Efeu - Die Kulturrundschau

Dialoge des Ichs mit dem Ich

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.02.2016. Claus Peymanns Rückkehr an die Burg mit einem Handke-Stück erfüllt alle Erwartungen: obsoleter Theaterdonner!, Ernsthaftigkeitsverzweiflung!, mittleres Desaster!, schimpfen die Kritiker von Tagesspiegel bis Standard. Nur Christopher Nell fanden alle großartig. Die SZ nimmt schon leise Abschied vom SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden. Die Welt feiert den FeTAp 751 des Tönis Käo. Und große Erleichterung in der Filmbranche: Leonardo di Caprio hat endlich seinen Oscar.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.02.2016 finden Sie hier

Bühne


Peymannscher Theaterdonner zurück an der Burg: Foto: Monika Rittershaus.

Ein Summen und Brummen ging vorab durch Wien: Claus Peymann ist wieder in der Stadt, 13 Jahre nach seiner von allerlei Kontroversen begleiteten Intendanz ist er für ein Gastspiel - eine Inszenierung von Peter Handkes im letzten Jahr erschienenem Schauspiel "Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße" - wieder ans Burgtheater zurückgekehrt. Die Kritiken fallen allerdings recht nüchtern aus. Christine Wahl vom Tagesspiegel etwa kommt auf die Inszenierung beinahe schon nur am Rande zu sprechen und auch dann nicht positiv: "Wo Handkes 'Ich' - wie größenwahnsinnig auch immer - durchaus mit einer gewissen Ernsthaftigkeitsverzweiflung um ein Gegenüber ringt, ist Peymanns Regie von Anfang an auf der sicheren Seite im übersichtlichen Freund-Feind-Schema."

In der Nachtkritik zeigt sich Leopold Lippert recht angestrengt: "Mal will das Stück Kapitalismuskritik, mal Modernekritik, mal Realismuskritik sein, mal wird kollektive Erinnerungsarbeit thematisiert, und dann wieder Muttersöhnchen-Konflikte und sexuelle Gewalt." Ermüdet fühlte sich Barbara Villiger Heilig in der NZZ: "Dialoge des Ichs mit dem Ich." Im Standard konstatiert Ronald Pohl: "Das ist, zieht man das Vermögen aller Beteiligten in Betracht, schon ein mittleres Desaster. SZ-Kritikerin Christine Dössel erlebte "ein ziemlich aufgeblasenes, ziemlich obsoletes Theaterdonnerwetter". Und auch Hubert Spiegel von der FAZ musste gähnen: Peymann verfolge ein "Springteufel-Regiekonzept: Erst passiert lange Zeit gar nichts, und wenn dann was passiert, sollen alle fröhlich 'hoppla!' rufen. Rufen sie aber nicht."

Nur Joachim Lottmann kann in der Welt dem Spektakel etwas Faszinierendes abgewinnen: "Viel Krach, viel Sex, viel Action" erlebt er, vor allem aber den Schauspieler Christopher Nell. "Ein Wunder geradezu. Dieser zum Weinen zarte Mensch trägt allein auf seinen schmalen Schultern das ganze Unternehmen. Den ganzen Abend, 210 Minuten, die Landstraße, das Burgtheater, den ganzen monströsen Handke-Scheiß. Kein einziger Besucher verlässt den Raum."

Außerdem: Auch in Köln herrschen Berliner Verhältnisse wenn es um die Sanierung von Opernhäusern geht, berichtet Udo Badelt im Tagesspiegel.

Besprochen werden zwei Purcell-Inszenierung von Calixto Bieito in Stuttgart und Herbert Fritsch in Zürich (NZZ), Bernd Mottls Wiesbadener Inszenierung von Ayad Akthars "Geächtet" (FR) und die Uraufführung von Wolfram Hölls "Drei sind wir" in Leipzig (nachtkritik, SZ). Mehr Theaterkritiken vom Wochenende in der nachtkritik.
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Film

Gestern Nacht sind die Oscars vergeben worden - hier alle Gewinner auf einen Blick. In die Geschichte eingehen wird die Verleihung schon deshalb, weil es Leonardo DiCaprio beim nunmehr sechsten Anlauf endlich geglückt ist, die begehrte Auszeichnung mit nach Hause zu nehmen (was der Umweltaktivist für eine Ansprache in Sachen Klimaschutz nutzte). Relevant war der Abend aber auch wegen Chris Rocks Standup-Monologs über die Diversitätsdebatten, die im Vorfeld der Oscars geführt wurden (beim Guardian gibt es eine Zusammenfassung von Rocks Performance). Die letzten vernehmlichen Worte des Abends waren im übrigen #BlackLivesMatter und über dem Abspann lief "Fight the Power" von Public Enemy. Dann ist ja alles wieder gut.

Weiteres: Die FAZ dokumentiert die Laudatio der Filmwissenschaftlerin Christa Blümlinger auf die mit dem Max-Beckmann-Preis ausgezeichnete Autorenfilmerin Agnès Varda.

Besprochen werden Andreas Maus' Dokumentarfilm "Der Kuaför aus der Keupstraße" über das NSU-Attentat in Köln (SZ) und der nun auch auf DVD vorliegende Essayfilm "Von Caligari zu Hitler: Das deutsche Kino im Zeitalter der Massen" von Filmkritiker Rüdiger Suchsland (SZ).
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Kunst

Birgit Rieger berichtet im Tagesspiegel vom Forecast-Festival im Berliner Haus der Kulturen der Welt. In der Jungle World schreibt Jonas Engelmann zu 100 Jahre Dada.
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Literatur

In der Welt verabschiedet Gerhard Gnauck den "Zauberer von Lodz", den großen Übersetzer Karl Dedecius, für den er keinen Nachfolger sieht: "Europa wird Kulturdolmetscher wie Karl Dedecius wieder dringend brauchen. Aber gerade zwischen Deutschen und Polen ist jemand wie dieser Zauberer von Lodz weit und breit nicht zu sehen. Die Kriegsgeneration tritt ab, Europa ist von Krisen und Kriegen erschüttert und gespalten: wieder eine Stunde Null."

Weitere Nachrufe schreiben Judith von Sternburg (FR) und Stefanie Peter (FAZ), Burkhard Müller-Ullrich (Deutschlandfunk) und Igor Rakowski-Kłos (Gazeta Wyborcza).

Weitere Artikel: An Henry James, der vor 100 Jahren starb, erinnern Judith von Sternburg (FR), Ulrich Greiner (ZeitOnline) und Christian Schröder (Tagesspiegel). Und ZeitOnline veröffentlicht eine Geschichte aus Laurie Pennys Erzählungsband "Babys machen". Mehr Literatur im Netz in unserem Metablog Lit21.

Besprochen werden H.C. Artmanns "Gesammelte Prosa"(SZ), Ta-Nehisi Coates' "Zwischen mir und der Welt" (Zeit) und neue Krimis, darunter Gioacchino Criacos "Schwarze Seelen" (FAZ).

Und in der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Ruth Klüger über Stephen Cranes Gedicht "Der Krieg ist gütig":

"Weine nicht Mädchen, denn der Krieg ist gütig.
Nur weil dein Geliebter fuchtelnd die Hände gen Himmel warf
Und das erschrockene Pferd allein weiterlief,
..."
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Musik

In München trat das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg noch einmal bei der Musica Viva auf, bevor es mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart fusioniert wird. Dies besiegelt "das Ende einer Institution im Bereich der Neuen Musik", trauert Michael Stallknecht in der SZ. Auch Max Nyfeller bezeugt in der FAZ "das traurige Ende einer gloriosen Orchesterexistenz", doch beide Kritiker schauen auch zuversichtlich in die Zukunft: Das Abschiedskonzert bildete zugleich den Auftakt zur neuen Reihe "Räsonanz", mit der die Aufführung Neuer Musik gefördert und vorangetrieben werden soll. "Eine wichtige Strategie für den breiten Konzertbetrieb, der immer mehr zu einem reinen Museumsbetrieb geworden ist und so auf Dauer seine Existenzberechtigung verspielt", meint Nyfeller.

Weiteres: In der SZ berichtet Sonja Zekri von den Proben und dem gemeinsamen Auftritt des deutschen Pianisten Florian Heinisch und des irakischen Cellisten Karim Wasfi in Bagdad. Für die Berliner Zeitung spricht Dagmr Leischow mit dem heute in Berlin auftretenden Musiker Tricky. Gerrit Bartels vom Tagesspiegel besucht das Berliner LoFi-Pop-Urgestein Stereo Total, das gerade sein 12. Album veröffentlicht hat.

Besprochen werden ein Konzert von Helge Schneider (FR), der Tourauftakt von Friedrich Liechtenstein (Tagesspiegel), ein Konzert der Berliner Philharmoniker mit Simon Rattle und Daniel Stabrawa (Tagesspiegel), eine von Iván Fischer dirigierte Aufführung von Oliver Messiaens "Turangalila-Symphonie" (Tagesspiegel) und neue Popveröffentlichungen, darunter Steve Masons "Meet The Humans" (ZeitOnline).
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Design

Paul Andreas huldigt in der Welt dem Industriedesigern Tönis Käo, dem das Reddot Design Museum Essen eine Ausstellung widmet. Unter anderem entwickelte Käo für Siemens das Telefon ohne Wählscheibe, den berühmten Fernsprechtischapparat FeTAp 751. "Die fortschreitende Miniaturisierung in der elektronischen Kommunikationstechnik bis zum völligen Verschwinden der Dinge vorausahnend, entwickelt Käo bereits 1980 den Prototypen eines ausklappbaren Handys im Scheckkartenformat; 1987 ergänzt er diese Vorstellung um einen Laptop-Dummy im DIN-A4-Format. Beides befindet sich heute in der Neuen Sammlung in der Pinakothek der Moderne, weil es sinnvolle, standardisierte Normen formuliert, die von der Produktwelt nicht weiter unterboten werden sollten." (Tastentelefon "Fernsprechtischapparat 751", Deutsche Bundespost, Design Tõnis Käo und Herbert Krämer, 1970; Foto: Dot Design Museum)

In der NZZ besucht Jürgen Tietz mit der 1919 gegründeten Frauensiedlung Loheland einen fast vergessenen Ort der Moderne: "Für Furore sorgten die Loheländerinnen nicht nur mit ihrer speziellen Form der Gymnastik, sondern auch mit dem daraus abgeleiteten Ausdruckstanz. Deutschlandweit traten die Schülerinnen Hedwig von Rohdens und Louise Langgaards auf, auch im Bauhaus in Weimar. Die ausdrucksstarken Tanzbewegungen von Eva Maria Deinhardt, Berta Müller und Edith Sutor wurden durch eigenwillige, teilweise bemerkenswert freizügige Kostüme unterstützt." Auch züchteten die Damen Deutsche Doggen.
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