Efeu - Die Kulturrundschau

Wir müssen tüchtig sein und lernen

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30.01.2019. Auf ZeitOnline empfiehlt Michael Ebmeyer dringend, das literarische Reportageportal La vida de nos aus Venezuela zu lesen. Nach Berichten über die Folterszenen hält Monopol Ilya Khrzhanovskys DAU-Projekt inzwischen für einen Fall von #MeToo. Im Standard verwahrt sich Hyäne Fischer gegen den Vergleich mit Eva Braun. Und die taz verteidigt die neue Düsternis im Pop als einen Ausdruck selbstbewusster Unzufriedenheit.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.01.2019 finden Sie hier

Bühne

Szene aus Tschechows "Drei Schwestern", in der Inszenierung von Timofej Kuljabin. Foto: Viktor Dmitriev


In der taz unterhält sich Ruth Wyneken mit dem Nowosibirsker Theaterregisseur Timofej Kuljabin über seine Inszenierung von Tschechows "Drei Schwestern" allein in Gebärdensprache, die Anfang Februar im Deutschen Theater gastieren wird: "Direkte Musik gibt es wenig in meiner Inszenierung. Aber es gibt eine Partitur der Laute und Geräusche, und zwar eine sehr dichte. Die Figuren erzeugen die ganze Zeit Alltagsgeräusche: Sie laufen, sie setzen sich, sie tun etwas, sie husten, sie niesen. Der Mensch erzeugt eine riesige Menge an Geräuschen, selbst wenn er schweigt. Und diese Lautpartitur hat eine große Bedeutung. Sie schafft eine besondere Atmosphäre, ein spezifisches musikalisches Gewebe, Rhythmus. Je nach Szene und Situation wird eine besondere Spannung erzeugt. Das ist sehr genau geprobt. Im dritten Akt, wo es ringsum brennt, wird besonders viel gehustet und geniest."

Foto: DAU Bildgalerie


Auch in Paris stößt Ilya Khrzhanovskys monströses DAU-Projekt auf zunehmende Ablehnung. Auf Monopol berichtet Roxana Azimi von perversen Videos und übergriffigen Produktionsbedingungen: "Eine renommierte französische Schauspielerin, die anonym bleiben möchte, hat uns erzählt, dass sie Ende November angefragt wurde, einen der Filme zu synchronisieren. Erfasst von einer Mischung aus Faszination und Abscheu, habe sie neun Filme gesehen, von denen drei pornografische Szenen mit alkoholisierten Frauen beinhalteten. Bis der letzte Film, der die physische und psychische Folter einer Frau zeigte, sie endgültig erschütterte. Das war genau der Film, den sie hätte synchronisieren sollen. Sie lehnte ab, trotz des üppigen Honorars von 5000 Euro für drei Stunden Arbeit, um 'das Abfilmen solcher barbarischen Akte nicht zu unterstützen'."

Weiteres: Petra Kohse besucht für die Berliner Zeitung die Themis, die neue Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt in Theater, Film und Fernsehen. Cornelia Fiedler trifft den österreichischen Dramatiker Thomas Köck in einem Cafe in Neukölln. Frederik Hanssen freut sich im Tagesspiegel, dass mit ihrer Digitalisierung 5.000 Skizzenblätter von Giuseppe Verdi zugänglich gemacht werden. Die NZZ-Kritiker Christian Wildhagen blickt zumm doppelten Opernjubiläum nach Paris, wo vor 350 Jahren Ludwig XIV. die Gründung der Académie de l'Opéra anordnete und vor dreißig Jahren François Mitterrand seine Bürgeroper auf der Place de la Bastille bauen ließ.

Besprochen werden Tobias Kratzers Inszenierung von Verdis "Macht des Schicksals" an der Oper Frankfurt (die FR-Kritikerin Judith von Sternburg mit ihrer Verlegung in die amerikanischen Südstaaten etwas zwiespältig, aber musikalisch fulminant fand, NMZ), Schuberts Oper "Fierrabras" am Konzert Theater Bern (NZZ), die Uraufführung von Gabriel Prokofievs Oper "Elizabetta" am Theater Regensburg (FAZ) und Marco Štormans Inszenierung von Alban Bergs "Lulu" am Theater Bremen (NMZ).
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Literatur

Hellauf begeistert empfiehlt der Schriftsteller Michael Ebmeyer im Freitext-Forum von ZeitOnline das spanischsprachige Reportageportal La vida de nos: Den Journalisten geht es darum, "das Venezuela von heute aus der Perspektive seiner 'unbekannten Menschen' zu erzählen. Geschaffen haben sie eine aufwühlende Chronik des Elends und der Standhaftigkeit in einer verwüsteten Gesellschaft. Gerade die europäischen Linken, die sich angesichts des Machtkampfs in Venezuela in sesselwarme Dogmen flüchten, täten gut daran, die Texte auf La vida de nos (eine umgangssprachliche Formulierung für "unser Leben") zu lesen."

Die FAZ bringt eine deutsche Übersetzung des Interviews, das die Literaturwissenschaftlerin Merve Emre mit Elena Ferrante für ein Feature in der New York Times geführt hat (hier wurde das Interview bereits auf Englisch dokumentiert). Sie hofft, dass junge Leserinnen aus ihren Romanen nicht nur lernen, wie wichtig Frauen-Solidarität ist ("Man darf nie vergessen, dass Frauen gemeinsam stärker sind und Atemberaubendes erreichen können"), sondern auch, wie wichtig stete Bildung ist: "Gute Bücher lesen, sich selbst unentwegt bilden, ganz abgesehen von der Arbeit, die man machen will, sollte ein Lebensprogramm für jedes Mädchen sein. Damit uns nicht wieder genommen wird, was wir erobert haben..."

Weitere Artikel: Im Redaktionsdialog zeigt sich das Tell-Review-Team weitgehend ratlos, was Takis Würgers "Stella" samt anschließender Kontroverse betrifft. In der taz erklärt Stephan Wackwitz zur Neuausgabe der Simenon-Werke, warum George Simenon als spätrömischer Schriftsteller zu verstehen sei. Die FAZ hat Matthias Fechners Plädoyer für mehr Lyrik im Unterricht (hier unser Resümee) online nachgereicht. Anne Goebel (SZ) und Hubert Spiegel (FAZ) gratulieren der Buchkritikerin und Verlegerin Rachel Salamander zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden unter anderem Kenah Cusanits "Babel" (NZZ), Susannah Walkers "Was bleibt" (ZeitOnline), Akwaeke Emezis "Süßwasser" (Tagesspiegel), John Lanchesters "Die Mauer" (Berliner Zeitung), die Ausstellung "Blutsbrüder - Der Mythos Karl May in Dioramen" im Kulturgeschichtlichen Museum in Osnabrück (taz), Martin Amis' von von Daniel Kehlmann herausgegebene Essayband "Im Vulkan" (SZ) und T.C. Boyles "Das Licht" (FAZ).
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Kunst

Besprochen werden die Installationen der amerikanischen Künstlerin Bunny Rogers im MMK Zollamt Frankfurt (die FR-Kritikerin Sylvia Staude vor allem "Düsternis und Kälte" spüren ließen) sowie die von Wes Anderson und Kuman Malouf kuratierte Schau "Spitzmaus Mummy in a Coffin and other Treasures" im Kunsthistorischen Museum Wien (FAZ).
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Film

Bald ziemlich beste Freunde: Szene aus "Green Book"

Gut gemeint ist noch lange nicht gekonnt: Peter Farrellys oscarnominierter "Green Book" fällt bei der Kritik ziemlich durch. Der Film will die wahre Geschichte des Jazzmusikers Don Shirley erzählen, der sich in den frühen Sechzigern von einem weißen Chauffeur durch die rassistischen Südstaaten fahren ließ - beide werden absehbar ziemlich beste Freunde, nachdem es zuvor noch zahlreiche Vorbehalte auf beiden Seiten gab. "Hollywood fällt in einem Anfall von Sentimentalität und Verbrüderungskitsch weit hinter alles zurück, was zum Thema Rassismus im Kino in den letzten Jahren zu sehen war", entsetzt sich Verena Lueken dazu in der FAZ. "Die Ausrede, es handele sich um eine 'wahre Geschichte', zieht nicht. Die Familie von Shirley hat Einspruch erhoben, was auch immer das wert ist. Man muss das Leben nicht mit der Kinoversion vergleichen, um zu sehen, dass hier alles gelogen ist." Weitere Kritiken in SZ und Welt.

Nach Andreas Platthaus' gestriger Kritik an Christoph Heins Abrechnung mit Florian Henckel von Donnersmarcks "Das Leben der Anderen" (unser Resümee) räumt Hein in einer kleinen SZ-Meldung zumindest in der angeblichen Streichung seines Namens aus dem Vorspann des Films einen Irrtum ein: Der Film hat gar keinen Vorspann und im Abspann ist Hein auch weiterhin als historischer Berater aufgeführt, wie Platthaus angemerkt hatte. Dass Florian Henckel von Donnersmarck derzeit so viel Kritik auf sich zieht, erklärt sich Tilman Krause im Welt-Kommentar so: "Wir Deutschen wollen in der Welt, wo nicht geliebt, so doch zumindest bewundert werden. Warum auch nicht. Doch wenn die Welt dann mal einen von uns toll findet, ist es auch wieder nicht recht. ... Das Ausland will das Deutsche groß. Gern düster. Wenn's geht dämonisch. Wir hingegen halten es mit dem Kindergebet: 'Ich bin klein, mein Herz ist rein.'"

Weitere Artikel: Laurin Lorenz meldet im Standard, dass nach energischen Debatten um Förderungsfragen diverse Wiener Filmfestivals den Betrieb fürs Erste einstellen. Besprochen wird Clint Eastwoods "The Mule" (Presse, ZeitOnline, Welt).
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Musik

Eine Analyse der Charts seit den 50ern bis heute will herausgefunden haben, dass Popmusik tendenziell immer düstere Texte hervorbringt. Die schnelle Einschätzung, dass Popmusik somit also immer apokalyptischer werde, winkt Ambros Waibel in der taz genervt weg: "Demokratischer und diverser werdende Gesellschaften erlauben eben auch einen höheren Grad von aggressivem und selbstbewussten Ausdruck der Unzufriedenheit. Umgekehrt wird man das absolute Gute-Laune-Hoch in den 1950ern und gerade das letzte in der Studie festgestellte Wut-Tief 1982-1984 schon aus eigener Erfahrung nicht unbedingt als Zeiten paradiesischer Zustände markieren wollen."

Pop-Österreich fällt aus allen Wolken und Stefanie Sargnagel verfällt auf Twitter dem Blutrausch: Nicht etwa das subversive Satireprojekt Hyäne Fischer darf wie erhofft die Alpenrepublik in Tel Aviv beim European Song Contest vertreten, sondern die im Vergleich dazu recht brave Popmusikerin Pænda, die Karl Fluch im Standard in einem Porträt vorstellt. Im beistehenden Interview räumt Fischer ein, nach dieser Entscheidung tatsächlich "etwas geknickt" zu sein. Dass die eigenwillig mit der österreichischen Geschichte hantierende Ästhetik der Band in Israel vielleicht schlecht platziert wäre, sieht die Künstlerin anders: "Wer Lodenbekleidung automatisch mit Eva Braun gleichsetzt, ist wohl noch nie aus Wien rausgekommen. Eva Braun hatte auch keine Band."

Weitere Artikel: Nach den MeToo-Vorwürfen gegen R.Kelly wünscht sich Nadine Lange im Tagesspiegel, dass nach einem ersten nun auch das zweite der derzeit geplanten Deutschlandkonzerte des Musikers abgesagt wird. Markus Schneider berichtet in der Berliner Zeitung von der Club Transmediale in Berlin. In der Welt erinnert sich Neil Young an Woodstock und die Jahre danach. Frederik Hanssen meldet im Tagesspiegel, dass das italienische Kultusministerium einen großen Schatz an Verdi-Digitalisaten online zugänglich gemacht hat. Im "Unknown Pleasures"-Blog des Standard erinnert Karl Fluch an das 1986 erschienene Cramps-Album "A Date with Elvis".

Besprochen werden das neue Türen-Album "Exoterik" (taz, mehr dazu bereits hier), ein Auftritt des britischen Punk-Fossils UK Subs (taz), das neue Album von Howlong Wolf (NZZ) und neue Popmusik, darunter das neue Album von Cherry Glazerr (SZ, ByteFM). Daraus ein aktuelles Video:

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