Efeu - Die Kulturrundschau

Sich lustvoll dem Ende nähern

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21.10.2019. In der SZ rät John Le Carre, sich bei allem absurden Brexit-Fanatismus nicht von den wichtigen Dingen des Lebens ablenken zu lassen. In der FAS beklagt Thomas Melle eine Hetzjagd auf Peter Handke. Außerdem feiert die SZ die Fotopionierin Lucia Moholy. Der Standard spürt den Geschmack der Scheinheiligkeit in der angesagten Klimakunst. Welt und FAZ trauern um die Máxima Lider des Balletts, die kubanische Startänzerin Alicia Alonso. Die taz lauscht berückt, wie Rocko Schamoni die Zeit verschrammelt. 
9punkt - Die Debattenrundschau vom 21.10.2019 finden Sie hier

Kunst

László Moholy-Nagy und Lucia Moholy: László und Lucia, um 1922, Musuem Ludwig / Rheinisches Bildarchiv Köln

Als überfällige Wiedergutmachung bewertet Gürsoy Doğtaş in der SZ die Ausstellung "Lucia Moholy", mit der das Kölner Museum Ludwig die Ehefrau von Laszlo Moholy-Nagy endlich auch als eigenständige Fotografin würdigt: "Tatsächlich wurde Lucia Moholys Anteil an den Porträts, Architektur- und Objektfotografien des Bauhauses lange missachtet. Während ihre ikonischen Fotos weltberühmt und unerlässlich für die Dokumentation des Bauhauses waren, blieb die Künstlerin unbekannt. Die Schau versammelt jetzt einige ihrer fein austarierten, sachlichen und gestochen scharfen Aufnahmen, darunter solche vom nordöstlichen Werkstattflügel des Bauhauses in Dessau kurz nach seiner Fertigstellung im Jahr 1926 oder aber der Meisterhäuser aus der Vogelperspektive."

Katharina Rustler fragt im Standard, wie klimafreundlich Klimakunst sein kann, für die ein 35 Tonnen schwerer Eisblock aus der Arktis in die Londoner Tate transportiert wird (Ólafur Elíasson) oder Weizenfelder um die ganze Welt reisen (Agnes Denes): "Mit dem Vorwurf der Doppelmoral werden Kunsteinrichtungen zunehmend konfrontiert. Denn politisch aufzuschreien, dies aber nicht nachhaltig zu tun, hinterlässt schnell einen bitteren Beigeschmack der Scheinheiligkeit: Gilt die Kunstbranche mit ihren riesigen Ausstellungshäusern, dem damit verbundenen hohen Energieverbrauch, den aufwendigen Kunsttransporten und zahlreichen internationalen Flugreisen zu Kunstmessen nach Miami, zu italienischen Biennalen und kurzen Galeriewochenenden in Berlin nicht selbst als extremer Klimafeind?"

Besprochen werden eine Schau des Malers Pieter de Hooch im Museum Prinsenhof in Delft (FAZ) und eine Schau über den Nazi-Kunsthändler Wolfgang Gurlitt im Lentos Kunstmuseum in Linz (über deren unkritische Herangehensweise sich Olga Kronsteiner im Standard sehr ärgert).
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Literatur

Im Interview mit der SZ plaudert John le Carré über sein neues Buch "Federball" und den Brexit: "Was ich sagen will: Die Politik hat einen so absurden Fanatismusgrad erreicht, dass sich der Einzelne auf das konzentrieren muss, was ihm wichtig ist. Ich hatte viel Spaß beim Schreiben. Beim Lesen werden die Menschen lächeln." (Wieland Freund bespricht in der Welt le Carrés neuen Roman.)

In der FAS beklagt der Schriftsteller Thomas Melle die "Hetzjagd" auf Peter Handke in den sozialen Medien: "Man muss sich nicht auf Handkes Seite schlagen, um diese ungebremsten Effekte und Dynamiken zu kritisieren. Unverständlich ist einfach, wieso selbst die, die sich (und es ist so notwendig!) gegen den Hass, zumal den rechten, positionieren und für die Betroffenen und Diskriminierten einstehen, bisweilen dem Reiz des virtuellen Schauprozesses nachgeben und so selbst eine Unterform der symbolischen Gewalt ausüben, die ab einem bestimmten Punkt keine Dialektik mehr zu kennen scheint, keine Ambivalenzen und vor allem: kein Halten."

Björn Hayer berichtet auf Zeit online von der Verleihung des Friedenspreises an Sebastião Salgado. Im Tagesspiegel schreibt Kai Müller. In der Berliner Zeitung gratuliert Christian Thomas. In der NZZ fragt sich Roman Bucheli dagegen noch immer, wofür Salgado den Preis eigentlich bekommen hat. Die Welt hat Salgados Dankesrede publiziert.

Weiteres: Jens Uthoff lässt in der taz das Buchmessen-Wochenende Revue passieren. In der NZZ würdigt Roman Bucheli den Auftritt des Buchmessengastlandes Norwegen. Lara Sielmann plaudert für die FR mit Hanser-Lektorin Charlotte von Lenthe über ihre Arbeit. In der Berliner Zeitung erzählt Ingeborg Ruthe von der mobilen Müllwagen-Bibliothek in Ankara, die der Berliner Fotograf Jean Molitor entdeckt hat. In der NZZ denkt der Schriftsteller Martin R. Dean darüber nach, wie sehr sich das Reisen verändert hat. Kai Spanke (FAZ) hört den Botschaften zur Selbst- und Weltverbesserung an den Messeständen nach. Thomas Thiel (FAZ) besuchte in Essen Jill Lepores Antritt zur Deutschland-Lesereise für ihr Buch "Diese Wahrheiten". Lydia Koelle erinnert in der FAZ an Paul Celans einzige Israel-Reise im Herbst 1969.
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Architektur

In der Debatte um den Berliner Walter-Benjamin-Platz schlägt Ulrike von Hirschhausen im Tagesspiegel vor, als Antwort auf Ezra Pounds antisemitische Zeile "Bei Usura hat keiner ein Haus von gutem Werkstein" ein Zitat von Benjamins Geschichtsthesen in den Boden zu lassen: "Einmal heißt es: 'Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.' Benjamin selber hatte dabei große geschichtliche Brüche vor Augen. Genau diese Ambivalenz kennzeichnet auch Pounds Cantos'. Deshalb gehören Benjamins Zeilen unter Pounds Zitat auf den Boden."
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Bühne

Auf verlorenem Posten: Ewald Palemtshofer am Residenztheater. Foto: Birgit Hupfeld


Ganz und gar gelungen findet Christine Dössel in der SZ Andreas Becks Einstand als Intendant des Münchner Residenztheaters, das seine neue Saison mit Ewald Palmetshofers Stück "Die Verlorenen begann. Schön einladend und freundlich ging es am Premierenabend zu, versichert Dössel, obwohl Regisseurin Nora Schlocker dem Premierenpublikum einen Reigen der Einsamkeit bereitete: "Bei aller Grundverlorenheit und manch einem Verzweiflungspathos - ein bisschen auch: Verzweiflungskitsch - hat der Text saukomische Szenen. Palmetshofer hat Sprachwitz, er kann Komödie, trägt manchmal mit Deftigkeiten dick auf. 'Die Verlorenen' sind ein wirklich funkelndes Stück." In der Nachtkritik ermattet Anna Landefeld allerdings nach dem kraftvollen Prolog recht bald unter dem "apathischen Verzweiflungsduktus".

In seinem Nachruf auf die kubanische Startänzerin Alicia Alonso kann Welt-Kritiker Manuel Brug trotz des spöttischen Tons seine Bewunderung nicht verhehlen: "Alicia Alonso, die rote Giselle der Karibik, war so etwas wie eine Nationalheilige in Havanna. Eine Mischung aus Pawlowa und 'La Pasionaria'. Unübersehbar mit ihren meist sehr bunten Tüchern, die um den adlerstolzen Kopf mit der scharfen Nase geschlungen waren. Und mit ihrer dunklen Brille, die verbergen sollte, dass die Primaballerina des Palmen-Sozialismus schon seit Jahrzehnten blind war. Aber noch mit eiserner Hand als finale Aufrechte der Revolución über das kubanische Nationalballett und die angeschlossene Schule herrschte. Mochten da auch andere Direktoren sitzen, ohne Alicia, eine Líder Máxima der besondere Ballettart, lief nichts vor dem Spiegel, an der Stange und auf der Bühne." In der FAZ ergänzt Wiebke Hüster: "Dass es kubanischen Tänzern oft gelingt, Weltstars zu werden - wie es gerade Carlos Acosta mit seinem Film 'Yuli' erzählte -, ist der Legende Alicia Alonso zu verdanken."

Hier tanzt sie als Schwarzer Schwan mit Azari Plisetsky:



Besprochen werden Hans Werner Henzes "Bassariden" an der Komischen Oper Berlin (SZ), Thorleifur Örn Arnassons "Edda" am Wiener Burgtheater (Standard), Claudia Bauers "Germania"-Inszenierung nach Heiner Müller an der Berliner Volksbühne (die es taz-Kritikerin Katrin Bettina Müller zufolge zu sehr bei "großen Worte, Phrasen, steilen Behauptungen" beließ), Lola Aroas' "Futureland" am Gorki-Theater (taz, Tsp) und Tim Plegges "Nussknacker" am Hessischen Staatsballett in Wiesbaden (FR).

Archiv: Bühne

Film

Besprochen werden Bong Joon-hos Film "Parasite" (Freitag) und Coppolas "Apocalypse Now - Final Cut" (SZ).
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Musik

In der taz freut sich Adrian Schulz, dass Rocko Schamoni allen Ankündigungen zum Trotz doch wieder ein Album aufgenommen hat, auch wenn bei der "Musik für Jugendliche" Siebzigerjahre-Soulsound und schwermütige Heiterkeit Oberhand nehmen: "Erzählen, um noch ein bisschen Zeit herauszuschlagen: Das ist das Modell Scheherazade (damit meine ich keinen Reiskocher). Himmelhund Rocko Schamoni verfährt auf seinem neuen Album 'Musik für Jugendliche' genau andersherum - sich lustvoll dem Ende nähern, die Zeit verschrammeln lassen."

Weiteres: Patrick Bahners berichtet in der FAZ vom quälenden Ausschlussverfahren der Bayerischen Akademie der schönen Künste gegen den Musiker Siegfried Mauser. Josef Oehrlein gratuliert in der FAZ dem Spanier Julio García Vico zum Deutsche Dirigentenpreis.

Besprochen werden die Hommage an Gidon Kremer im Berliner Konzerthaus (Tsp) und ein Konzert des Dirigenten Juraj Valčuha mit Schostakowitsch und Rachmaninow in der deutsche Oper Berlin (Tsp).
Archiv: Musik