Efeu - Die Kulturrundschau

Auf dem Weg in ungesichertes Terrain

Die besten Kritiken vom Tage. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.06.2019. Die SZ probiert Entwürfe von Mary Quant an und erkennt wehmütig, wie avantgardistisch London einst war. Im Monopol-Magazin beklagt Rasmus Stenbakken den neuen Puritanismus. Literatur macht uns nicht unbedingt menschlicher, glaubt Teju Cole in der Literarischen Welt. Der Tagesspiegel feiert den Fünfzigsten des Neuen Berliner Kunstvereins mit John Bock in den Köpfen zweier Mörder. Und die Nachtkritik beerdigt mit Schorsch Kamerun an der Volksbühne das Bauhaus.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.06.2019 finden Sie hier

Literatur

In der Literarischen Welt spricht die Schriftstellerin Rachel Kushner ausführlich über ihr neues Werk "Ich bin ein Schicksal", darüber, was dieser Gefängnisroman Dostojewski verdankt, und über die ewigen Fragen gesellschaftlicher Gerechtigkeit. "Ich glaube, dass einem der Blick aufs Strafsystem zu verstehen hilft, wie eine bürgerliche Gesellschaft strukturiert ist, in der manche Formen der Grausamkeit bestraft werden und andere ungestraft bleiben. ... Die Art und Weise, wie das Justizsystem strukturiert ist, macht den typischen Menschen der Mittelschicht glauben, dass der Grund dafür, dass er mit der Justiz nicht in Berührung gekommen und nicht zum Raskolnikow geworden ist, darin liegt, dass er der Versuchung widerstanden hat, die Pfandleiherin zu ermorden. Aber das ist in Wahrheit nicht der Fall. Ja, die meisten begehen keine Gewaltverbrechen, aber niemand weiß, zu welchen Taten er fähig wäre, wenn sein Leben vollkommen anders verlaufen wäre. Die Leute hängen an der Vorstellung, dass sie nie mit dem Gesetz in Berührung gekommen sind, weil sie gut und unschuldig sind." Ein weiteres Gespräch mit der Schriftstellerin hat Dlf Kultur geführt.

Die Literarische Welt dokumentiert Teju Coles bei der Verleihung des Internationalen Literaturpreises gehaltene Keynote - ein rasendes Plädoyer für Menschlichkeit und Empathie, insbesondere gegenüber den Geflüchteten, die aus der globalen Peripherie in die westliche Welt kommen. Den auf literarischen Bühnen oft beschworenen Selbstausweis, dass Literatur und die Beschäftigung damit besonders empathische Menschen hervorbringe, erteilt der Schriftsteller und Essayist zwar eine Absage. "Literatur kann weder die Hetzjagd auf Menschen verhindern noch die Strafverfolgung von Menschen, die humanitäre Hilfe leisten. Sie kann die Bombenkriege auf Menschen schwarzer oder brauner Hautfarbe nicht stoppen. Nicht einmal, wenn sie schön formuliert ist, kann sie die Gesinnung der kleinen Faschisten ändern." Aber "Literatur kann ein Leben retten. Immer nur ein Leben nach dem anderen, und auch dein Leben. Und vielleicht rettet sie dich nur in bestimmten Momenten. Vielleicht um vier Uhr morgens, wenn du aufstehst, um einen Gedichtband aus dem Regal zu ziehen."

Weiteres: Die Science-Fiction interessierte sich zuletzt wieder auffällig für den Mond, schreibt Jürgen Doppler im Standard. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Rainer Moritz daran, wie Hermann Lenz und Franz Josef Strauß einmal um dieselbe Frau buhlten. Der Schriftsteller Stanisław Strasburger schreibt auf der "Literarisches Leben"-Seite der FAZ über antike Fälschungen. Außerdem gibt der Philosoph Bazon Brock in der Literarischen Welt Einblick in die Bücher, die ihn geprägt haben.

Besprochen werden unter anderem Vivian Gornicks "Ich und meine Mutter" (taz), Simon Strauß' "Römische Tage" (Literarische Welt, SZ, Standard), Gregor Hens' "Missouri" (taz), Willy Vlautins "Ein feiner Typ" (SZ), Volker Brauns "Verlagerung des geheimen Punkts" (Standard) und Fernanda Melchors "Saison der Wirbelstürme" (FAZ).
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Film

Meryl Streep wird 70 Jahre alt. Für SZ-Kritiker Tobias Kniebe ist die vielgepriesene, am laufenden Meter Auszeichnungen sammelnde Schauspielerin "eine der Klügsten ihrer Generation. Sie weiß, dass solche Ehrungen wie Gefängnisse sind, wo dann 'die Größte' und 'die Bedeutendste' in gusseisernen Lettern über der Zelle steht. Betreten hat sie diesen Kerker nie, sorgsam vermeidet sie es, darüber auch nur nachzudenken. Ihre Durchlässigkeit und Verletzlichkeit sind vielmehr mit einem Willensakt verbunden, immer neu gesucht und hergestellt, auf dem Weg in ungesichertes Terrain, zu den echten Erfahrungen. Nur deshalb ist sie heute so relevant wie vor zwanzig und auch vor vierzig Jahren." Schon früh in ihrer Karriere "strebte sie nach einem kontrollierten Perfektionismus", schreibt Andreas Busche im Tagesspiegel, der "sich das Kino ohne Meryl Streep heute kaum vorstellen kann."

Weitere Artikel: Auf Artechock erinnert sich Rüdiger Suchsland an seine Anfänge als Filmkritiker und Texter für das Filmfest München. Besprochen werden Seth Rogens und Charlize Therons populismuskritische Liebeskomödie "Long Shot" (Presse, Standard), Vahid Jalilvands "Eine moralische Entscheidung" (Freitag), Ludovic Bernards "Der Klavierspieler vom Gare du Nord" (Welt) und Dome Karukoskis "Tolkien" (Standard).
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Design

Den "Look der Leichtigkeit" suchte, wer in den 60ern zu Mary Quants Entwürfen griff. Im Victoria & Albert Museum in London wird die Modedesignerin nun mit einer Retrospektive gewürdigt, die auch melancholische Untertöne aufweist, so SZ-Kritikerin Kia Vahland: Die Kuratoren trauern "darüber, dass London und Großbritannien eben nicht mehr wirklich Avantgarde sind, nicht mehr den Optimismus der jungen Nachkriegsgeneration versprühen, die klassenübergreifend einen neuen Stil suchte und auch fand." Denn "man konnte sich in diesen kurzen Kleidern und lässigen Anzügen tagsüber im Büro sehen lassen und abends an der Bar, machte im Theater eine ebenso gute Figur wie an Bord eines Schiffes. Nicht die Frau passt sich allen Lebenslagen, allen Rollenerwartungen an und zieht sich dreimal am Tag um, sondern in Quants knalligen Farben, engen Gewändern, karierten Strumpfhosen ist die Trägerin überall der Blickfang, gleich vor welcher Kulisse."
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Musik

Glänzend aufgelegt plaudert Don Was in der Welt über das Label Blue Note, das er seit 2012 leitet und dieser Tage sein 80-jähriges Bestehen feiert. Unter anderem gibt er die Anekdote zum Besten, wie er an der Spitze des wohl bekanntesten Jazzlabels der Welt gelandet ist: "Ich saß beim Frühstück mit einem Freund, den ich als Drummer in den 1990ern kennengelernt hatte, der jetzt aber der Präsident von Capitol Records war, Dan McCarroll. Am Abend vorher hatte ich Gregory Porter gehört. ... Porters Konzert war das Beste, was ich seit 20 Jahren gehört hatte. Ich fragte also Dan, ob Blue Note Records immer noch zu Capitol gehört. Wenn ja, solltest du diesen Typen unter Vertrag nehmen. Was ich nicht wusste: Der damalige Blue-Note-Chef Bruce Lundvall, der das Label 30 Jahre lang geleitet hatte, wollte aus gesundheitlichen Gründen aufhören. EMI spielte mit dem Gedanken, Blue Note dichtzumachen. Und weil ich plötzlich mit einer Idee für das Label ankam, bot mir Dan den Job an. Mitten beim Frühstück! Jeder anderen Plattenfirma hätte ich gesagt: Ihr spinnt wohl! Aber Blue Note konnte ich nicht widerstehen. Eine Stunde später habe ich zugesagt." Dazu passend gibt es auf Mixcloud einen Mix, der auf 80 Jahre Blue Note zurückblickt:



Weitere Artikel: Für die taz plaudert Thomas Winkler mit dem Musiker Johannes von Weizsäcker. Besprochen werden Jens Balzers Buch "Das entfesselte Jahrzehnt" über die Popkultur der 70er (taz), Martin Scorseses für Netflix entstandene Bob-Dylan-Doku "Rolling Thunder" (Tagesspiegel), The Divine Comedys neues Album "Office Politics" (Standard), Haiytis Album "Perroquet" (taz), die Pop-Ausstellung "Hyper" in den Deichtorhallen in Hamburg (Presse), das Sommernachtskonzert der Wiener Philharmoniker (Standard), Bryan Adams' Auftritt in der Ostberliner Mehrzweckhalle (Tagesspiegel), ein Konzert des Sängers Andrew Bird (FAZ) und die neuen Netflix-Musikdokus über Keith Richards und Lady Gaga (Freitag).
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Kunst

Während die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst in Kreuzberg ihr 50jähriges Bestehen mit der Rückblicks-Ausstellung "Arbeitsgruppe Kunst" feiert - für die taz hat sich Katrin Bettina Müller dort umgesehen, -  setzt der im gleichen Jahr gegründete Neue Berliner Kunstverein ganz auf das "dystopische Panoptikum" von John Bock, in das sich Claudia Wahjudi für den Tagesspiegel gewagt hat, um sich dann plötzlich in den Köpfen des Mathematikers und Mörders Theodore Kaczynski und des Serienmörders Fritz Haarmann wiederzufinden: "Haarmann ist eine klaustrophobische Zelle gewidmet, mit Liege, einem alten Fernsehapparat, den Bock zu einem Terrarium umgebaut hat, und einem Schachspiel aus getrocknetem Brot. Hier hockt ein Schauspieler, der mal Züge auf dem Schachbrett probiert, mal das alte Kopfkissen flickt. Kaczynskis Gedankenwelt soll ein Metallkäfig versinnbildlichen, der in Form eines dreidimensionalen Keils gleich am Eingang von der Decke hängt, gespickt mit Haken, Seilen und Haarteilen, die schaurige Schatten an die Wand werfen. Zu den Performancezeiten hockt Bock in dem Käfig und hackt wie zwangsneurotisch in eine Schreibmaschine ein, während er Passagen aus Kaczynskis Manifest gegen die Industriegesellschaft zitiert. Angeseilt am Käfig hoch oben in der Luft führen dazu vier schwarz gekleidete Tänzer eine akrobatische Choreografie auf."

Wilhelm Freddie, Sex-Paralysappeal, 1936, Kunsten Museum of Modern Art

Im Monopol-Interview mit Saskia Trebing spricht Rasmus Stenbakken, Kurator der Ausstellung "Art & Porn", die derzeit im dänischen Aarhus Kunstmuseum zu sehen ist, über das Verhältnis von Kunst und Porno, Innovationen, die der Pornografie zu verdanken sind und den neuen Puritanismus: "Man kann sich heute nicht mehr genauso verhalten wie vor 50 Jahren, oder sogar vor 10 Jahren. Frauen liegen nicht mehr oben ohne am Strand. Auch Politiker würden sich heute nicht mehr in derselben Klarheit für die Freiheit der Bilder aussprechen wie sie es damals getan haben - ohne Rücksicht auf mögliche Stimmenverluste."

Weitere Artikel: Im Tagesspiegel feiert Nicola Kuhn den "Summer of Love" in der gleichnamigen Ausstellung im Berliner Palais Populaire, die ihr ganz subtil auch die Schattenseiten der Drogen-Trips vor Augen führt. Zumindest in der Kunst kehrt die Natur mit Wucht zurück, wenn auch unter ökopolitischen Gesichtspunkten, stellt im Standard Michael Wurmitzer auf einem Streifzug durch Wiener Museen fest, der ihn unter anderem ins Kunsthaus Wien führt, wo Claudia Märzenbacher aktuell Gipsabgüsse von Müllsäcken als Anspielung auf die Verschmutzung der Ozeane zeigt. Auf Hyperallergic kritisiert Laura Raicovich Museen, die zwar größentechnisch immer weiter expandieren, die aber Profil, Struktur und Aufarbeitung der Vergangenheit aus den Augen verlieren. Im Guardian hat sich Nadia Sayej mit Yoko Ono über ihr im Rahmen des New Yorker River to River Festivals gezeigtes Flüchtlingsboot unterhalten.

Besprochen werden die Ausstellung "Hyper! A Journey into Art and Music" in den Deichtorhallen Hamburg (Presse), die Ausstellung "Kosmos Kubismus. Von Picasso bis Léger" im Kunstmuseum Basel (FAZ) und die Ausstellung "Félix Fénéon. Les arts lointains" im Pariser Musée du Quai Branly (SZ).
Archiv: Kunst

Architektur

Constanze Letsch schildert in der NZZ, wie der Denkmalschutz in der Türkei an Billigheimertum und fehlendem Know-how scheitert: "Eine Moschee aus der spätosmanischen Zeit, die nun einem Reihenhaus gleicht, PVC-Fenster in einer Burg aus dem 12. Jahrhundert, eine Baumarktküche in einem mittelalterlichen Schrein, ein zweitausend Jahre alter Festungsturm, der seit seiner Restauration von Spöttern mit der Comicfigur Spongebob (Schwammkopf) verglichen wird: Die Liste der Restaurationssünden in der Türkei ist lang."
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Bühne

Foto: David Baltzer.

Als "Leuchtturmprojekt" des Bauhaus-Jubiläums würdigt Nachtkritikerin Esther Slevogt Schorsch Kameruns "schrullig-schöne" Fantasie "Bauhaus. Ein rettendes Requiem" an der Berliner Volksbühne, die den Welterfolg des Bauhaus' zu ergründen versucht: "Fast noch am Anfang schreitet die Mezzo-Sopranistin Corinna Scheurle in einem Latex-Rokoko-Kostüm eine Treppe herab, derweil sie Gustav Mahlers Rückert-Vertonung 'Ich bin der Welt abhandengekommen' und viel später einmal 'Dido's Lament' von Henry Purcell singt. Dabei ist sie dann in einen Gaze-Polyeder eingeschlossen, der vielleicht Dürers Bild 'Melencholia' zitiert. Denn wir haben es schließlich mit einem Requiem zu tun, das das Bauhaus vor sich selbst, seiner globalen Vereinnahmung und der Verwässerung seiner bahnbrechenden Formen und Ideen durch die Banalisierung retten soll." Als "Abgesang und Rettung des Bauhaus - eine glatte Themaverfehlung", meint hingegen Dlf-Kultur-Kritiker Gerd Brendel, als Abend über die "Blüten der Romantik oder halluzinogene Drogen" würde das Stück aber funktionieren.

Besprochen werden Claudia Bauers Inszenierung von Friedrich Schillers "Maria Stuart" am Mannheimer Nationaltheater (nachtkritik) und Johan Simons Hamlet-Inszenierung am Schauspiel Bochum (FAZ).
Archiv: Bühne