Efeu - Die Kulturrundschau

Öffentlicher Problembauherr

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25.10.2019. Peter Handke hat noch im Jahr 2011 das Massaker von Srebrenica relativiert, berichten Perlentaucher und FAZ unter Bezug auf eine bisher unbekannte Quelle. Der serbische Essayist Dejan Ilic bescheinigt Handke in der FAZ intellektuelle Faulheit. Die Presse annonciert die Viennale in Wien, die mit weniger Regisseurinnen auskommen muss als gewünscht. Die SZ fragt, warum Bauherren wie die TU München so oft preisgekrönte Bauten verhunzen lassen. Und: Die Musikkritiker trauern um den Komponisten und Dirigenten Hans Zender.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.10.2019 finden Sie hier

Literatur

Die Kritiker Peter Handkes sollen ihn gefälligst erstmal lesen, rief Eugen Ruge gerade in der FAS (unser Resümee). Die kroatische Autorin Alida Bremer nimmt Ruge in einem großen Perlentaucher-Essay wörtlich und sieht sich Handkes Äußerungen zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien nochmal gründlich an. Unter anderem fand sie ein Interview in der extremistischen Postille Ketzerbriefe, wo Handke noch im Jahr 2011 das Massaker von Srebrenica relativiert. Es seien nur "zwischen 2.000 und 4.000 Menschen umgebracht" worden. Wie konnten Handkes Parteinahmen so lange verteidigt werden? Bremer dazu: "Es ist Handkes häufig betonter Hass auf die Nazis von vor siebzig Jahren, sein von Henrik Petersen  herausgehobener 'Antifaschismus', der zur Verblendung seiner Befürworter führte, die seinen Hass auf die internationale Berichterstattung oder auf den Haager Tribunal zwar sahen, aber nicht als rechtes Denken erkannten." Auf Twitter nimmt derweil Saša Stanišić Ruges Text ziemlich auseinander.

Ausgabe 169 der Ketzerbriefe mit dem Handke-Gespräch.
In der FAZ berichtet Michael Martens - interessanter Weise nicht im Feuilleton - über die neue Quelle mit Handkes relativierenden Äußerungen zu Srebrenica. Michael Martens schreibt im politischen  Teil: "Zu dem Gespräch kam es im Januar 2011 in Paris. Ob eine Tonbandaufzeichnung davon existiert, geht aus dem auf elf Seiten abgedruckten Text nicht hervor. Der zum Teil umgangssprachliche Duktus legt aber nahe, dass es sich um die Abschrift von einem Tonband handeln könnte, zumal hervorgehoben wird, das Gespräch sei 'in Auszügen' wiedergegeben worden. Der Titel der Ausgabe lautet 'Viel Lärm um Srebrenica', gibt also mit Shakespeare die Richtung vor: In Srebrenica war nichts." Zu Srebrenica schreibt Martens: "Peter Handke leugnet das Massaker von Srebrenica nicht - es ist noch schlimmer." Dabei gibt Martens Handke insofern recht, als man das Massaker als eine Rache für muslimische Taten ansehen könne. Allerdings seien die Ausfälle gegen Serben von "hungernden Eingeschlossenen aus der Enklave Srebrenica heraus unternommen", was Handke nie erwähne.

Es gebe gute literarische Gründe dafür, Peter Handke mit dem Literaturnobelpreis auszuzeichnen, meint der serbische Essayist Dejan Ilić im Feuilleton der FAZ. Aber deswegen müsse man dem Schriftsteller noch lange nicht auf dessen serbischen Abenteuer folgen. Handke ist offenbar der Überzeugung, dass der Feind des Feindes ein Freund sei: "Es geht hier um eine Form intellektueller Faulheit. Handke hat, wie übrigens auch Chomsky, nicht übermäßig große Mühen darauf verwandt, sich über das Kriegsgeschehen in Jugoslawien zu informieren. Stattdessen kam er nach Serbien und sah, dass hier normale Menschen leben. Was er zu sehen erwartet hatte, wissen wir nicht. Aber die Begeisterung darüber, gesehen zu haben, dass auch in Serbien die Menschen auf zwei Beinen laufen, könnte sich auch als Reflex eines verdrängten Empfindens einer Überlegenheit äußern, der sich in eine Art Herablassung verwandelt hat."

Weiteres: Die Poetry Slam öffnet sich allmählich für Themen wie sexualisierte Gewalt, berichtet Leonhard F. Seidl in der taz. Besprochen werden Petina Gappahs "Aus der Dunkelheit strahlendes Licht" (SZ), Eduardo Halfons "Duell" (NZZ), Ernst Wilhelm Händlers "Das Geld spricht" (Tagesspiegel), Erich Hackls Band "Im Leben mehr Glück" mit Reden und Schriften (Standard), die Ausstellung "Thomas Mann in Amerika" im Museum Strauhof in Zürich (NZZ), der Briefwechsel zwischen Hannah Arendt und Dolf Sternberger (FAZ) sowie der neue Asterix-Band "Die Tochter des Vercingetorix" (Standard, SZ).
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Kunst

Die Künstlerin Latifa Echakhch erklärt im Interview mit der taz, was es mit ihrem "Freiheitsbaum" für Mainz auf sich hat. Besprochen werden die große Leonardo-Ausstellung im Louvre (Zeit, Tagesspiegel, New York Times), eine Ausstellung des Künstlers Gideon Rubin in der Kölner Galerie Karsten Greve (Texte zur Kunst) und die Ausstellung "The Last Knight. The Art, Armor, and Ambition of Maximilian I." im Metropolitan Museum in New York (SZ).
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Film

Szene aus Giacomo Gentilomos Partisanenfilm "O sole mio" von 1946


In Wien hat gestern die Viennale begonnen, das Schmuckkästchen unter den namhaften europäischen Filmfestivals: Hier werden ohne Rücksicht auf Premierenfetisch nur solche Filme gezeigt, die die Macher auch wirklich, wirklich zeigen wollen. Katrin Nussmayr spricht in der Presse mit der Festivaldirektorin Eva Sangiorgi über die gerade brennenden Debatten im internationalen Festivalzirkus: Serien, Netflix-Filme, Repräsentation von Frauen. Serien auf Festivals anzuteasern, hält sie für Marketing, Online-Filme dem kleinen Bildschirm zu entreißen und auf die Leinwand zu bringen hingegen für angeraten. "Frauenquoten im Programm lehnt sie ab. Eine Quote zu befolgen würde heißen, nicht nach Qualität zu urteilen, sondern eine falsche Repräsentation der Realität zu erzwingen, sagt sie: Denn die Filmwelt ist unausgewogen, Frauen produzieren weniger Filme. An diese wenigen gehe Sangiorgi aber umso aufmerksamer heran. 'Wir müssen darüber reden, dass wir es nicht schaffen, ein 50-50-Verhältnis zu zeigen - weil es ein Problem im System gibt.'" Im Standard führt Bert Rebhandl durch die Viennale-Retrospektive "O Partigiano", die dem europäischen Partisanenfilm gewidmet ist.

Weiteres: Im Freitag blickt Peter Kuras zurück auf vier Staffeln der Netflix-Serie "Unbreakable Kimmy Schmidt". Laura Sophia Jung berichtet in der Welt von der Berliner Preisverleihung für die besten feministischen Pornos.

Besprochen werden Max Linz' Universitäts-Satire "Weitermachen Sanssouci" (Tagesspiegel, mehr dazu hier), der neue "Terminator"-Film mit Arnold Schwarzenegger und Linda Hamilton (Zeit, FR, mehr dazu bereits hier und dort), Marie Johanna Weils "Küchenpsychologie - über das Verrücken" (taz), Beat Pressers Buch "Aufbruch ins Jetzt - der Neue Deutsche Film" (Filmdienst), die Sky-Serie "Katharina, die Große" mit Helen Mirren (FAZ), Paul Downs Colaizzos "Brittany Runs a Marathon" (SZ) und der Animationsfilm "The Addams Family" (Tagesspiegel).
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Architektur

Mensa von Andreas Meck. Foto: Meck Architekten


Im Forschungscampus Garching bei München wird unsere Zukunft erforscht und gestaltet. Nur sah man das dem Campus lange nicht an, schreibt Gerhard Matzig in der SZ. Bis der Münchner Architekt Andreas Meck dort eine Mensa baute, um die jetzt ein Streit ausgebrochen ist, denn die TU hat den ausgezeichneten Bau von einem Innenarchitekten möblieren lassen, den die Architekten heftig kritisieren: "Transparenz und Leichtigkeit und der vom Preisgericht hervorgehobene 'uneingeschränkte Ausblick im Sitzen' wurden durch zum Teil mannshohe holzstapelähnliche Bankformationen zunichte gemacht", zitiert Matzig die Einwände, kann sie aber nicht teilen: "Wer den freundlichen Innenarchitekten trifft und wer auch mit Axel Frühauf spricht, der begreift allerdings sehr schnell, dass weder den Architekten noch dem Innenarchitekten die Verantwortung für das nun groteske Werk zuzuschieben ist. Es ist, einmal mehr in Deutschland, dieser Bauskandalhochburg von Pfusch, Überteuerung, Fristenschlamperei und baukultureller Belanglosigkeit, am Ende der öffentliche Bauherr, der sich als öffentlicher Problembauherr erweist."

Besprochen wird außerdem eine Ausstellung im Ringturm in Wien über die letzten hundert Jahre albanischer Architektur (FAZ).
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Stichwörter: Meck Architekten

Bühne

Harff-Peter Schönherr besucht für die taz die Proben zur Uraufführung von Dominique Schnizeras Stück "Kafka" am Theater Osnabrück. Birgit Rieger berichtet im Tagesspiegel vom Herbstsalon im Maxim Gorki Theater.

Besprochen werden die Performance "Bubble Jam" von Rimini Protokoll im Podewil in Berlin (taz, Tagesspiegel), Monteverdis "L´Orfeo" in der von Iván Fischer rekonstruierten Urfassung am Teatro Olimpico in Vicenza (nmz), "Marias Testament" mit Nicole Heesters am Berliner Renaissance Theater (Tagesspiegel), eine Pariser Hommage an den Choreografen und Tänzer Merce Cunningham (FAZ) und Luk Percevals Inszenierung von Jon Fosses religiösem Erzählreigen "Trilogie" mit dem Osloer "Det Norske Teatret" in Frankfurt ("Ohne ein Innenleben zu entwickeln, wandeln die Figuren wie tot über die Bühne. ... Warum? Weil sie eben nicht für Bühnenzuschauer geschrieben sind, sondern in Leserphantasien leben. Der Frankfurter Gastspiel-Abend wirkt wie ein demonstrativer Widerspruch gegen die Egal-Haltung der Gleichmacher", meint in der FAZ Simon Strauß).
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Musik

Die Feuilletons trauern um den Komponisten und Dirigenten Hans Zender. "Seine jahrzehntelange intensive Tätigkeit als Dirigent strebte von allem Anfang an auf Erweiterung allzu enger Repertoire-Pfade", schreibt Daniel Ender in der NZZ. "Als Komponist hat Zender die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts über weite Strecken in seinem Schaffen nachgezeichnet, indem er zunächst mit zwölftönigen bzw. seriellen Methoden arbeitete ('Drei Rondels nach Mallarmé', 1961). Dann schrieb er elektronische Studien, bezog offene Formen ein (etwa in 'Schachspiel' für zwei Orchestergruppen, 1969) und vermittelte in seinen Solo- und Kammermusikwerken sowie in seiner Orchestermusik vielfach zwischen Traditionen und Neuerungen - etwa mit mikrotonalen Klangräumen von hochgradiger Differenzierung - ebenso wie zwischen abendländischen und fernöstlichen Ansätzen." Weitere Nachrufe schreiben Ljubiša Tošic  (Standard), Manuel Brug (Welt), Raoul Mörchen (Dlf) und Bernhard Uske (FR). Bei WDR Klassik gibt es unter Brad Lubmans Leitung Zenders "komponierte Interpretation" von Schuberts "Winterreise":



Afrodeutsche nennt sich die britische Musikerin Henrietta Smith-Rolla, über deren neues Album "Break before Make" Christian Werthschulte in der taz schreibt. Dem rumpeligen Indie-Sound Manchesters setzt sie zurückhaltenden Maschinen-Funk entgegen, "den Soundtrack zur Melancholie der Post-Boom-Jahre: zur Heimfahrt im überteuerten Nachtbus, zu den Obdachlosen, denen die Feierwütigen nachts auf der Straße begegnen, zu den Baukränen, die einen ökonomischen Aufschwung versprechen, aber auch dafür gesorgt haben, dass die Clubszene das Stadtzentrum fast vollständig verlassen musste. Sie steht für eine Generation von Musikern, die nicht mehr an die Zukunft glauben, weil das letzte Zukunftsversprechen, der kreditfinanzierte Boom der nuller Jahre, sie enttäuscht hat." Wir hören rein:



Weiteres: Für den Standard spricht Ljubiša Tošic mit der Dirigentin Marin Alsop. Besprochen werden Wolfram Knauers Buch "Play yourself, man! Die Geschichte des Jazz in Deutschland" (NZZ), neue Alben von Van Morrison (FR) und Neil Young (Berliner Zeitung), Raphael Saadiqs Auftritt in Berlin (SZ) und das Jubiläumskonzert von Daniel Barenboims West-Eastern Divan Orchestra (Tagesspiegel).
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