Efeu - Die Kulturrundschau

Die Ankerkette des Lokalen war gekappt

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27.05.2019. In Cannes ist das Filmfestival mit einer Goldenen Palme für Bong Joon-hos  "Parasite" zu Ende gegangen. Sehr vernünftig finden Tagesspiegel, taz und ZeitOnline die Entscheidung, mutiger wäre aber eine Palme für Mati Diops "Atlantique" gewesen. In der NZZ erklärt der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov die neunziger Jahre zum Goldenen Zeitalter Osteuropas. Als Triumph des Alltags feiert die SZ, dass der Architekturpreis Nike an das Kirchenzentrum Seliger Pater Rupert Mayer geht. Und aktuell: Der Louvre will dem Telegraph zufolge den "Salvator mundi" wieder deklassieren.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.05.2019 finden Sie hier

Film

Spritziger Wettbewerbs-Sieger: "Parasite" von Bong Joon-ho

Solche Eintracht zwischen Jury, Kritik und Publikum herrschte in Cannes schon lange nicht mehr, schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel, nachdem am Wochenende das Filmfestival mit einer Goldenen Palme für den allgemeinen Konsens-Favoriten "Parasite" des Koreaner Bong Joon-ho zu Ende gegangen ist (vor dem sich ZeitOnline-Kritikerin im Resümee Wenke Husmann enthusiastisch verneigt). Völlig respektable Entscheidung, meint Busche - künstlerisch aufregender war allerdings Mati Diops "Atlantique", für den es den Großen Preis der Jury gab (sehr ähnlich sieht es Tim Caspar Boehme in der taz). Doch für Busche "die überraschendste Erkenntnis des diesjährigen Wettbewerbs ist wohl, dass die großen Namen nicht bloß wieder angetreten waren, um das Programm zu zieren. (In der jüngeren Vergangenheit ein typisches Cannes-Problem) Stellvertretend hierfür steht auch Almodóvars Film, für den Hauptdarsteller Antonio Banderas ausgezeichnet wurde. Mit 'Leid und Herrlichkeit' blickt der 69-Jährige ohne Larmoyanz und überzogene Melodramatik, dafür mit schonungsloser Offenheit, auf sein Leben und seine Karriere zurück. Banderas setzt als gebrechliches Alter Ego des Regisseurs seinem Freund ein Denkmal."

"Zwei Linien im Wettbewerb des 72. Filmfestivals von Cannes wurden auch in den Preisentscheidungen deutlich", erklärt Dominik Kamalzadeh im Standard: "Zum einen reüssierten Filme mit Genreeinschlag, zum anderen eine jüngere Garde an Regisseurinnen" und spielt damit besonders auf die Filme von Céline Sciamma und Mati Diop an. Die Jury entschied sich für "die formale Kohärenz vor dem Experiment", erklärt Frédéric Jaeger auf critic.de, der die Entscheidungen alles in allem für vernünftig hält - vielleicht sogar fast schon für zu vernünftig. Verdächtig findet das auch SZ-Kritikerin Susan Vahabzadeh, der es an "Kontroversen und hitzige Debatten" gemangelt hat. Es gibt "keine leidenschaftlichen Verteidigungsreden mehr. Das Kino ist prüder geworden. Vielleicht nicht aus Vorsicht, sondern weil alle Tabus schon gebrochen sind, das macht Provokationen reizlos. Zu einer Debatte darüber, ob eine bestimmte Art des Filmemachens funktioniert oder nicht, hätte noch am ehesten 'A Hidden Life' von Terrence Malick getaugt." Verena Lueken (FAZ) und Hanns-Georg Rodek (Welt) ficht dies nicht recht an: Beide kommen im besten Sinne satt von der Croisette nach Hause.

Eine gewisse Stagnation attestiert Rüdiger Suchsland auf Artechock gerade jenen Filmemachern, die vor ein paar Jahren noch auf aufregender Weise für frischen Wind sorgten. Ist das jüngere Autorenkino in der Krise? "Bisher waren Namen wie Jessica Hausner, Corneliu Porumboiu und Xavier Dolan sichere Wechsel auf die Zukunft. Sie verkörperten Hoffnung auf ein anderes, womöglich besseres Kino, das uns in den kommenden Jahren beglücken würde. Beglückung erwarten zumindest von Hausner und Dolan nur noch wenige, aber auch das bessere, andere, neue Kino lässt in den genannten Fällen auf sich warten."

Weitere Artikel: Jenni Zylka berichtet im Freitag von der Eröffnung des Grimme-Archivs im Berliner Filmmuseum, in dem alle mit dem Grimme-Preis ausgezeichneten Filme in einer (Offline-)Mediathek zugänglich sind. In Frankfurt wurde derweil das neue Rainer Werner Fassbinder Center eröffnet, wovon Oliver Camenzind in der FAZ berichtet.

Besprochen werden Bertrand Mandicos queerer Avantgarde-Film "The Wild Boys" (FAZ, Dlf Kultur, ND, mehr dazu bereits hier), Hernán Zins auf Netflix gezeigte Doku "Dying to Tell" über Kriegsreporter (SZ), der Dokumentarfilm "Lord of the Toys" über rechte Youtuber (Freitag), Dexter Fletchers Biopic "Rocketman" über Elton John (Tagesspiegel), Sergey Dvortsevoys Soziadrama "Ayka" (Presse, mehr dazu hier) und eine auf Netflix gezeigte Serie über Trotzki (Freitag).
Archiv: Film

Literatur

Jörg Häntzschel berichtet in der SZ vom Stuttgarter Literaturfestival "Membrane - African Literatures and Ideas", für das sich die drei Kuratoren Nadja Ofuatey-Alazard, Yvonne Adhiambo Owuor und Felwine Sarr nicht mit der Rolle des Gastes in Europa abfinden wollten, sondern selbstbewusst die afrikanischen Literaturen als Gastgeberinnen präsentierten: "Statt auf die Sensibilität von weißen, deutschen Moderatoren und Übersetzern hoffen zu müssen, besetzten Afrikaner diese Funktionen selbst - bis hin zum Caterer. ... Es herrschte ein enthusiastischer Ton wie man ihn selten in einer deutschen Kulturinstitution zu hören bekommt. Es gab Tränen, es wurde gesungen, die Kleider raschelten und die grauen, faltigen deutschen Gesichter im Publikum sahen sich an, fassungslos, begeistert und etwas beschämt für ihre Kleinheit. Wo war man überhaupt? Die Ankerkette des Lokalen war gekappt, der Raum schwebte."

Der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov blickt im NZZ-Gespräch unter anderem auf die Jahre unmittelbar nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zurück, eine Art Goldenes Zeitalter für Osteuropa, auch wenn es in Armut erlebt wurde. "Ich habe im 'Natürlichen Roman' versucht, das Scheitern eines Mannes zu erzählen, der eine Scheidung durchmacht. Damals gab es in Bulgarien viele Scheidungen, die politisch motiviert waren. Die Ehepaare stritten sich, ob das alte oder das neue System besser war, und trennten sich. Im 'Natürlichen Roman' wollte ich zeigen, dass wir unser Scheitern nicht erzählen können. Deshalb bricht der Held, der meinen Namen trägt, immer wieder ab, setzt neu an und spricht nicht über sein Leben, sondern über Toiletten und Hausfliegen. ... Mich interessieren die Apokalypsen des Alltags, weil nur sie wirklich tragisch sind. In Bulgarien haben die Menschen oft hochfliegende Pläne, aus denen nie etwas wird. Deshalb erzähle ich Geschichten über Dinge, die nicht passiert sind."

Besprochen werden unter anderem Veit Heinichens Krimi "Borderless" (Standard), Javier Marías' "Berta Isla" (online nachgereicht von der FAZ) und Kinder- und Jugendbücher, darunter Lara Schützsacks "Sonne, Mond und Sterne" (FAZ).

In der online nachgereichten Frankfurter Anthologie schreibt Peter von Becker über Walt Whitmans "Kosmos":

"Wer umschließt Vielfalt und ist Natur,
Wer ist die Spanne der Erde..."
Archiv: Literatur

Bühne

Totaltheater: Thorleifur Arnassons "Irrgarten des Wissens" in Dortmund. Foto: Birgit Hupfeld

Thorleifur Örn Arnarsson
, demnächst an der Volksbühne, ist der neue Stern am deutschen Bühnenhimmel. In der Nachtkritik kommt Sascha Westphal ganz berauscht aus Arnassons Dortmunder Inszernierung "Im Irrgarten des Wissens", in der die ganz großen Dinge verhandelt werden: "Thorleifur Örn Arnarsson spielt mit großen Gefühlen und großen Mythen, setzt auf Ergriffenheit, um sie dann wieder zu brechen. Es ist alles nicht so ernst, wie es scheint. Selbst wenn die bizarre Mischung aus heiligem Ernst und ebenso heiligem Unernst im Folgenden mit Anspielungen auf Alejandro Jodorowskys "Montana Sacra - Der heilige Berg' und auf Monty Python-Sketche mehr Verwirrung als Klarheit stiftet, verfestigt sich der Eindruck, tatsächlich Zeuge der Erschaffung der Welt zu sein. Die Welt lässt sich nicht mehr mittels einer alles umfassenden Erzählung erklären. Also reihen sich in Arnarssons 'Irrgarten des Wissens' Szenen und Nummern, Situationen und Geschichten aneinander. Albernes folgt Tragischem, Visionäres kollidiert mit Nichtigem, Enervierendes steht neben Erhabenen, Persönliches neben Weltgeschichtlichem. Jeder Auftritt hat seinen eigenen Zauber." Im Dlf findet Dorothea Marcus dieses "Totaltheater" ergreifend und banal zugleich, vor allem aber zu lang.

Weiteres: Zum Auftakt der Berliner Autorentheater findet im Deutschen Theater erst das internationale Festival "Radar Ost" statt. In der taz würdigt Katja Kollmann Kirill Serebrennikows Version von Nikolai Nekrassow Versepos "Wer in Russland ist glücklich?" über die Lage der Bauern. Viel interessanter erscheinen Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung allerdings andere Produktionen, etwa das bescheidene auftretende Theater am Geländer aus Prag. Oder das ungarische T6 Ensemble aus fünf jungen Roma-Darstellern und dem Poetry-Slammer Kristof Horvath mit der sarkastischen Roma-Show "Gipsy Hungarian".

Besprochen werden Sibylle Bergs "Hass-Triptychons" und René Polleschs "Deponie Highfield" bei den Wiener Festwochen (SZ, Nachtkritik), Stephan Kimmigs Adaption von Ingmar Bergmans "Fanny und Alexander" am Düsseldorfer Schauspielhaus (Nachtkritik), Richard Strauss' Oper "Frau ohne Schatten" unter Christian Thielemann an der Wiener Staatsoper (Standard) und Jo Fabians Inszenierung von Ibsens "Volksfeind" am Staatstheater Cottbus (Nachtkritik).
Archiv: Bühne

Architektur

Kirche Seliger pater Ruprecht Mayer in Poin. Foto: meck Architekten

Nur alle drei Jahre wird der BDA-Architekturpreis Nike vergeben, eine der wichtigsten Auszeichnungen der Branche in Deutschland. In der SZ steht Gerd Matzig Kopf, denn in diesem Jahr ging die Große Nike an das Kirchenzentrum Seliger Pater Rupert Mayer im Münchner Vorort Poing, das von den Architekten Andreas Meck und Axel Frühauf entworfen wurde: "Aber dass ein vergleichsweise kleines Kirchenzentrum im Schotterebenennirgendwo, das sich bislang vor allem durch seine Gewerbesteppengebiete und Doppelhaushälftenareale auszeichnet, die weltweit herumgereichte Spektakelbaukunst der Elbphilharmonie aus der Liga der 'Signature Buildings' auf die Plätze verweist - das ist bedeutsam und auch willkommen über den Akt der Preisverleihung hinaus. Es ist nämlich auch ein Triumph des Alltags."
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Kunst

Der Telegraph meldet, dass der Louvre Paris das angebliche Leonardo-Gemälde "Salvator mundi" in seiner geplanten Jubiläumsausstellung deklassieren will: "Das Museum hat entschieden, das für 450 Millionen Dollar ersteigerte Porträt Christi nur noch mit dem Label 'aus der Werkstatt' von Leonardo versehen will - ein Schritt, der das Bild so gut wie wertlos macht und einem mit der Geschichte des Bildes vertrauten Kunsthistoriker zufolge einer Demütigung der saudischen Besitzer gleichkommt."

Besprochen werden die aus Wien übernommene Ausstellung "Schönheit" der Grafik-Designer Sagmeister & Walsh im Frankfurter Museum für angewandte Kunst (die FAZ-Kritikerin Andrea Diener im besten Sinne volkspädagogisch findet), die neue Präsentation der Porzellan- und Fayencensammlung im Berliner Kunstgewerbemuseum (Tsp).

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Stichwörter: Louvre, Porzellan, Salvator Mundi

Musik

Frederik Hanssen vom Tagesspiegel kann sich gut vorstellen, warum Berlins Kultursenator Klaus Lederer sehr zögerlich ist, sich in der Personalie Barenboim an der Berliner Staatsoper festzulegen: Schließlich hat sich die Staatskapelle unter Barenboims Ägide seit den frühen 90ern von einem moderat bezahlten Orchester zum Top-Verdiener-Status gemausert. Und abseits rein ästhetischer Fragen "bedeutet eine Vertragsverlängerung für Barenboim, noch mehr Geld für die Staatskapelle locker zu machen. Die bereits jetzt 18 Prozent des 58-Millionen-Etats der Lindenoper verschlingt. Höchstgagen für die Hochkultur - das ist eigentlich gegen die Prinzipien des Linken-Politikers. Weil er sich als eine Art urbanen Robin Hood sieht, der für die Erniedrigten und Beleidigten kämpft. In seiner Amtszeit hat er sich bislang konsequent - und erfolgreich! - für all jene eingesetzt, die unter prekären Bedingungen Kunst machen."

Rund zehntausend Teenager haben sich am Freitagabend zum gemeinsamen Kreischen in Berlin versammelt. Vier südkoreanische Mädchen, die gemeinsam die K-Pop-Band Blackpink darstellen, sowie Jens Balzer waren ebenfalls anwesend. Mit einigem Interesse verfolgte der ZeitOnline-Kritiker die multimedialen Sinnangebote dieses Abends, in dessen Videoeinspielungen "sich die Inszenierung weiblicher Souveränität in romantischen Fragen mit deren völliger Aufgabe in gesellschaftskritischer Hinsicht verband - mit der Unterwerfung unter die Regeln des Konzernkapitalismus. Man könnte auch sagen: Die Verschränkung von libertären und autoritären Motiven, die unsere postglobalisierte Gegenwart prägt, findet bei Blackpink ihren stimmigsten Ausdruck. Entsprechend unentwirrbar war auch die Verschränkung von Individualisierung und entfremdetem Marionettentum, von Hitze und Kälte, euphorischer Romantik und gefühlsloser Glätte, die diesen Konzertabend wesentlich prägte."

Weitere Artikel: In der NZZ spricht der Pianist Víkingur Ólafsson über seine Bach-Aufnahmen. Florian Bissig berichtet in der NZZ vom Jazzfestival Schaffhausen. Ljubisa Tosic blickt im Standard auf 150 Jahre Wiener Staatsoper.

Besprochen werden ein von John Eliot Gardiner dirigiertes Konzert der BR-Symphoniker (SZ, hier ein Mitschnitt), eine Berlioz-Aufnahme des London Symphony Orchestras unter Simon Rattle (NZZ), ein Berliner Auftritt von FKA Twigs (Tagesspiegel), ein Bilderbuch-Konzert (Presse, Standard) und ein Dresdner Abend mit Jordi Savall (FAZ).

In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Philipp Krohn über Radioheads "Fake Plastic Trees":

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