Efeu - Die Kulturrundschau

Tischbomben-Allotria und Trompetenfanfaren

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21.10.2015. Die NZZ hört in Donaueschingen eine Theorieoper. Der Tagesspiegel erliegt dem Charme der Hippie-Harfen-Elfe Joanna Newsom. Die taz betrachtet den Künstler als exemplarischen Fernsehzuschauer. Die FAZ steht staunend im karakalpakistanischen Nukus vor erstklassiger russischer Avantgardekunst. Die Welt feiert den jungen iranischen Film.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.10.2015 finden Sie hier

Kunst

Mit der Ausstellung "Tele-Gen" nimmt das Kunstmuseum Bonn das Verhältnis zwischen Kunst und Fernsehen anhand von Arbeiten von unter anderem Nam June Paik, Harun Farocki und Christoph Schlingensief in den Blick, erklärt Tilman Baumgärtel in der taz. Er vermisst hier einiges, zum Beispiel Arbeiten von Künstlern, die versuchten, auch im Fernsehen zu reüssieren. Interessant wird es für ihn erst, wenn der "Künstler als exemplarischer Zuschauer" (Daniels) thematisiert wird: "Vor den Bildschirm verbannt, besteht seine Auseinandersetzung mit dem Fernsehen aus der Arbeit mit TV-Inhalten. Und hier bietet die Ausstellung wenig bekannte und selten gezeigte Arbeiten auf, die 'Tele-Gen' dann doch sehenswert machen. Selten zu sehen ist etwa der Found-Footage-Film 'Ein Tag im Leben der Endverbraucher' (1993) von Harun Farocki, der aus Werbeclips einen Tagesablauf zusammenschnipselt." Gern erinnern wir uns aber an Schlingensiefs Experimental-Talkshow "Talk 2000", die in "Tele-Gen" viel Raum einnimmt. Hier eine Playlist mit Ausschnitten:



In der FAZ kommt Monika Etspüler nach ihrer Reise ins karakalpakistanische Nukus aus dem Staunen nicht heraus. Das dort gut abseits gelegene Staatliche Kunstmuseum birgt in nüchterner Architektur mit der Sammlung Sawizki einen ansehnlichen Schatz: erstklassige Arbeiten der russischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts. "Als die Sammlung nach dem Zerfall des Sowjetreiches - Karakalpakstan war mittlerweile Teil eines unabhängigen Usbekistans - entdeckt wurde, ging ein Aufschrei durch die Kunstszene. Unglaublich: Abseits der großen Kulturpaläste erzählte ein Museum, das eher einem Provisorium als einem Kunsttempel gleicht, die Geschichte der verdammten und totgeschwiegenen Avantgarde in all ihren Facetten neu."

Besprochen werden eine Ausstellung über japanische Fotografie aus dem 19. Jahrhundert im Museum für Fotografie in Berlin (Tagesspiegel), eine Ausstellung über Finger und Hände im Verborgenen Museum in Berlin (Tagesspiegel) und die Ausstellung über "Klee und Kandinsky" im Lenbachhaus München (SZ).
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Bühne

In der taz bilanziert Sabine Leucht das Internationale Figurentheaterfestival in München. Johannes Dieterich berichtet für die FR vom Stand der Dinge in Christoph Schlingensiefs afrikanischem Operndorf.

Besprochen werden Tobias Kratzers Inszenierung von Giacomo Meyerbeers Oper "Der Prophet" am Staatstheater Karlsruhe ("ganz große Oper", freut sich Judith von Sternburg in der FR) und die William-Forsythe-Ausstellung in Frankfurt (SZ).
Archiv: Bühne

Film


Szene aus Safi Yazdanians Film "Wie viel Uhr ist es in deiner Welt?"

"Schlicht unglaublich", was die jüngere iranische Filmgeneration beim Filmfest in Zürich gezeigt hat, ruft ein bewundernder Hanns-Georg Rodek in der Welt. "Auswanderung ist ein überall präsentes Thema der iranischen Gesellschaft. Es steckt im Kern von 'Nader & Simin' und 'Wie viel Uhr ist es in deiner Welt?' ('Dardonyaye to sa'at chand ast') dreht es um: Eine Exilantin, angesehene Künstlerin in Paris, kehrt nach 20 Jahren in ihre Heimat zurück. Der Grund ihrer Rückkehr wird nie klar benannt, vermutlich ist es einfach Heimweh. Sie kommt an einen Ort, an dem die Zeit stehen geblieben scheint ... Safi Yazdanians Film hat einen melancholischen Unterton, aber er handelt vom Stillstand und einer Generation, die dadurch ihrer Chancen beraubt wurde. Das, sagen all diese neuen Filme, wird die neue junge Generation nicht mehr mit sich machen lassen."

Weitere Artikel: Anlässlich der posthumen Auszeichnung Christoph Schlingensiefs mit dem Konrad-Wolf-Preis denkt Claus Löser in der Berliner Zeitung über die starken Unterschiede zwischen beider filmischer Werke nach. Kerstin Holm (FAZ) gratuliert dem Regisseur Nikita Michalkow zum 70.Geburtstag.

Besprochen werden Fernando León de Aranoas schwarze Komödie "A Perfect Day" (ZeitOnline) und Robert Zemeckis' Hochhaus-Film "The Walk" (Tagesspiegel, Berliner Zeitung).
Archiv: Film

Architektur


Bild: Uni Freiburg

Mit seiner neuen, kräftig spiegelnden Universitätsbibliothek ist Freiburg "architektonisch im 21. Jahrhundert angekommen", meint Timo John in der FAZ. Mit späteren Ankunftszeiten müssen fortan lediglich die Autofahrer rechnen, Denn "wenn die Sonne zu bestimmten Jahreszeiten sehr flach steht, bringt sie die Fassade zum Gleißen - man ist dann als Autofahrer dermaßen geblendet, dass man anhalten muss."
Archiv: Architektur

Literatur

Ein ziemlich beeindruckter Kurt Neumann stellt im Standard Daša Drndićs Buch "Sonnenschein" vor, die konzeptionell raffinierte Fluchtgeschichte einer jüdische Familie aus Görz: "Drndićs poetische Erzähldramaturgie stützt sich auf eine Vielzahl von Gedanken und Versen aus der Literatur des 20. Jahrhunderts - Umberto Saba, Ezra Pound, Eugenio Montale, Paul Celan, Dino Campana, Claudio Magris, Romain Rolland sind nur einige der zitierten Schriftsteller - und entzündet, gleichsam nebenbei, mitten im Vernichtungs- und Überlebenskampf, eine begeisternde Hommage an die Dichtung der Epoche. Sogar Thomas Bernhard wird spielerisch eingeflochten."

"Mit unsagbarer Würde", schreibt bei qantara.de Stefan Weidner in einem feierlichen Text über die Friedenspreisverleihung, habe Navid Kermani seinem nun schon berühmten Gebet in der Paulskirche vorgestanden. Und vielen seien die Tränen in die Augen geschossen, "weil in diesem Festakt der Islam, die Muslime und letztlich alle, die mit Muslimen zu tun haben, aus der Geiselhaft befreit wurden, in die die Muslime seit über anderthalb Jahrhunderten, erst durch den westlichen Kolonialismus, dann durch die Antwort auf ihn in Gestalt des religiösen Fundamentalismus geraten waren."

Weitere Artikel: Auf Kaliber38 stellt Thomas Wörtche afrikanische Krimis vor. Thomas Oberender, Leiter der Berliner Festspiele, fühlt sich von der deutschen Willkommenskultur an Wilhelm Hauffs Kunstmärchen "Das kalte Herz" von 1827 erinnert, wie er im Tagesspiegel schreibt. Nach Akif Pirinçcis Dresdner Eskapaden hat nicht nur Random House die Katzenkrimis des Rechtspopulisten gesperrt, wie die FAZ meldet, sondern sich auch dessen Webmaster von ihm getrennt - pikanterweise in einem offenen Brief auf Pirinçcis eigener Website. In der taz fasst Britta Petersen die aktuellen Proteste indischer Schriftsteller zusammen.

Besprochen werden u.a. Giorgio Fontanas Roman "Tod eines glücklichen Menschen" (NZZ), Niq Mhlongos Roman "Way Back Home" (NZZ), Ulrich Raulffs "Das letzte Jahrhundert der Pferde" (NZZ), John le Carrés Biografie (FAZ) und Jean-Henri Fabres "Provenzalische Erinnerungen - 11. Serie" (SZ).
Archiv: Literatur

Musik

In der NZZ resümiert Max Nyffeler die Donaueschinger Musiktage, die noch von der Experimentierlust des im letzten November verstorbenen Leiters Armin Köhler geprägt waren: "Unter Armin Köhler reichte die Spannbreite der Donaueschinger Programme von der traditionellen Orchestermusik bis zu den Experimenten mit neuen Medien und neuen Darbietungsformen. Ein weites Aktionsfeld, in das auch Flops gleichsam einkalkuliert sind. Den Tiefpunkt bildete diesmal eine sogenannte 'Theorieoper' von Patrick Frank, in der man über die Verlogenheit westlicher Werte belehrt wurde. Weisheiten aus zweiter Hand, verkündet in indoktrinierendem Tonfall von einer Lautsprecherstimme, der das eng gedrängt an Biertischen sitzende Publikum folgsam zuhörte. So geht es vermutlich in Nordkorea zu. Zur Auflockerung gab es zwischendurch Tischbomben-Allotria und Trompetenfanfaren."

Für die Musik der Hippie-Harfen-Elfe Joanna Newsom hatte Kirsten Riesselmann vom Tagesspiegel schon immer ein großes Herz und auch das neue Album "Divers" - Newsoms erstes seit fünf Jahren - lässt sie völlig dahinschmelzen: "Das Songwriting [ist] für Newsom-Kategorien so poppig, so folkig (mal eher irisch, meist ur-amerikanisch), fast schon mitsingkompatibel, dass man manchmal meinen könnte, sie habe es auf einen Country Grammy abgesehen. Aber nur fast. Thematisch kreisen die Lieder auf 'Divers' um das Thema Zeit und Vergänglichkeit, diese ständige Übergangshaftigkeit der Welt, der Joanna Newsom versucht, etwas Gültiges, Bleibendes abzutrotzen." Bei NPR finden wir ein geradezu episch ausufernde Besprechung des Albums. Bis zu dessen Erscheinen lassen wir uns von dieser tollen Hörprobe bestricken:



Weiteres: Auf Pitchfork führt Philip Sherburne durch die Geschichte der Schlafmusik. Für die Zeit spricht Thomas Groß mit der chinesischen Popmusikerin Helen Feng. Katja Schwemmers unterhält sich für die Berliner Zeitung mit Jean-Michel Jarre, der für The Quietus eine Liste mit seinen Lieblingsplatten zusammengestellt hat.

(Via Mashable) Und hier noch ein schlimmer Fall von "cultural appropriation", "Smooth Criminal" mit klassischen japanischen Instrumenten:



Besprochen werden Gwilym Golds "A Paradise" (taz) und eine von Kevin John Edusei dirigiertee "Eroica" in München (SZ).
Archiv: Musik