Efeu - Die Kulturrundschau

Das singende Prinzip Freiheit

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06.08.2016.  In der FAZ  fragt der russische Lyriker Sergej Sawjalow: Dürfen Dichter über menschliche Katastrophen der Vergangenheit reden? Die SZ blickt ins patriarchale System am Münchner Residenztheater. Die taz findet bei dem südafrikanischen Dramatiker Paul Grootboom die Wahrheit über die Post-Apartheid-Gesellschaft. Außerdem trainiert sie beim Speed Watching ihre Sehgewohnheiten. Die NZZ besucht eine Ausstellung über Heroin in Afghanistan. Und die Welt begibt sich mit Jonathan Franzen zum Birdwatching auf eine Expedition in die Antarktis.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 06.08.2016 finden Sie hier

Literatur

Die Literarische Welt übernimmt aus dem New Yorker Jonathan Franzens Reisebericht über eine Expedtion in die Antarktis, die er sich dank einer großzügigen Erbschaft seines Onkels Walt leisten konnte: "Meine drittgrößte Angst vor der Expedition, gleich nach Seekrankheit und der Sorge, meinen Bruder mit meinem Schnarchen zu stören, war, dass man nicht den nötigen Eifer an den Tag legen würde, die allein in der Antarktis vorkommenden Vogelarten ausfindig zu machen. Nachdem ein Lindblad- Mitarbeiter, ein Australier, dessen Reisegepäck von seiner Fluggesellschaft verbummelt worden war, uns begrüßt und einige Fragen beantwortet hatte, hob ich die Hand, sagte, ich sei Birdwatcher und fragte, wer noch. Ich hoffte, eine einflussreiche Interessengemeinschaft ins Leben zu rufen, aber ich sah nur zwei Hände in die Höhe gehen. Der Australier, der bisher jede Frage als "ausgezeichnet" gepriesen hatte, pries meine nicht. Eher vage wies er daraufhin, dass Mitarbeiter auf dem Schiff seien, die sich mit Vögeln auskennen würden."

Im diesmal ziemlich schwermütig brütenden Wochenendessay der FAZ umkreist der russische Lyriker Sergej Sawjalow die Frage danach, welche Verpflichtungen sich seinem Berufsstand angesichts der menschlichen Katastrophen aus der Geschichte ergeben: "Kann ein Dichter überhaupt im Namen anderer sprechen, im Namen jener, die keine Sprache haben? Inwiefern erlaubt das eigene Trauma, inwieweit erlauben der klassenmäßige und kulturelle Abgrund, dies zu tun? Beziehen wir nicht eine Position des Exotischmachens, wenn wir in den Gesellschaften der nahen, vor allem der sowjetischen Vergangenheit, jenes idealtypische Andere erblicken, das den zeitgenössischen Menschen nur im Bewusstsein seiner Unfehlbarkeit bestärkt, und die diesen zeitgenössischen Menschen letztlich nichts angeht? Nicht weniger wichtig ist die Frage, ob das Reden von den Katastrophen der Vergangenheit nicht ein Vorwand ist, den wirklich dringenden Problemen auszuweichen: der Globalisierung, die Armut und Reichtum immer weiter auseinandertreten lässt."

Weiteres: Für die taz vergleicht Nina Monecke die Cover deutscher Auflagen mit denen ihrer Originalausgaben.

Besprochen werden Bov Bjergs "Die Modernisierung meiner Mutter" (online nachgereicht von der Zeit), die von Matthias Jügler herausgegebene Textsammlung "Wie wir leben wollen" (FR), J. Bernlefs wiederaufgelegter Roman "Hirngespinste" (Tagesspiegel), Stefano Bennis "Die Pantherin" (taz), Lucia Berlins "Was ich sonst noch verpasst habe" (SZ, mehr dazu hier) und Fernando Pessoas "Orpheu - Schriften zur Literatur, Ästhetik und Kunst" (FAZ).
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Musik

"Eine neue Spielart der psychedelischen Folkmusik" findet Stefan Michalzik von der FR im Debütalbum "I.Gemini" des britischen Teenie-Duos Let's Eat Grandma vor. Hier "treffen Folkmelodien mit einer schichtenden musikalischen Struktur zusammen, die immer wieder unterschwellig an HipHop erinnert", schreibt er über diese "Welt der allerschönsten Bizarrerien". Inspirieren ließen sich die beiden Mädchen von eher ausgefallenen Quellen: "Als Einflüsse nennen sie selbst Dokumentationen über Serienmörder, Exkursionen im Internet und das musikalische Genre Witchhouse. Jeder einzelne Song ist ein Wunderwerk." Zuvor besprach auch Pitchfork das Album. Hier eine Kostprobe:



Weiteres: Tazlerin Waltraud Schwab hat sich ausführlich mit Jordi Savall, Experte für Alte Musik, unterhalten. Für die Spex trifft sich Steffen Kolberg mit den Musikern von Wild Beasts. In der Zeit porträtiert Ronald Düker die Master Musicians of Jajouka. Außerdem wird in diesem Jahr erstmals der Preis für Popkultur verliehen, informiert Jens Uthoff in der taz.

Besprochen werden das kollaborative Album der Country- und Folkmusikerinnen Neko Case, k.d.lang und Laura Veirs (taz), das neue Album von Dinosaur Jr. (Spex), Eva Reiters bei den Ferienkursen für Neue Musik aufgeführte "Lichtenberg Figures" (FR), die konzertante Salzburger Aufführung von Giacomo Puccinis "Manon Lescaut" mit Anna Netrebko (SZ, FAZ) und das neue Album "Napoli Trip" des Jazzpianisten Stefano Bollani (SZ).
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Bühne

Die FAZ hat Shenja Lachers Interview über seine Kündigung als Ensembleschauspieler beim Münchner Residenztheater online nachgereicht. In der SZ findet Christine Dössel das Gespräch "bemerkenswert" und "mutig": Lachners "Kritik trifft das patriarchale System empfindlich", zu deren Opfer sie sich im übrigen auch selber zählt: Der Intendant des Theaters, Martin Kušej, sei nämlich "ein Theaterpatriarch par excellence, der Kritik nicht duldet. Die Verfasserin dieser Zeilen hat er jüngst bei einer Premierenfeier im Hof - zu der das Publikum ausdrücklich eingeladen war - zur unerwünschten Person erklärt und des Ortes verwiesen, wegen einer negativen SZ-Kritik. Dass ihre Häuser und üppigen Gehälter von Steuergeldern finanziert werden, scheinen manche Intendanten zu vergessen."

In der taz stellt Simone Kaempf Paul Grootboom und dessen Stücke vor, in dem sich der südafrikanische Dramatiker mit der Post-Apartheid-Gesellschaft auseinandersetzt, etwa in "Inter-Racial": "Beide Seiten, Schwarze und Weiße, erleben ein Rein-Tisch-machen gegenseitiger Vorurteile, eine theatrale Wahrheitsfindungskommission, die nicht im Richtersaal, sondern auf der Straße spielt, und mit ihrer verbalen Schlagfertigkeit wachsen einem diese Figuren ans Herz, kommen einem nah in ihrem inneren Gefangensein. Das ist die gute Botschaft, die Grootboom mitbringt."

Zufrieden berichtet Ljubisa Tosic im Standard von Sven-Eric Bechtolfs "Don Giovanni" bei den Salzburger Festspielen: "Dem singenden Prinzip Freiheit hauchten die Wiener Philharmoniker unter Dirigent Alain Altinoglu durchgehend glutvoll und luxuriös Sinn und Leben ein. Harmloser Schönklang war das nicht. Auf opulenter Grundlage gab man sich differenziert, impulsiv und überzeugend pointiert im Detail."

Weiteres: Peter von Becker (Tagesspiegel) und Patrick Bahners (FAZ) gratulieren dem Schauspieler Peter Simonischek zum 70. Geburtstag.
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Kunst

Köstlich findet Andreas Platthaus den im Dresdner Kupferstichkabinett ausgestellten Fotozyklus "Bildanalytische Fotografie 1968-1974" von Timm Rautert: "Das Spiel mit der Fotografie von Fotografie ist ein wiederkehrendes Element", schreibt er in der FAZ. "Das handwerkliche Element der Fotografie reizt Rautert auch zu partiellen Solarisationen von Negativen, die dann wieder abfotografiert werden, so dass eine dem platonischen Höhlengleichnis entsprechende Bewegung weg von der Wahrheit entsteht. Die Suggestivkraft fotografischer Authentizität wird hier ironisch gebrochen, und doch bleibt ein Anspruch des Metiers erhalten, an dem Rautert viel liegt: Wahrheit. Manipuliert im Sinne heutiger digitaler Bildbearbeitung wurde hier nicht. Die Wahrheit liegt in der Dunkelkammer."

(Bild: Timm Rautert, Kontakt eines zur Hälfte belichteten Negativs. Kassette halb aufgezogen, nach 2s (gezählt 21, 22) wieder geschlossen. 14.6.71, 14 Uhr, Tageslicht bedeckt, 1971 Farbfotografie und SW-Fotografie, auf Karton, Copyright: Rautert/SKD,Foto: Boswank)

(Bild: Kabul, Afghanistan, 1993. Robert Knoth und Antoinette de Jong.)

Für die NZZ hat sich Sieglinde Geisel die Berliner Multimedia-Ausstellung "Poppy - Trails of Afghan Heroin" von Robert Knoth und Antoinette de Jong angeschaut. In der Collage aus Filmsequenzen und Fotografien, die Spuren des Heroins in Krieg, Drogenhandel und Prostitution in Afghanistan nachzeichnet, vermisst sie allerdings Linearität: "Auf den Leinwänden sehen wir verzweifelte Menschen, doch worüber sie verzweifelt sind, verraten die Bilder nicht; wir sehen Tote, ohne zu wissen, wer sie sind und was mit ihnen geschehen ist. Die vielen Geschichten, die in dem Bildmaterial stecken, werden nicht erzählt. Man wird den Verdacht nicht los, dass die beiden Bildjournalisten sich in die Kunst und das Experiment mit der Form flüchten, um sich dem eigentlichen 'story telling' zu entziehen."

FAZler Andreas Rossmann lustwandelt beglückt durch das wiedereröffnete Kaiser Wilhelm Museum in Krefeld: "So breit und dicht, so exzellent und beziehungsreich, wie die Sammlung zur Wiedereröffnung auftritt, wird der Ausverkauf, der nach dem Abzug der Dauerleihgaben von Lauffs befürchtet (oder nur dramatisiert?) wurde, nicht bestätigt."

Bei gleich zwei Ausstellungen im Unteren Belvedere in Wien stellt Almuth Spiegler im art magazin mit einigem Erstaunen fest, dass große Maler der Wiener Moderne wie Franz von Stuck, Hans Makart oder Gustav Klimt bereits die Fotografie für ihre Malerei einsetzten.

Besprochen wird eine Emil-Nolde-Ausstellung im Berliner Brücke-Museum (Tagesspiegel).
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Architektur

Für das Kunstprojekt "In Quarantäne - zeitgenössische Klausen" haben Architekten und Künstler 25 Rückzugsorte mitten im Rotterdamer Hafen gebaut, berichtet Gunda Schwantje in der taz.
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Stichwörter: Rotterdam, Quarantäne

Film

Im Internet formiert sich eine neue Sehkultur, die dem Übermaß an Angeboten mit Speed Watching Herr werden will: Erhöhte Abspielgeschwindigkeit komprimiert die Seheinheiten. In der taz philosophiert Tilman Baumgärtel über dieses Phänomen: Wer zu solchen Zeitmanagment-Strategien beim Zugriff auf Medieninhalte zurückgreift, werde zwar in diesem Leben keine Bikinifigur mehr erreichen, aber er "trainiert seine Sinne für die wahren Herausforderungen der Gegenwart: Wer eine Stunde 'Orange Is the New Black' in vierzig Minuten schafft, wäre bestimmt auch kein schlechter Tele-Pilot für Kampfdrohnen. Oder eben ein höchst erfolgreicher 'Symbolanalytiker' - und sind wir das inzwischen nicht alle? ... Man muss aufpassen, dass man angesichts dieses Phänomens nicht in einen breiigen Kulturpessimismus a la Byung-Chul Han verfällt."

Besprochen werden die beiden neuen Greta-Gerwig-Filme "Maggies Plan" und "Wiener Dog" (Freitag), Paul Feigs "Ghostbusters"-Remake (FR, unsere Kritik hier), der mit deutschen Fördermillionen gedrehte Actionfilm "Collide" (Tagesspiegel) und die Science-Fiction-Ausstellung in der Deutschen Kinemathek in Berlin (online nachgereicht von der FAZ).

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