug, um ihr Material als offenen Grundriss zu behandeln, auf dem sich weite Fluchten anlegen lassen, behagliche Nischen oder hin und wieder auch etwas völlig Unsinniges. Es schmerzt ein wenig zu wissen, dass solche Souveränität längst etwas Seltenes ist." In der FAZ bekundet auch Wolfgang Sandner, beim Hören "ein bisschen wehmütig" zu werden.

Einen echten Leckerbissen hat Rüdiger Esch mit seinem Interviewband "Electri_City" über Düsseldorf als Keimzelle der elektronischen Musik vorgelegt, meint Hendrik Otremba in der Jungle World: "Auf den ersten Blick ist das Buch ein Zeugnis der Musikgeschichte und richtet sich an Menschen, die ein nahezu nerdiges Interesse an den technischen Details des emporkommenden Elek­troniksounds aus Düsseldorf haben. Auf den zweiten Blick bemerkt man: Es ist die Erzählung einer intensiven, einzigartigen Musik." Mehr zu dem Buch hier.

Mit den Begriffen Innovation oder Experiment können Sven Regener und Jakob Ilja von Element of Crime nicht viel anfangen, erklären sie im Interview mit der NZZ. Ihr neues Album hat zehn neue Songs, das muss reichen, meint Regner: "Eine Band ist ja ein bisschen so wie der Bremer Bürgerpark. Der sieht jeden Tag anders aus: Hier sind ein paar Blätter runtergefallen, da ist einmal ein Baum tot, dort wachsen plötzlich Blumen raus. Das ist auch der normale Effekt, wenn eine Band neue Songs macht: Das eine kommt dazu, und das andere verschwindet in der Vergangenheit. Es bringt ja nichts, aus dem Bremer Bürgerpark einen japanischen Steingarten zu machen. Das ist einfach nur Quatsch."

Das Lollapalooza-Festival kommt nach Berlin. Was in der Berliner Zeitung Anlass zur höchsten Freude ist, löst bei Berthold Seliger (Jungle World) starke Vorbehalte aus: Längst steht hinter der Festivalmarke kein idealistischer Betrieb mehr, sondern ein knallhart kalkulierender Konzern, wie seine Recherchen ergeben haben. Er ist skeptisch, "ob die in Kooperation mit oder gleich unter direkter Beteiligung der Großkonzerne veranstalteten neuen Festivals 2015 die Berliner Musikszene bereichern. Hoffen wir, dass das Land Berlin den Lollapalooza-Machern wenigstens einigermaßen hohe Mieten und Gebühren abknöpft. Davon könnte dann langfristig tatsächlich die Berliner Musikszene profitieren."

Mächtig zynisch findet es Daniel Zylbersztajn in der taz, dass Bob Geldof seinen schon in den 80ern umstrittenen Band-Aid-Charity-Klassiker "Do they know it"s Christmas?" nun in einer Ebola-Edition neu aufgelegt hat: "Wenn alte Stereotype daher aufgerissen werden, damit sich saturierte Popstars mit afrikanischen Missionsfedern schmücken können, dann darf man auch vom Kolonialismus, Neokolonialismus und rassistischer Bevormundung nicht schweigen."

Weitere Artikel: Für The Quietus plaudert Julian Marszalek ausführlich mit Robert Plant, der gerade sein neues Album "Lullaby And… The Ceaseless Roar" (mehr) veröffentlicht hat. Für den Tagesspiegel hat Andreas Hartmann das Berliner Elektrolabel Pan besucht. Frédéric Schwilden muss sich nach einer Glosse in der Welt von dem Rapper Fler beschimpfen lassen. In seinem Poptagebuch beim Rolling Stone gratuliert Eric Pfeil schon jetzt allen Christkindern aus Pop und Rock. Außerdem gibt "Retromania"-Autor Simon Reynolds seine hauntologischen Musikempfehlungen für November bekannt.

Besprochen werden Azealia Banks Debütalbum "Broke with expensive Taste" (taz), das Album "Radian Verses Howe Gelb" (Standard), die Neubauten-Performance "Lament (The Quietus), die Konzeptalben der Einstürzenden Neubauten und der Tindersticks zum Ersten Weltkrieg (taz), ein Konzert der Counting Crows (Tagesspiegel), die Deluxe-Wiederveröffentlichung von David Bowies "81er Album "Nothing Has Changed" (Pitchfork) und ein Konzert von Hilary Hahn in München (SZ).
Archiv: Musik